Die leuchtenden Farben des Herbstes sind verräterische kleine Miststücke.
Als hätte einer heimlich Lichter hinter ihnen aufgestellt, nur um mir zu zeigen, dass nicht die Sonne scheinen muss, dass ich nicht guter Stimmung sein muss, um sie zu bemerken. Ihre Schönheit rührt mich zu Tränen. Nicht die freudigen, guten, die mir gestern morgen ständig in den Augen schimmerten. Die ich mühelos wegblinzeln konnte, weil ich ja keine rührselige Tante bin.
Diese da sind anders.
Diese Tränen wissen: ich sehe Euch jetzt. Aber Euch, so wie gerade eben, in dieser Pracht, an diesen Bäumen, nicht mehr, nie mehr. Dieser Anblick bleibt unvergessen und ist nicht wiederholbar.
Diese Tränen, die das wissen, befeuchten die Herzränder, um sie flexibler zu machen. Damit es nicht zerreißt, das dumme Ding.
Tränen.
Eine völlig unnötige Erfindung. Davon bekommt man nur dicke rote Augen und ne Rotznase.
Was bewirken diese Dinger denn schon? Einer flennt und der andere fühlt sich unter Druck gesetzt. Obwohls der eine gar nicht will, der, der heult.
“Verschwindet…” knurre ich den Farben zu. Sie sind wirklich unverfroren, wie sie sich da in ihrer Schönheit exhibitionieren: Leuchtendes Rot, sonniges Gelb, wärmendes Orange. Zusammengenommen wirken sie wie das Feuer, das in mir brannte, gestern, heute. Wie meine…
Nein, darüber will ich nun nicht nachdenken. Erst später, zu Hause, beim Einschlafen, will ich mir diese Erinnerungen gönnen. Immer und immer wieder, bis ich sie mit in meine Träume nehmen kann.
Ich fahre weg von dem grauen Wetter, mitten hinein in einen Sonnenuntergang, der seinesgleichen niemals finden wird. Die Wolken hängen so tief, Unmengen an Wolkenschichten übereinander, nebeneinander, die Dreidimensionalität dieser zerrissenen Schichten ist fast greifbar.
Aber immer noch ist sie stärker, setzt sich durch, findet freie Stellen am Himmel, die sie nutzen kann: Die Wolken werden von der untergehenden Sonne angestrahlt, als wolle sie deren dramatische Selbstinszenierung noch verstärken.
Zartes Rot und Rosa mischt sich mit hellem, immer dunkler werdendem Blau, mit dem Weiß und den unzähligen Graustufen. Davor die Skyline: Wolkenkratzer, wie Türme gebaut, Spiegelbauten, Brücken, dieser riesige Bahnhof, den wir gerade verlassen.
Und wieder rührt mich dieser Anblick zu den mir so verhassten Tränen.
Natürlich ist es nur der Anblick, weswegen meine Augen so brennen.
Was denn sonst?
Unwillig wische ich das salzige Zeug weg. Das Taschentuch ist schon so sehr aufgeweicht, dass Flusen an meinen Wimpern hängenbleiben. ich muss mich zusammenreißen. Sonst glaubt noch jemand, ich wäre traurig, und dabei ists nur der Himmel, der so schön ist.
Ein Buch. Genau, wofür hab ich mir das blöde Ding denn eingesteckt? Geschichten konnten mich schon immer ablenken, trösten. ich schlage die Seiten auf, zwischen die ich mein Lesezeichen gesteckt habe.
Da stimmt etwas nicht. Die Worte ergeben keinen Sinn. Habe ich ein paar Seiten überschlagen? Frustriert blättere ich zurück, doch egal zu welcher Seite ich gehe: Es kommt mir so vor, als habe ich noch nicht einen einzigen Satz dieses Buches gelesen.
Zerstreut glätte ich die erste Seite und überlege, ob ich die Bücher versehentlich vertauscht habe, als ich meine Tasche packte. Heute.
Noch einmal beginne ich zu lesen, aber die Zeilen verschwimmen vor meinen Augen.
Ich hätte die Lesebrille mitnehmen sollen.
Plötzlich durchfährt ein scharfer Schmerz meinen Zeigefinger, ich habe mich an einer der Seiten geschnitten. Beinahe ungläubig starre ich den kleinen Schnitt an, sehe zu, wie Blut hervorquillt. Dann reagiert mein zentrales Nervensystem und signalisiert meiner Hand, dass ich den Finger in den Mund stecken sollte, um den Schmerz und das Blut wegzusaugen.
Bilder schießen durch meinen Kopf, Gedanken huschen pfeilschnell herbei und verschwinden, bevor ich reagieren kann.
Das letzte Mal waren es nicht meine Lippen, die diesen Finger umschlossen.
Seufzend packe ich das Buch wieder in meine Handtasche. Musik? Ja, aber nicht die, die ich sonst immer höre, weil sie so schön ist und mich mitnimmt, auf Reisen in wunderschöne Welten. Das würde diesmal nicht funktionieren, und wer weiß, ob es dann jemals wieder klappt?
Inzwischen bin ich dem Sonnenuntergang entkommen; es hat auch hier zu regnen begonnen. ich finde das passend, denn mein Bauch verrät mir, dass er den Grund dafür kennt, warum mein Blick nichts fokussieren kann.
Er verrät ihn nicht.
Aber er macht immer wieder so billige kleine Anspielungen.
ich würde ihn gern beschimpfen, aber das liegt mir nicht. ich könnte so mit niemandem reden, wie ichs nun grad loslassen wollte, noch nicht einmal mit so einem üblen kleinen intriganten Bauchgefühl.
Stumm verfluche ich meine Disziplinlosigkeit.
Die Farben. Die Wolken, der Sonnenuntergang. Die Erinnerungen, das Bauchgefühl. Nichts davon kann ich unterdrücken, nichts davon kann ich lassen.
Nur Dich konnte ich lassen. Eigentlich ganz gelassen und okay.
Aber das Schlimmste, was dabei passierte, war das, was ich nicht lassen konnte:
Meine Tränen.
Wie so eine rührselige alte Heulsuse hab ich geflennt, diese übelst salzigen Wasserfälle flossen selbst dann noch, als ich schon wieder lachen musste.
Wüsste ich, dass ich dann nie wieder weinen würde, ich risse mir die Augen aus.
Aber ich glaube, dafür müsste ich etwas anderes ausreißen lassen.