Farbenspiel

Rot.

Feuriges Rot verteilte sich auf der Leinwand, getupft, gestrichen, gepinselt, gespachtelt und mit einem Schwamm verteilt, bis der Hintergrund dem entsprach, was die Vorstellung anforderte.

Ein verführerisches Rot, wie die Lippen, die Jan küsste, mit seiner Zunge sanft teilte um in den Mund einzudringen, der noch süß nach den dunkelroten Kirschen schmeckte, die sie gemeinsam teilten. Spürbare, schmeckbare Leidenschaft.

Ein heißes, alles verbrennendes Rot wie die Glut im Feuer, wenn sie nach dem Auflodern vor sich hinbrennt, von innen heraus heiß und leuchtend, die Wangen erhitzt und rötet – selbst die Wangen von alten Weibsen wieder zu denen junger Mädchen verzaubert –alles verzehrend und nur kalte graue Asche zurücklassend, in der Erinnerung aber das Wissen darum, dass es sich lohnte. Dass es nichts schöneres und gefährlicheres gibt als das Spiel mit der heißen, warnroten Glut.

Ein schmerzendes Rot, von einem Schlag auf den Po, auf die Wange, wie von einem Faustschlag, ein Rot, dass noch unendliche andere Farben in sich birgt und erst nach und nach ans Licht kommen lässt. Ein Rot, das die Lust am Schmerz bereiten signalisieren kann, das die Lust am Schmerz empfinden bedeuten kann oder auch nur die eigene Machtlosigkeit sich zu wehren gegen verbale Übergriffe, gegen Ungehorsam oder gegen eine Lebenssituation, die nicht gemeistert werden konnte – oder schlichtweg von der Verteidigung gegen rohe Gewalt berichtet.

Ein leuchtendes Rot, das sich in Orange- und Gelbtönen verlor, leichte zarte Lilatöne durch das Gemisch mit dem blauen Himmel annehmen konnte und den Mädchen den träumerischen Blick in die Augen legte, den sie bei einem Sonnenuntergang fast schon reflexhaft aufsetzten. Die Träume, denen sie dann nachhingen, konnten alles sein, solange es nur etwas mit Romantik und Abenteuer zu tun hatten: Es waren Träume von Helden und Traumprinzen, Träume von einem kleinen Haus am Rande einer Großstadt oder an einem See, Träume von Ausritten am Strand und Candlelightdinners mit einem attraktiven, klugen Mann. Auch Erinnerungen konnten diesen Glanz hervorrufen. Erinnerungen an glückliche, zufriedene Momente, die beim Anblick des Leuchtfeuers am Himmel wieder hervorgerufen wurden. Und nicht selten wärmten diese Farbkombinationen einfach nur die Seele und riefen selbst einen solchen Moment hervor – ein Augenblick des Krafttankens: lichthelles, warmes, kraftspendendes Rot.

Es gab noch viele Assoziationen mit Rot: Blut, Verrat, ein Signal, die ersten Wahrnehmungen in der schützenden Höhle des Mutterleibs… Rot musste dabei sein, hauchte dem Gesamtbild den Reiz auf, das Leben, forderte die Aufmerksamkeit, Gedankenreize heraus und vereinnahmte den Blick desjenigen, der an diesem Bild vorbeilaufen wollte.

Genauso wie sie den Blick von Jan vereinnahmt hatte, als sie dort, in ihren bunten Kleidern am Strand saß, mitten im Winter, wo doch sonst alle gedeckte Farben in dieser Saison bevorzugten. Sie, mit ihren wilden Locken, den Blick auf das tosende, sich aufbäumende Meer gerichtet, mit leuchtendem Blick und für niemanden ansprechbar.

Jan wollte nur joggen, sich fit halten, damit er weiterhin den Anforderungen seines Jobs gewachsen war: Als Sportlehrer wollte er „seinen“ Kids immer ein leuchtendes Beispiel sein. Als er sie aber dort sitzen sah, im Schneidersitz, leicht vorgebeugt und völlig fasziniert von den hohen, schäumenden Wellen, verlangsamte sich sein Schritt, bis er stehen blieb, von ihrem Anblick, ihrer Präsenz in den Bann gezogen. „So sollte sie gemalt werden“, dachte er sich und verfluchte den Moment, als er sich gegen die Mitnahme seiner kleinen Kamera entschieden hatte. Er hätte sie fotografieren und dann das Bild als Vorlage nehmen, den Anblick auf eine Leinwand bannen können, dieses wilde Kind vor diesem wilden Meer, mit all den Farben, den Emotionen, der Spannung, die hier zu spüren war.

Sie bemerkte ihn gar nicht. Sie starrte weiter auf dieses schmutzige, verwaschene Blau, das in allen möglichen Farbtönen changierte.

Blau. Das musste nun folgen. Es vereinte sich an den nassen Rändern mit dem Rot, das noch immer nicht ganz trocken war, so wie ihre Füße an dem Nachmittag, als Jan sie in sein Bett zog, nachdem sie sich nur hastig nach dem gemeinsamen Bad abgetrocknet hatten, ungeduldig, verlangend, keinen winzigen Augenblick mehr auf den anderen warten wollend, um sich wieder und wieder zu erforschen, zu spüren, sich berühren zu lassen, eindringlich, fordernd, gebend, sich gegenseitig hingebend, bis die Leiber nass waren vor Schweiß, Lust, und Tränen der Lust, der Gefühle, die über sie hineinbrachen und sie verschlangen, bis sie irgendwann, nur für den Moment gesättigt, in einem sanften Wellenkamm ausklangen und sie ungläubig das Wunder ihrer Vereinigung betrachten ließen.

„Ich liebe Dich“, wollte sie sagen, aber das gab es nicht. Nicht bei Ihnen. Keine falschen Schwüre, hatten sie vereinbart, und sie wusste es ja, sie wusste nur zu gut, dass sie solcher Gefühle nicht fähig war: Sie war und blieb der Schmetterling, der von jeder Farbe, von jedem Duft angezogen wurde, der sie mitriss.

Im einen Moment liebte sie die Naturgewalt eines Sturms am Meer und wollte auch genauso genommen werden: Leidenschaftlich, gnadenlos, mitreißend und stürmisch, ohne Rücksicht auf Verluste.

Dann wieder gab es den Augenblick, in dem sie sich vom sanften Blick einer Kuh hinreißen ließ, dort hineinblickte und sich dem sinnlichen Tanz verführerischer Augen hingab – hypnotisierend, langsam die Lust steigernd, ausreizend bis zum Wahnsinn, bis sie sich hinknien wollte und um eine einzige Berührung betteln wollte – wohl wissend, dass sie diese Berührung um den Verstand bringen würde.

Dann wieder liebte sie die kalte Strenge des Winters, der alles an Achtsamkeit forderte, daran, dass man sich in die Wetterbedingungen einließ, auf die Kälte, die Glätte, den meterhohen Schnee, der die Konturen sanft zeichnete und die Welt nach eigenem Gutdünken formte, unter sich schützend begraben den zarten Keim der Pflanzen, die die folgenden Jahreszeiten ernten würden. Sie nahm ihn an, gab sich hin und freute sich über die Belohnungen, die er bereit hielt: Sanfte Flocken, die auf die Haut fielen, sie kaum merklich berührten und dadurch noch intensiver von ihr gefühlt wurden, der Anblick vom knisternden, funkelnden Eis, die weiche, tröstende Decke, die alles Unschöne verhüllte und selbst Müllhalden und Fabrikhallen in seine Märchenwelt integrierte, wilde Abfahrten auf dem Schlitten und auf Skiern, die wunderbaren Ausritte durch den Schnee und eine romantische Schlittenfahrt durch die Natur, eingehüllt in flauschige Decken, neben dem, der ihr diese Fahrt als Belohnung für ihre Hingabe schenkte.

Und folgte dann der Frühling, diese launige, Farben malende, Leben erweckende, stürmische, übersprudelnde, lustige und launische, alles in Heiterkeit tauchende Jahreszeit, mit Blumen und Blüten, Regen und Pfützen, warmen und noch eisig kalten Tagen, an denen sie, alles hinnehmend, mit- und hingerissen die Heiterkeit und das erwachende Leben mitfeierte. An denen sie die Tropfen beobachtete, die in die Pfützen fielen, von Blättern aufhüpften und zum nächsten Blatt zu springen schienen, an denen sie so lange im Regen herumlief und tanzte, lachte, sich auf die nächste Wiese warf um das nasse Gras, die feuchte Erde zu riechen und das Keimen der Sprösslinge zu spüren, zu hören, einzuatmen – mit allen Sinnen das aufnahm, was zu diesem Leben gehörte – Wasser, klar wie die Tropfen aus den dunklen Wolken, schlammig wie die Pfützen auf erdigen Wanderwegen, moosigbraun wie die ruhigen, stillen Seen, die einsam an alten Wäldern liegen, grün, petrolig, strahlend blau wie das, was uns das Meer von ihm zeigte – weiß wie die Schaumkämme der Wellen, das Salz vor sich hertreibend, die Luft in den Schaumblasen sichtbar machend.

Und genau dieses Blautöne folgten nun in einer raschen Folge auf der Leinwand: Sie verbanden sich zu einer unruhigen Fläche, die in ihrer Zerrissenheit aufwühlend wirkte – so wie die Begegnung zwischen Jan und ihr.

Um dieser Fläche aber Substanz zu geben, fehlte grün, und so folgte auf das bewegende, kühlende, aufwühlende, Tiefe gebende und Himmel spiegelnde blau ein Crescendo an Grüntönen, die wieder Assoziationen und Erinnerungen aufwühlten, begradigten, besänftigten und dennoch still und eindringlich die Unergründlichkeit des Lebens bewiesen.

Grün, grün wie das Gewand der Jäger, die der Aufgabe der Fleischbeschaffung schon lange entwachsen waren, die sich um die Bestandspflege kümmerten und Hobbyjäger betreuten, die um der Trophäen willen töteten, nicht wegen der Notwendigkeit zu überleben.

Grün wie das Moos auf einem Wasserrad, das sich müde und langsam dreht, dem Drang des Wassers altersstur widerstehend und in seinem Charme an alte Zeiten erinnernd, an Mehl mahlende Mühlen, gleich ob Wasser oder Wind nutzend, an Kämpfe und widersinnige Helden, an sonnengegerbte Felder und vor Hitze flirrende Luft in den fernen Weiten Espagnas, dem Geburtsort Don Quichotes.

Grün wie das „Geh nur!“ des unteren Lichtes der Ampel, das anzeigte, dass freie Fahrt signalisierte, wie so viele freigebende Signale, die anzeigten, dass etwas bereit, frei, offen war – so wie sie in dem Moment, als Jan sie erblickte – und doch war das Warnrot dominanter, die Ambivalenz zwischen ihrer Bereitschaft und ihrer Distanz, ihrer Flucht vor tiefen Empfindungen und dem heimlichen Begehren nach Nähe zeigte sich genau in dieser Farbkombination.

Hier aber tauchte das Grün in das Blau, und so war es einer fast vollkommenen Harmonie ähnlich, die dem Grün der Blätter eines Frühlingsbaumes ähnelte, der sich von dem im Hintergrund sichtbaren wolkenlosen, strahlend blauen Himmel abhob. Das Grün, das am Rand eines Sees in Form von Gräsern und Algen wuchs und dem Wasser seine so spezifische Farbe gab, so dass es in moosigbraunem Tiefen das Blau des Himmels und das Weiß der Wolken in Sonnenuntergangsfarben wieder spiegelte.

Alle Farben vereinigten, überlagerten sich, changierten und erzeugten einen verschwommenen, schemenhaften Eindruck. Noch war nicht erkennbar, was sich dort zeigen würde, vor ihm, auf der Leinwand, noch war nur ihm klar, was sich dort am Ende zeigen würde, und so reinigte er die Pinsel und wandte sich der nächsten Farbe zu, die, die kleine Akzente setzen würde, aus rot und blau neue Farben erzeugen und auch dem gesamten Bild die Andeutung dessen einhauchen würde, was er in seinem inneren Erinnerungsbilderrahmen als Vorlage aufgelegt hatte.
Und so krabbelten in Windeseile einige gelbe Strahlen über das Bild, Sonnenstrahlen gleich hauchten sie dem Bild das Leben ein, das er vor kurzem noch für sich entdeckt zu haben glaubte: Fröhlichkeit, Lachen, Leidenschaft, Sehnsucht – Wärme, Geborgenheit, und Tiefe.

Wie verdeutlicht man mit strahlendem, blendendem Gelb Tiefe?

Indem man sie neben die dunklen Flecke auftupft und damit die Dunkelheit noch mehr hervorhebt, bis genau diese das Auge mehr anzieht als die Helligkeit, und so taucht man hinein, in den Sog, lässt sich fallen und taucht immer tiefer ein in die samtbraune Tiefe der Augen, die ihn finster, strahlend, lächelnd und auch trauernd, verzweifelt, leidenschaftlich ansehen konnten, die Zärtlichkeit, Zurückweisung, völlige Konzentration und absolute Abwesenheit signalisieren konnten – nie aber ohne die Lippen, diese vollen, weichen Lippen, die nicht verführerisch rot Männerherzen höher schlagen ließen, nein – erst wenn man sie spürte, berühren konnte, mit Haut und Zunge, sie erkunden und sanft anknabbern, sie zwischen die eigenen Lippen nehmen, in sich saugen konnte – dann erst entfaltete die Samtigkeit, die Weichheit ihre gesamte verführerische Gewalt. Und genauso entfaltete sich beim Blick ihrer Augen erst dann die gesamte Wirkung, wenn man auch den Mund mit ansah, denn er war so unglaublich ausdrucksvoll in seiner rosigen Blässe, dass man schon an ihm das ganze Mienenspiel erkennen konnte – auch wenn sie ihren Augenblick durch eine dunkle Sonnenbrille verbarg.

Er kannte alle ihre Stimmungen, hatte sie in den Jahren lieben, hassen, fürchten gelernt, sich darüber amüsiert, zärtlich lächelnd, während sie, einem kleinen Kobold gleich, vor ihm herumtobte und mit allem warf, was ihr in die Finger geriet. Wenn es ihm genug wurde, stand er ganz gelassen auf, ging durch das Streufeuer hindurch auf sie zu, nahm ihre Hände und zog sie hinter seinen Rücken, so dass sie eine Gefangene ihrer eigenen, tobenden Arme wurde, hilflos seinen Kuss in Empfang nehmen musste, der sie beide in einen Versöhnungstaumel riss, der auch den Rest der Wohnung in Mitleidenschaft zog: Sie fielen übereinander her, sie wütend, er liebend, sie rasend, er gelassen, und egal wo sie sich gerade befanden, wurde der Raum zur Spielwiese ihrer Leidenschaft, bis sie sich dann, irgendwann, völlig verschwitzt und erschöpft den Momenten der Zärtlichkeit widmeten.

„Es tut mir leid“, murmelte sie dann, und er lachte leise und strich ihre wilden, durchnässten Locken aus ihrem Gesicht, während er ihr die Schweißperlen von der Stirn küsste: „Warum? Dieses Erlebnis wäre uns sonst nicht vergönnt gewesen…“ Dann lachte sie auf und hieb auf seine Brust ein: „Du Schuft! Du hast das genossen!“ Und seine Antwort war ein schmunzelndes: „Ja. Jede einzelne Sekunde. Du nicht?“

In solchen Momenten sah er dieses helle, strahlende Gelb, das den soeben noch wütenden Sturm vertrieb, während dessen Dauer er bereits genau ahnte, sich ausmalte, was geschehen würde, wenn er dem ein Ende setzen würde. Und dann verwischten Gelbe Hitze und Rote Leidenschaft zu einem sanften, zärtlichen Orange, das den Nachhall der soeben erlebten Gefühlsachterbahn als schimmernden Schweiß auf der samtigen, empfindsamen Haut pulsieren ließ, der jeden Kuss salziger als eine Träne, süßer als eine sanfte Berührung schmecken ließ.

Dann verdunkelte sich die Umgebung zu einem dunklen Schwarz, das die Konturen auswischte, sie gemeinsam in die Stille der Nacht zog und dort in einen tiefen, festen Schlaf, der nur gestört wurde, wenn einer der beiden sich zu weit vom anderen fortbewegte. Dieses Schwarz zeichnete nun die Konturen, gab dem Bild die Struktur, die all ihre Monate, die sie gemeinsam verbringen konnten, aufzeigte und genau da endete, in dieser Farbe.

Schwarz, wie die Nacht, wie die Dunkelheit, wie das, was nur ein Blinder nicht beschreiben konnte, wie das Ende aller Zeiten. Schwarz, wie die Trauer dessen, der zurückbleibt, wie die Trauer dessen, der geht. Schwarz wie die Zukunft, die man sich zwar ausmalen vermag, aber dennoch immer so lange verdeckt bleibt, bis sie sich offenbart. Schwarz wie das Gefühl, das man nicht anders beschreiben kann, wenn absolute Leere vor einem harrt, sich dessen bemächtigt, was vorher so bunt und strahlend erschien.

Immer mehr schwarz füllte die Leinwand, nahm Fleck für Fleck, Strich für Strich das schon fast fertige Bild in Haft, überzog immer größere Flächen mit dem Dunkel, das nun in ihm herrschte – bis nicht ein Hauch des Farbenspiels noch zu sehen war.

Nun erst trat Jan von der Leinwand zurück, betrachtete sein Werk lange, schien darin zu versinken.

„Okay. Das war nichts. Ich versuche es morgen noch mal“, murmelte er, reinigte die Pinsel, verschloss die Farben und legte sich schlafen.

Am nächsten Morgen prüfte er die Leinwand. Sie war trocken genug, um zu den anderen Gemälden gestellt zu werden.

Also nahm er sie von der Staffelei ab und ging mit ihr in den Raum nebenan, in dem bereits hunderte schwarze Leinwände auf Zuwachs warteten…

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