Berührungen

Bei jedem Schritt in das Halbdunkel gibt ein nachgiebiges Knarren bekannt, dass ich auf Holzdielen wandele, die mich dazu einladen, barfuss auf ihnen herumzuschlendern, das warme Holz zu fühlen und die Maserung, die Rillen, Kratzer und Macken in ihnen zu spüren.
Holzdielen unterscheiden sich im Wesentlichen nicht von der Haut. Fährt man mit Fingerkuppen über sie, fühlt man jede kleine Veränderung: Bei der Haut ertastet man winzige Narben, den Flaum am Haaransatz, die Stoppeln rasierter Haut, der Härte der Knochen direkt darunter – einfach alles.

„Ich bin gespannt, wie du das Spiel mit Haaren und Ohren, das Streicheln gegen den Flaum, das sanfte Kreisen, das heftige Zupacken, vielleicht gar noch das Zippen an den Ohren beschreiben wirst ….“

Ich erinnere mich genau an Deine Worte, nachlässig hier ausgesprochen – nein, ein wenig zurück noch, dort an der Haustür haben wir gestanden.
Meine Antwort stand mir klar und deutlich vor Augen, brannte sich durch meine Haut auf meine Zunge – brauchte ich doch an nichts anderes denken als an Dich:

„ Spielen, streicheln, spüren… Meine Hände bereiten mir Lust auf mehr, wenn sie Dein Gesicht erfassen, es halten. Wenn meine Daumen über Deine Wangen streicheln, die Unebenheit zwischen weicher Haut und den Widerstand der Wangenknochen fühlen, meine Finger über die rauen Stoppeln Deines Bartes fahren, die Samtigkeit Deiner Lippen, den sanften, schnellen Biss Deiner Zähne spüren, elektrisierend… Dann senden die Schauer über meine Haut Hochspannung in meinen Bauch und ziehen sie gnadenlos tiefer, hinunter zu meiner Scham, lassen kleine Aufgeregtheiten zu großen Leidenschaften werden…“
Ich sprach es nicht aus, damals nicht, später auch nicht.

Nie.

Ich lasse mich von den Dielen verleiten. Erst zögernd, lächelnd, dann meiner sicher schlüpfe ich aus meinen Schuhen und ziehe mit dem großen Zeh einen Kreis über den staubigen Boden. Nicht von ungefähr wird ein angedeutetes Herz daraus.

Schulmädchenträume erfordern Schulmädchengehabe.

Wie oft schon saß ich da hinten, im Schatten der Tür, auf der einzigen Fensterbank des ganzen Hauses, blind in Träume versunken, von der Sonne gewärmt und unserer Katze beschnurrt. Ich malte Herzen, tausendfach auf Fenster, Notizblöcke, auf die nackte Haut der Innenseite meiner Schenkel, hauchfein, und dachte an Dich.

Ob ich noch hin passe, auf diese Bank?

Ob meine Haut immer noch so empfänglich ist an dieser Stelle, wird sie kleine Kurzschlüsse über die Nervenenden in Richtung Schritt senden?

Versonnen schaue ich zu der Fensterbank. Das halbblinde Fenster würde nahezu perfekt zu dem Spiel passen, das ich damals immer spielte.

Berührungen.

Immer begann es damit, dass ich nicht inspiriert war, aber unbedingt etwas schreiben musste. Dass etwas ganz tief unten in meiner Seele saß, sich beschwerte – sie beschwerte, sich aber nicht traute, hervorzukommen.

Dann wusste ich, ich musste wieder auf meine Bank.

Das war wie Nachsitzen: Ich setzte mich hin, zog die Beine an und starrte gelangweilt aus dem Fenster, auf ein kleines Stückchen leeres Beet, dahinter eine Holzwand. Nichts Aufregendes also, wie man hätte meinen können, keine Romantik, keine schöngeistige Szene, keine lebendige Straße, die meine Aufmerksamkeit hätte ablenken können. Ich starrte dann auf jene Brauntöne, missmutig, weil sie so langweilten.
Und irgendwann stellte ich mir vor, wie dort Blumen wuchsen, eine schöner und exotischer als die andere, an anderen Tagen wiederum mussten sie schlicht und einfach sein, wild gewachsen und frei.
Es gab auch Tage, da blieb das Beet leer. Dafür füllte sich dann aber mein Notizbuch, sorgte für die Befreiung des kleinen Wesens, das wie das Häschen in der Grube dort saß und sich nicht traute zu hüpfen.
Dann nahm ich es halt an die Hand und sprang.
Manchmal waren es wirklich nur Herzen. Herzen und Buchstaben, Initialen, die ein freies Blatt auf meinem Block kunstvoll verzierten. Wenn der Platz auf meinem Block nicht ausreichte, wanderten meine Hände weiter zu dem Fenster und schrieben mit gehauchter Geheimtinte eine Liebeserklärung nach der anderen dort nieder. Ich stellte mich auf, um auch die oberste Ecke zu erreichen, schrieb in feinen Buchstaben, die gleich wieder verblassten und meine Geheimnisse mitnahmen, meine Tagträume an.

Die Träume der Nacht verewigte ich lieber auf meiner eigenen Haut. Es waren viele Namen und viele Träume, aber der eine kehrte immer wieder zurück.

Dein Name.

Höre ich ihn heute, brennt noch immer meine Haut, da, wo ich Dich hinschrieb, so oft.

Du berührtest mich dort nie. Nie mit den Händen, immer nur mit Deinem Geist, Deinem Lachen, Deiner Trauer, Deiner Seele.

Wir konnten Arm in Arm durch Einkaufsstraßen schlendern, uns über die Auslagen amüsieren, wir konnten gemeinsam im Kino sitzen und Du hieltest meine Hand bei dem schlimmen Szenen. Wir konnten tanzen gehen, im Park picknicken: Nie, nicht einmal hast Du versucht, mich zu anders zu küssen als zärtlich auf Wangen und Stirn.

In solchen Momenten konnte ich Dich hassen.

Und dennoch gab ich Dich nicht her, war verrückt nach jedem Wort von Dir, konnte mich nicht satt sehen an Deinem zärtlichen Lächeln, mich nicht satthören an Deinen sinnlichen Gedanken.

Und ich?

Ich gab Dir all das, wonach Du Dich in Deinem stressigen Geschäftsleben sehntest: Nachdenkliche Fröhlichkeit.

Diskussionen, die über Wochen gingen, wie ein Schachspiel, das man nicht wegräumte sondern stehen ließ, bis der Gegner wieder zu Besuch kam. Gefühltes Leben, tief unten aus dem Bauch heraus, nicht das kopflastige, karrierebezogene Dasein, was Dich zu dem machte, was Du warst. Ein Topmanager in einer Branche, in die ich mehr zufällig hinein stolperte mit meinen kleinen, sinnlosen Zeilen, die es nicht wert waren, veröffentlicht zu werden, die aber genau das waren, was Dich an mir rührte.

Und so schrieb ich weiter, denn jedes Gedicht, jeder Text wurde von Dir in Augenschein genommen, überprüft und kritisiert:

Wieder ein Grund mehr, Dich zu sehen, mit Dir zu reden.

Ich versuchte Dich zu schockieren mit erotischen Texten. Du lachtest und nanntest sie Schulmädchenträume.

Ich schrieb über Einsamkeit und Du streicheltest mit Deinen Worten über meine Wange.

Ich versuchte mich an humorvollen Texten und Du lächeltest mit mir darüber.

Bis auf einmal der Kontakt abbrach, einfach so.

Du meldetest Dich nicht mehr.

Ich saß allein in meinem Haus, das Du so sehr liebtest, hatte hoch und heilig versprochen, Dich nie anzurufen. Wenn ich Dich sehen wollte, schickte ich Dir eine Mail. Aber diese kamen irgendwann zurück, Dein Postfach war voll.

Aus Deinem Streicheln war eine abweisende Hand geworden, die Distanz aufbaute, mich nicht mehr zuließ in Deinem Leben.

Geschockt, traurig, fassungslos schlitterte ich herum, fand keinen Einlass, keinen Halt mehr, schlich um Dich und Deine Lebensgewohnheiten herum, formte in Gedanken Pläne, wie ich Dich erreichen konnte und ließ sie wieder fallen.

Als ich endlich erfuhr, wie krank Du warst, war es schon zu spät.

Einmal durfte ich zu Dir, um mich zu verabschieden.

Du lächeltest, farblos, ohne Kraft. Zu sehr hatte Dich der Krebs schon innerlich aufgefressen.

Und Du fragtest noch einmal: „Du bist mir noch eine Hausaufgabe schuldig. Wie würdest du das Spiel mit Haaren und Ohren, das Streicheln gegen den Flaum, das sanfte Kreisen, das heftige Zupacken, vielleicht gar noch das Zippen an den Ohren beschreiben? Schreib es auf, mein kleiner Schreiberling. Für mich.“

Da hätte ich Dir fast geantwortet, fast.

Statt dessen streichelte ich Deine Hand, wortlos, sprachlos, im letzten Moment noch versagend.

Ja, ich passe noch auf diese Fensterbank, und noch immer muss ich mich aufstellen, um an die oberen Ecken zu kommen.

Und noch immer füllen sich meine Notizblöcke, und noch immer funktioniert der Trick mit der Geheimtinte.

Und noch immer elektrisiert Dein Name meine Haut.

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