Der kuschelige Patient

Es ist spät am Abend, ich lese noch ein bisschen, als plötzlich meine Schlafzimmertüre ganz vorsichtig geöffnet wird.

Ich horche. Unterdrücktes Schluchzen.

„Großer? Was hast Du?“

Schweigen antwortet mir, unterbrochen von gelegentlichen Schniefern.

Ich unterdrücke einen Seufzer und stehe auf, gehe dem jungen Mann entgegen. „Was ist denn los, hm?“

„Nichts… ich kann nicht schlafen“ folgt die zögernde Antwort, und ich überlege, dass da noch mehr sein muss. Umsonst würde er ja nicht weinen.

„Na komm. Ich bring Dich ins Bett und Du erzählst mir, was Dich am Schlaf hindert“, sage ich beruhigend, lege meine Hand auf seine Schulter und mache mich mit ihm auf den Weg in sein Zimmer, warte bis er liegt, decke ihn zu.

Wortlos streckt er mir seinen Kuschelhund entgegen. Clifford, so  benannt nach einer Serie, die er früher immer so gerne gesehen hatte.

Clifford hat ein wenig gelitten: Ein Ohr fehlt, das andere ist halb abgerissen, ein Auge fehlt, im Kopf oben ist ein Loch, aus dem die Watte hervorquillt. Nun, ich weiß ja schon länger von dem Zustand des armen Tieres, aber gut, das passiert nun mal ab und an, wenn man so ein kleines Raubein ist wie der Große.

„Ja, der hat schon einiges abbekommen von Dir“, lächele ich ihn an, und nehme ihm das arg gebeutelte Kuscheltier ab. Nun bricht der Große in Tränen aus. „Er leidet, Mama! Und ich bin Schuld! Ich hab ihn so kaputt gemacht, weil ich so wütend war!“

Ich weiß das. Und ich weiß auch, dass der arme Hund auch noch unter den Matratzen seines Bettes versteckt liegen musste, damit das nicht so auffiel.

Heute allerdings habe ich den Bettkasten ausgesaugt, und dabei fiel mir das Tierchen in die Hände. Und daher wehte nun der Wind: Da ich den lieben Clifford einfach aufs Bett gesetzt hatte, fiel dem Großen natürlich wieder ein, was er da angestellt hatte.

„Nun“, sagte ich nüchtern, nachdem ich ihn getröstet hatte, „passiert ist passiert. Und manchmal meint man eben, dass die Wut so groß ist, dass man etwas zerstören muss.“
Ich lächele ihn an und meine: „Nimm ihn einfach in den Arm und gib nun richtig gut auf ihn acht.“

„Davon bekommt er sein Ohr und sein Auge auch nicht wieder“, jammert der Große weiter. „Ich habe ihm das angetan, und nun kann ich nie wieder schlafen!“

Das geht natürlich nun nicht.

Ich überlege einen Moment, dann weiß ich, was zu tun ist. „Es stimmt. Er bekommt sein Ohr nicht wieder, das Auge ist auch unwiederbringlich fort. Aber wenn es Dich so belastet, können wir ihn wieder ganz machen.“
Er starrt mich zweifelnd an.

„Nein, natürlich wird er dann anders aussehen. Aber.. er wird wieder zwei Augen und zwei Ohren haben.“ Dann deute ich auf die Watte, die aus dem Kopf hervorquillt. „Und das Loch im Kopf, das kriegen wir ganz locker wieder hin.“

Ich halte ihm den Patienten hin. Der Große schüttelt den Kopf.

„Der kann hier nicht schlafen. Dann sehe ich ihn immer wieder an, und dann kann ich nicht einschlafen.“

Also nehme ich den Patienten mit in mein Bett und verspreche dem Großen hoch und heilig, dass ich gut auf ihn Acht geben werde.

Am nächsten Tag also soll die große Operation nun stattfinden: Ohrtransplantat, das abgerissene Ohr wieder annähen, ein Auge anbringen, das Loch im Kopf schließen.

Aber woher nehmen wir die Ersatzorgane?

Wir schauen uns ratlos an.

Ein Knopf könnte natürlich das Auge ersetzen. Und das Ohr kann ich schnell häkeln. Wir gehen ans Werk: Ich häkele, der Große sucht in meinem Knopffundus nach einem passenden Exemplar.

Nach einer halben Stunde ungefähr bin ich fertig mit meinem Werk. Der Große aber sitzt immer noch da und wühlt. Und wühlt. Und wühlt.

Aber kein Knopf scheint würdig genug, das Auge von Clifford zu ersetzen.

„Er hat es in einem ehrenvollen Einsatz verloren“, meint der Große. „Da kann ich nicht irgendeinen Knopf nehmen, der nicht zum Auge passt.“

Mir kommt ein Gedanke.

„Was, wenn wir ihm sein fehlendes Auge lassen? Er könnte doch…“

„Eine Augenklappe tragen, wie die Piraten!“, fährt der Große dazwischen.

Bingo.

Nur sind die Augenklappen, die in unserer Verkleidungskiste sind, alle viel zu groß. Also häkele ich auch noch schnell eine Augenklappe.

Nun kommt der große Augenblick, der wichtigste Teil überhaupt:

Die OP.

Natürlich muss der Große dabei helfen, darauf bestehe ich. Schließlich hat er den armen Clifford so malträtiert, und nur so, denke ich, kann der Große etwas daraus lernen.

Aber ich mache den Anfang. Zeige ihm, wie man Nähte setzt, befestige die Augenklappe mit ein paar Stichen und schließe auch noch das Loch da oben im Kopf.

Jedes Mal, wenn ich die Nadel in den Hund einsteche, zuckt der Große zusammen. „Der arme Hund, das muss doch wahnsinnig weh tun“, jammert er.

Ich beruhige ihn, weise ihn darauf hin, dass jeder Patient bei einer OP eine Narkose bekommt und so gar nichts mitbekommt. „Wenn er aufwacht, wird er einige Zeit Schmerzen haben. Aber die gehen auch wieder weg, vor allem dann, wenn Du mit ihm dann kuschelst“, erkläre ich.

„Aber… was, wenn er stirbt?“

„Heh. ICH operiere. Und mir ist noch kein Kuscheltier unter der Nadel weggestorben.“

Nun ist der Große beruhigt.

Aber jetzt kommt der Moment, an dem er selbst mit anfassen soll. Drei Stiche muss er machen, das habe ich mir vorgenommen.

Und tatsächlich fällt es ihm unglaublich schwer, die Nadel in dieses kleine Tier zu stechen. Er zittert ein bisschen und schaut völlig konsterniert auf seinen Kuschelgefährten herunter, der da liegt und alles stoisch über sich ergehen lässt.

Endlich sind die drei Stiche gesetzt, der Große lässt die Nadel wie eine heiße Kartoffel fallen und atmet heftig aus.

Geschafft.

Ich vernähe noch die Fäden, und dann drücke ich ihm den Patienten in die Arme.

„So, der Patient wird als geheilt entlassen. Und nun pass gut auf ihn auf.“

Voller Inbrunst drückt er Clifford an sich, drückt mir einen heißen Kuss auf die Wange und verschwindet in seinem Zimmer.

Abends, bei unserem Ritual, frage ich, wie immer:

“Was war das Schlimmste heute?“

Und er antwortet:

„Dass ich Clifford mit der Nadel stechen musste.“

„Ja, aber dadurch ist er wieder heil, nicht wahr?“

„Bedeutet das, dass heile werden manchmal weh tun muss?“ Große Augen starren mich an.

„Hmm…. Nein. Es bedeutet wohl eher, dass man manchmal auch unangenehme Dinge tun muss, wenn man jemanden lieb hat und ihm helfen will. So wie Du eben Deinen Hund mit der Nadel pieken musstest.“
Er nimmt auf, was ich sage und stimmt mit einem bedächtigen Nicken zu.

Nach einem Moment fahre ich fort.

„Und was war das Schönste heute?“

Sofort breitet sich ein Strahlen über sein Gesicht aus.

„Na was wohl! Dass es Clifford jetzt wieder gut geht!“

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