Nacht des Terrors

Liebende waren sie nie.
Man konnte sie eher als zwei einsame Menschen bezeichnen, die sich aneinander festhielten, bis der eine mehr Halt als der andere benötigte und der Tragende unter der doppelten Last zusammenbrach.

Das Ende bahnte sich langsam an, aber als es dann soweit war, brach für beide die gemeinsame Welt zusammen, entwickelte sich aus dem eh nie so besonders beschaulichen Leben ein Horrorszenario, das auch die eigene kleine Welt ins Wanken brachte.

Dabei hatte der Tag so friedlich begonnen.

Sie hatten gemeinsam gefrühstückt, das Mittagessen zubereitet, waren seit langem mal wieder spazieren gegangen, bevor sie sich zurückzog, in sich.

Irgendwann während des Spaziergangs war die Stimmung wieder umgeschlagen, und sie wusste ja, was das wieder nach sich ziehen würde.

Also setzte sie sich ins Esszimmer und schrieb in ihr Tagebuch; etwas, was ihr half, ihre Gedanken zu strukturieren.

Heute war also wieder ein Tag, an dem er es versuchen würde. Die Nähe, die er suchte, die scheinbar zufälligen Berührungen zeigten es ihr deutlich. Während sie überlegte, wie sie um diese unmögliche, für sie beide nur in Frust und Demütigung ausartende Situation herumkommen würde, trat er hinter sie und streichelte ihren gebeugten Nacken.

Es schauderte sie.

„Worüber denkst du nach, Schatz, hm?“

Ihr wurde heiß und kalt zugleich.

Was sollte sie nun sagen?

Die Wahrheit?

Das würde das Ende bedeuten, das wusste sie.

Was wäre dann mit den vergangenen 5 Jahren Ehe, in denen sie zwar immer draufgezahlt, aber dennoch einen sicheren Hafen gehabt hatte? Einen sicheren Hafen vor den Übergriffen dieses Typen, der sie immer noch suchte, sie verfolgte – sporadisch nur noch, aber dennoch war das beunruhigend genug.

Ihr achtjähriger Sohn kam ihr in den Sinn, der sich gerade zum Spielen im Kinderzimmer aufhielt. Tobias wusste genau, dass Luca nicht sein Sohn war. Dennoch hatte er ihn immer geliebt und sich um ihn so gekümmert, als sei er es. Dass dies wegen seiner eigenen Zeugungsunfähigkeit geschah, hatte sie lange Zeit nicht gewusst. Erst aufgrund eines Gespräches mit seinem Arzt, das sie gemeinsam mit ihm führten, kam sie dahinter, dass er gar nicht in der Lage war, ein Kind zu zeugen.

Sie sahen sich damals an, Marie völlig überrascht, er eher schuldbewusst, und daran erkannte sie, dass er es schon lange gewusst haben musste. Sie machte sich eigentlich nicht viel daraus, aber dieses Versteckspiel, diese ständigen Versuche, von denen er doch genau wusste, dass sie zu nichts führen würden, das kränkte sie.

Warum konnte er nicht ein Mal ehrlich sein? Warum nur immer wieder diese Lügen, im Kleinen wie im Großen? Es hätte doch nichts geändert für sie, schließlich hatten sie doch Luca, ihren Sohn, den sie beide liebten und umsorgten.

Nie gab er ihr auf diese unausgesprochene Frage eine Antwort, und nie sprach sie diese Frage aus. Es hätte den Bruch sichtbar gemacht, wie jeden anderen der haarfeinen Risse, die sich schon durch ihre Beziehung zogen, mit Schnellkleber kaschiert, aber dennoch nicht stabil zum Halten gebracht.

Marie wusste, dass sie nun bald antworten müsste, denn sonst würde er entweder argwöhnisch, oder er würde ihr Schweigen als Einverständniserklärung betrachten: Die Zärtlichkeiten würden dann deutlicher, bis er sich nicht mehr zurückhalten könnte – und sie würde wieder einmal alles schweigend über sich ergehen lassen, voller Abscheu, verzweifelt um ein angenehmes Bild in ihrem Kopf, das ihr erlaubte, das ganze hinter sich zu bringen, ihn noch einmal zu täuschen, mit stöhnenden Abwehrlauten, mit von ihm fort zuckenden Bewegungen, die er als Leidenschaft deuten würde.

Das würde ihr wieder Zeit verschaffen, wenn sie ihre Sache nicht so gut machte, dass er Lust auf weitere Male bekam, wie es auch schon öfter vorgekommen war.

Die letzten Jahre hatte sie immer geschwiegen, das Spiel mitgemacht, weil sie glaubte, dass der Junge ein Daheim mit Vater und Mutter verdient hatte. Aber es wurde immer schwieriger für sie, brachte sie an den Rand der Verzweiflung: Sie kam sich wie eine Hure vor, die sich um den Preis eines friedlichen Lebens verkaufte. Als sie dann in einem Gespräch mit Luca erfuhr, dass auch ihm der Stiefvater immer unheimlicher wurde, dass er Angst hatte mit ihm allein zu sein, wusste sie endgültig, dass sie etwas tun musste.

Nur wie, wie sollte sie das diesem hochsensiblen Menschen beibringen, der in seiner Verletztheit zu Wutanfällen neigte, vor dessen Gewaltausbrüchen sie sich fürchtete? Ob sie nicht doch lieber heute noch einmal…

Als sie diese Möglichkeit gedanklich bis zum Bauch sinken ließ, spürte sie einen derartigen Widerstand, dass ihr klar wurde, dass es so nicht mehr ging. Sie würde keine weitere erotische Berührung von ihm ertragen können, und die Vorstellung von ihm in ihr brachte sie dazu, von ihrem Stuhl aufzuspringen, und nur mit Mühe gelang es ihr, eine spontane Flucht zu unterdrücken.

Nein, heute musste sie endlich reden.

Sie sank zurück auf ihren Stuhl, nahm ihren ganzen Mut zusammen und sprach ein paar einleitende, vorbereitende Worte.

„Es sind keine angenehmen Gedanken, Tobias. Und ich weiß nicht, wie ich sie dir vermitteln soll…“

Er nahm die Hand zurück, verschränkte seine Arme vor sich. Offensichtlich ahnte er, dass heute der Tag gekommen war, den sie beide schon seit geraumer Zeit im Visier hatten und dennoch immer wieder an die Seite schoben.

„Was ist denn los? Erzähl, Marie. Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst!“

Das war gelogen, und auch das wusste er. Dennoch machte ihr diese Lüge den Beginn der Aussprache leichter, schließlich hatte er hören wollen, was sie bewegte.

„Ich… Du hast es sicher mitbekommen, dass ich dir in den letzten Monaten immer häufiger ausgewichen bin, Tobias. Dass ich deine Zärtlichkeiten nicht mehr suchte, sie eher floh? Es geht einfach nicht mehr. Ich kann nicht mehr mit dir schlafen…“

Marie wusste nicht, wohin sie schauen sollte. An ihm vorbei sehen, ein Anschauen simulieren wollte sie nicht, ein direkter Blick wäre vielleicht zu viel für ihn – also sah sie nach unten, auf den Tisch, dort, wo ihr Tagebuch lag.

„Wie… wie soll ich das verstehen?“ Der Ton klang schneidend und überrascht, ganz so einfach wollte er ihr es anscheinend doch nicht machen.

„Komm schon, Tobias. So sehr kann dich das gar nicht überraschen. Ich weiche dir seit Wochen aus und gehe meist vor dir ins Bett, nur damit ich so tun kann, als sei ich schon eingeschlafen, wenn du dann hinzukommst und dein Recht fordern willst. Ich weiß ja auch nicht, was es ist, aber es geht einfach nicht. Bei zärtlichen Berührungen von Dir zucke ich zusammen und bin froh, wenn dieser Moment wieder vorbei ist. Ich… ich möchte die Scheidung, Tobias.“

Still, völlig unerwartet still setzte sich Tobias auf einen Stuhl, starrte sie an. Sie sah die Verletzung in seinen Augen, und in diesem Moment überlegte sie, ob es wirklich das Richtige war, was sie da tat. Seine folgenden Worte sollten sie eines Besseren belehren.

„Das letzte Mal warst Du aber noch ganz schön nass…“ Sein hämisches Grinsen unterstrich ihr Unwohlsein, machte ihr noch einmal deutlich klar, dass er sie nicht so einfach auskommen lassen würde. Gleichzeitig verletzte sie – wie immer – seine Art, Intimitäten dazu zu nutzen, um ihr weh zu tun, sie zu verunsichern. Marie merkte, dass sich nun endgültig in ihr etwas zusammenzog, um sich nie wieder zu lösen: Es war das kleine Tor, der Zugang für ihn zu ihrem Herzen.

„Ich möchte nun nicht über solche Dinge mit dir diskutieren, Tobias. Du hast gefragt, worüber ich nachdenke, und ich denke da schon lange drüber nach. Bitte werde doch nun nicht gemein! Es ist nur fair, wenn ich dir das sage und dich nicht im Dunkeln stehen lasse, oder? Ich kann und will einfach nicht mehr mit dir schlafen…“

Traurig sah sie ihn an, denn sie wusste, dass sie gerade das letzte Band zerriss, was sie noch zusammen gehalten hatte, doch im gleichen Moment zuckte sie vor dem wilden Hass in seinen Augen zurück.

„Du zerstörst gerade alles, was wir haben, ist dir das bewusst? Welcher Typ hat dich mir ausgespannt?“ Wütend sprang er auf, tigerte im Raum hin und her, griff nach der Vase mit den Blumen, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Er knallte das Gefäß mit einer solchen Vehemenz zurück auf den Tisch, dass sie zerbarst.

Das Wasser lief über den Tisch, und fassungslos, ohne sich zu rühren, sah Marie zu, wie es auf den teuren Teppich tropfte.

Auch Tobias unternahm keine Anstalten, das von ihm angerichtete Malheur zu beseitigen. Er starrte auf seine Hand, in der eine lange Scherbe feststeckte. Rote Tropfen mischten sich in die Lache, die sich mittlerweile am Boden gebildet hatte, sie zerschellten an den Teppichfasern und tauchten die hellen Flusen in ein marmoriertes Rotbeige-Gemisch, das in seiner filigranen Schönheit – gemessen an seiner Herkunft – einen obszönen Beigeschmack aufwarf.

Wütend fuhr Tobias sie an. „Mach das sauber!“ Er schnitt jede Erwiderung mit einer abwinkenden Handbewegung ab und stürmte in den Flur. Dort schnappte er sich die Jacke und beide Wohnungsschlüssel, riss die Tür auf und sperrte sie von außen zu. „Ich muss erst einmal darüber nachdenken, was du gerade anrichtest. Wenn ich wiederkomme, ist der Fleck nicht mehr zu sehen!“

Erstarrt saß Marie weiter auf ihrem Stuhl, lauschte den Schritten im Flur, hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte; vernahm, wie sie die Treppe herunter stapften, zur Haustür rumpelten und das Haus in völliger Stille hinterließen.

Er hatte sie eingeschlossen.

Einfach so.

Als sei sie sein Besitz, ein Stück Vieh, das am Fortlaufen gehindert werden müsse…

Und nun?

Erst einmal diese Bescherung dort beseitigen, das war klar. Wenn er zurück kam und noch einen Hauch von Unordnung entdeckte, war nicht abzusehen, welche Konsequenzen das haben würde. Er war schon oft jähzornig gewesen, aber in dieser Stimmung hatte sie ihn noch nie erlebt.

Müde, wie ein geprügelter Esel stand sie auf und schlurfte still zur Abstellkammer, in der sie den Aufnehmer und auch den Teppichschaum aufbewahrte. Sie öffnete die Türe und starrte blicklos vor sich hin. Irgendwie war ihr entfallen, was sie hier wollte…

„Mama…?“

Marie fuhr herum. Luca, den hatte sie ganz vergessen.

Verdammt, warum hatte sie nicht geschwiegen? Morgen begannen die Sommerferien und er wäre mit seiner Ferienfreizeit fort gefahren. Sie hätte hier alles in Ruhe klären können, so war ja ihr Plan gewesen, wenn nicht dieser unselige Mensch noch einmal seine erotischen Triebe hätte ausleben wollen, gerade heute!

Und sie hatte in ihrer Panik, ihrer Abwehr, nicht ausweichend antworten, keine Kopfschmerzen vorschützen, keine Periode vortäuschen können. Nein, sie war damit gerade heraus geplatzt, der innere Staudamm, den die Vernunft so mühevoll aufgebaut und abgedichtet hatte, war geborsten und ließ diese verhängnisvollen Sätze hinaus, über ihre Stimmbänder und ihre Lippen, ihm mitten ins Gesicht, wie einen Fausthieb.

Die Quittung hatte sie nun vor sich liegen, eine Zeche, die verdammt hoch war. Aber dennoch wusste sie, dass sie diese Zeche zahlen wollte, denn ein schweigendes Bleiben würde ein wesentlich höherer, nicht zu tragender Preis sein.

Aber wenigstens dieser eine Tag…

Marie schüttelte die vorwurfsvollen Gedanken ab. Nun war es eh zu spät, und sie musste sehen, dass sie das Beste aus der Situation machte. Sie ließ sich auf die Hocke herunter und breitete die Arme aus, etwas, das sie schon lange nicht mehr gemacht hatte, ihr aber in diesem Moment als das einzig Richtige erschien.

Und richtig, der junge Mann lief zu ihr und schmiegte sich in ihre Arme, nur kurz, aber es reichte aus, um sich ihrer gegenseitigen Verbundenheit zu versichern.

„Er hat uns eingeschlossen“ sagte sie zu ihrem Sohn, und sah ihn ernst an.

„Morgen wird er uns wieder rauslassen müssen, denn dann musst du deinen Urlaub antreten. Ich packe ein paar Sachen von mir in deinen Koffer mit und dann kehre ich nicht wieder zurück in diese Wohnung. Ruf mich über Handy an, wenn was ist. Okay?“

Marie sah ihren Sohn eindringlich an, sie wollte wissen, wie es ihm ging, bestätigt sehen, dass er verstanden hatte und er es gut hieß.

„Wo gehst du denn hin?“ Er sah sie mit ängstlichen Augen an. „Ich will nicht in dieses Lager, wenn ich nicht weiß wo du bist, Mama!“

Seine Angst war ja begründet, das wusste sie.

Sie selbst würde sich ja auch besser fühlen, wenn sie ihn dort wüsste, in Sicherheit und fern von diesem Menschen.

Was aber, wenn ihr etwas passieren würde?

Wer würde ihn dann am Bus abholen?

Diese Frage stand in seinem Gesicht, ganz deutlich, und sie überlegte, was zu tun sei.

„Würde es dir helfen, wenn ich dich jeden Abend anrufe, mein Schatz? Ich kann gut verstehen, dass du dich sorgst, aber schau mal: Wenn ich dich gut versorgt dort weiß, kann ich hier alles in die Wege leiten, damit bei deiner Heimkehr alles in richtigen Bahnen läuft. Wo soll ich denn hin mit dir, hier – wo es nun eskaliert?“

„Aber was, wenn du nicht anrufst, Mama! Dann sitze ich da hinten in der Schweiz und weiß gar nicht, was los ist, Mama, das halte ich nicht aus!“ Tränen schossen in Lucas Augen, und Marie verstand ihn, sie verstand ihn nur zu gut.

„Ich könnte dir helfen, Mama! Ich kann deine Taschen tragen, kann dir beim aufräumen helfen oder was auch immer – bitte, lass mich hier bleiben, ich will da jetzt nicht hin!“ Es war ihm wirklich Ernst, und Marie schwankte, war es wirklich richtig, ihn nun fortzuschicken?

Der Junge merkte den Stimmungsumschwung und suchte nach neuen Argumenten: „Und außerdem… möchte ich doch mitbestimmen, wenn wir uns eine neue Wohnung suchen. Schließlich wohne ich da ja mit, und dann will ich mich auch wohl fühlen können!“

Marie konnte nicht anders, sie musste lachen. Luca begann zu strahlen, denn er wusste, dass er gewonnen hatte.

„Okay, Herr Wegener, du hast mich überredet. Dann lass uns nun die Bescherung dort im Esszimmer beseitigen und uns dann darum kümmern, dass wir deine Koffer umpacken. Dein Schulzeug muss mit da herein, und ein paar Sachen von mir, die Unterlagen und was wir sonst noch dringend benötigen.“

Mit Feuereifer stürzte Luca los und sammelte die Scherben auf. Es war besser, sich nun zu beeilen, damit sie alles geschafft hätten, wenn dieser… Mann zurückkehrte.

Luca hatte ihn gemocht am Anfang. Da hatte Tobias sich auch noch um ihn bemüht, hatte viel mit ihm unternommen: Er war mit ihm baden gefahren, ins Kino gegangen, hatte ihm Fahrradfahren beigebracht. Jeder Tag mit ihm war ein Erlebnis, und so war es Luca leicht gefallen, diesen Mann an Mamas Seite zu tolerieren.

Erst langsam schlich sich das ein, was hinterher zum unangenehmen Dauerzustand wurde: Luca war alles schuld, er konnte nichts richtig machen und die Strafen für Kleinigkeiten wurden immer abstruser:

Einmal ließ der Junge versehentlich ein Kaugummipapier auf der Straße fallen. Zwei Tage jagte sein Stiefvater ihn durch die Straßen der Stadt, mit Handschuhen an den Händen und einem Paket Müllbeuteln in der Tasche.

Er befahl Luca, dass er den Müll von den Straßen aufheben solle, als Mahnung daran, dass Müll eben nicht in die Umwelt gehört. Als der Junge einmal sein Pausenbrot nicht essen wollte, bekam er eine Woche lang nur Reis zu Essen, am Morgen, am Mittag und am Abend.

Solche Aktionen häuften sich, und Luca hatte Angst, seiner Mutter davon zu erzählen, denn in den seltenen Momenten, in denen sie von so etwas Wind bekam und sich vor ihren Sohn stellte, reagierte Tobias mit solchen Wutattacken, dass sie sich beim letzten Mal sogar im Zimmer eingeschlossen hatten um ihm zu entgehen. Am nächsten Tag war der Schlüssel fort, und damals reifte in Marie der Plan, dass sie sich von ihm trennen musste, allein schon um Lucas Willen.

Gemeinschaftlich reinigten die Beiden das Esszimmer und begaben sich anschließend an die Aufgabe, die Koffer von Luca so umzupacken, dass sie das Notwendigste bei sich hatten ohne dass es bemerkt werden könnte.

Die Ausweispapiere steckte sie in den Taschengeldbeutel von Luca und klebte ihn in die Innenseite seiner Regenjacke, die er unter sein Kopfkissen legte. Die Kleidungsstücke, die sie nun hier lassen mussten, steckte sie kurzerhand in einen alten Spielzeugkarton, der oben auf dem Schrank stand.

Als sie alles so weit vorbereitet hatten, begannen sie damit, ein leichtes Abendessen zu richten. Sie arbeiteten Hand in Hand, plauderten über dies und das, machten Pläne für ihre Zukunft und lachten sogar ab und an, leise und verhalten zwar, aber dennoch entspannte sich die Lage zwischen ihnen deutlich.

Bis sie die Schritte hörten.

Es waren schwerfällige Schritte, die unrhythmisch die Treppe erklommen, sie und das schwere Schnauben machten klar, dass Tobias bezecht war, und das mächtig.

„Geh in dein Zimmer, Luca. Schnell.“ Marie sprach ruhig und bestimmt, und nach einem fragenden Blick nickte sie ihm zu, mit entschlossenem Blick.

Luca registrierte, dass seine Mutter im Moment keinen Widerspruch gelten lassen würde und folgte ihrer Bitte augenblicklich. Er verschwand in seinem Zimmer, prüfte noch einmal, ob die Jacke nicht zu sehen war und legte sich dann auf sein Bett, vorgeblich um ein Buch zu lesen, aber innerlich viel zu nervös und aufgewühlt, um sich wirklich konzentrieren zu können.

Er lauschte zum Flur hin, hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde und zuckte zusammen, als die Tür zugeknallt wurde.

Schwerfällig bewegte sich der muskulöse Mann auf das Esszimmer zu. Er wusste genau, dass dort alles wieder in Ordnung sein würde, und das regte ihn innerlich auf, denn das bedeutete, dass sie sich dem aktuellen Thema widmen müssten – ihrem Trennungswunsch.

Einen kurzen Moment stockte er an der Tür, sich überhaupt nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Natürlich hatte er gemerkt, dass sie sich von ihm entfernte, dass Spannungen aufkamen. Das nicht zu unterbinden war ein Fehler gewesen, den er nun ausbaden musste, das war ihm klar. Aber er hatte geglaubt, dass es nur eine Phase sei, Zickenterror eben.

Und nun wollte sie fort.

Drohte mit Scheidung und wollte nicht mehr mit ihm schlafen. Die zwei Stunden in der Kneipe hatten ihm zwar gut getan, aber eine Lösung brachten sie nicht, und so stiegen Unsicherheit und Aggression wieder hoch, und mit einem Ruck öffnete er die Esszimmertür, dazu bereit, ihr deutlich klar zu machen, dass ihr Verhalten unduldbar und ihr Ansinnen völliger Unsinn sei.
Marie saß am Esstisch, um Fassung bemüht. Der grade durchgedrückte Rücken, die zurückgenommenen Schultern und die im Schoß zusammengelegten Hände zeigten ruhige Entschlossenheit, die aber keine Rückschlüsse auf ihr Innerstes zuließen. In den vergangenen 5 Jahren hatte sie gelernt, ihre Gesichtszüge zu beherrschen, und so sah sie ihn neutral, fast völlig ausdruckslos an.

„Du bist zurück, gut. Ich werde es nicht mehr dulden, dass du mich einsperrst, Tobias. Gib mir bitte sofort den Schlüssel zurück.“

Das leichte Zittern in der Stimme verriet ihre Angst, aber sie wusste, dass sie das hier nun zu Ende bringen musste, und so blieb sie weiterhin nach außen hin gelassen.

Sein augenblickliches Losbrüllen ließ sie zusammenzucken, aber sie wich seinem Blick nicht aus, nicht während er schrie und auch nicht nachher.

„Was bildest du Schlampe dir eigentlich ein? Jahrelang war ich dir gut genug, und nur weil du irgend so einen Arsch gefunden hast, der dich besser rannimmt als ich, wirst du auf keinen Fall hier die Biege machen, das schmink dir mal gleich ab! DU BLEIBST HIER, VERSTANDEN?“

Ruhig sah Marie zu dem Mann hinüber, von dem sie einmal geglaubt hatte, dass sie mit ihm alt werden könnte. Sie sah den Schweißfilm auf seiner Stirn, nahm die Rage wahr, in die er sich geredet hatte, roch die Alkoholfahne und wusste, dass es eigentlich keinen Sinn hatte, weiter zu reden.

Dennoch war sie nicht gewillt, sich das noch weiter gefallen zu lassen. So ging das nicht mehr. Der Bruch war eh schon da, also wollte sie nun endlich reinen Tisch machen.

„Du kannst mich nicht ewig einsperren, Tobias. Was willst du tun? Die Tür verriegeln? Dann rufe ich den Schlüsseldienst oder noch besser die Polizei. Das Telefon abklemmen? Dann reiße ich die Fenster auf und rufe um Hilfe. Die Fenster versperren? Ich schmeiße eins ein, verlass dich darauf. Du könntest mich fesseln und knebeln, aber irgendwann werde sogar ich vermisst – und dann? Ich will gehen, Tobias. Lass mich in Frieden gehen – oder nimm den Krieg auf. Du wirst ihn verlieren.“

Sie stand auf, mit zitternden Knien, aber bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Resolut streckte sie die Hand aus: „Und nun: Den Schlüssel, bitte!“

Tobias’ Blick sprach Bände.

Während ihrer kleinen Ansprache war ihm ein Licht aufgegangen: Sie hatte Recht.

Sie konnte die ganze Bandbreite seiner Gefühle auf seinem Gesicht Revue passieren sehen: Fassungslosigkeit, weil sie noch nie so bestimmt mit ihm gesprochen hatte, Wut, weil sie sich das herausnahm, Erschrecken, als er merkte, dass ihre Ausführungen völlig richtig waren und Hass – weil sie Recht hatte und er nichts, aber auch gar nichts tun konnte…

Marie schauderte es, und sie betete innerlich zu allen guten Geistern, dass er zur Vernunft kommen würde. Er war ein gutes Stück größer als sie, wesentlich breiter und sein Körper war gestählt und muskulös. Auf sein Aussehen hatte er immer geachtet, darauf und auf seine körperliche Fitness.

Würde er gewalttätig, hätte sie ihm nichts entgegenzusetzen.

Sie wusste, sie hätte Luca als unterstützendes Argument bringen können, aber davon sah sie ab, um sein Augenmerk nicht auf ihn zu lenken. Tobias brächte es fertig und würde den Jungen dazu nutzen, sie zu erpressen, und dann hätte sie keine Chance, das war ihr klar.

All das ging ihr durch den Kopf, während sie darauf wartete, dass er endlich reagierte.

Abschätzend sah er sie an, und sie verwischte innerlich ihre Gedanken, bemühte sich, nur ihn anzusehen, ausdruckslos, was ihre Gefühle anging und dennoch selbstbewusst und fordernd, sie warf ihre ganze Sicherheit in die Waagschale, dass er den Wahrheitsgehalt ihrer Ausführungen erkannte und sich diesem unterwarf.

Das Unglaubliche geschah: Ihr Gatte sackte in sich zusammen und warf ihr resignierend die Schlüssel zu. „Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist, Marie – was mit DIR los ist… Was ist uns geschehen? Lass uns doch in Ruhe miteinander reden, ich will nicht dass du gehst, bitte, setz dich wieder hin und dann reden wir, ok? Ich reiß mich auch zusammen, das ist versprochen!“

Marie sah ihn an, prüfend.

Sie glaubte ihm kein Wort, bis auf dass er sie nicht gehen lassen wollte und dass er nicht verstanden hatte, was in ihr vorging. Das hatte er nie, aber in den Anfängen hatte er das faszinierend gefunden, dann mit Nachsicht belächelt – bis es am Ende in Sarkasmus und Ungeduld umgeschlagen war.

Er schaute zurück, bittend, und warum auch immer – sie glaubte ihm.

Seufzend ließ sie sich am Esstisch nieder, bemüht darum, die räumliche Distanz zwischen ihnen zu wahren.

„Es wird nicht helfen, Tobias. Ich habe in den vergangenen Monaten immer wieder versucht, dich zum Reden zu bewegen, habe dir signalisiert, dass wir auf eine Sackgasse zugehen – aber du hast das alles als Vorwürfe und Hysterie beiseite gewischt, hast mir vorgehalten, dass ich nur um Aufmerksamkeit betteln würde, die mir nicht zusteht. Das allein hat mir gezeigt, dass sich deine Wahrnehmung mir gegenüber verschoben hat – und deine Ansicht über eine Partnerschaft kann ich nicht teilen. Wer, bitte benötigt in einer Beziehung keine Aufmerksamkeit?“

Sie holte Luft um fortzufahren, aber er fiel ihr ins Wort:
„Das war völlig klar, dass so was kommt… du bist so verlogen und ein Miststück! Ich kümmer mich jahrelang um deinen missratenen Sohn und versuch einen anständigen Kerl aus ihm zu machen, und du jammerst rum, weil ich mich nicht um dich kümmern würde… Wer will denn nicht mehr mit mir schlafen? Du lehnst doch jede Zärtlichkeit von mir ab! Wahrscheinlich hast du einfach genug andere Kerle, die es dir anständig besorgen…“

„STOP!!“

Sie fuhr ihn an, wütend, verletzt, enttäuscht über sich selbst, weil sie geglaubt hatte, mit ihm reden zu können. Aber das wollte er ja nicht, und sie… eigentlich auch nicht.

„Wir werden das Gespräch nun beenden, das führt doch zu nichts. Ich werde heute Nacht im Wohnzimmer auf der Couch schlafen, und sobald ich eine neue Wohnung habe, werden wir ausziehen. Ich hoffe, das ist okay für dich. Wenn nicht, werde ich eine andere Lösung finden.“

Marie stand auf und nahm den Schlüssel in die Hand, schickte sich an das Esszimmer zu verlassen. Sie hoffte, dass er akzeptierte, dass sie das Gespräch einfach beendete.

Es eskalierte gerade, das merkte sie, und wenn er nun weiter auftrumpfen würde, würde sich eine Katastrophe anbahnen. Daher wandte sie sich um und ging zügig zur Tür.

Mit drei schnellen Schritten war er bei ihr, riss sie herum und schüttelte sie durch: „So einfach kommst du mir nicht davon! Du wirst mich hier nicht stehen lassen wie einen dummen Jungen! Ich lass mich doch nicht von Dir als Hotel benutzen, wenn, dann verschwinde gleich!“

Sie riss sich los, und starrte ihn böse an. Ein Schwindel überkam sie, und sie wusste, dass das nichts Gutes bedeutete. Sie lief hinaus, in die Küche und ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen, tupfte sich damit über die Schläfen.

Wenn sie nun auch noch losbrüllte, wäre niemandem geholfen. Ruhe musste sie bewahren, die Kontrolle behalten, sonst wäre nichts mehr sicher heute Abend, das wusste sie.
Mit fahrigen Händen begann sie, die gespülten und zum trocknen aufgestellten Pfannen und Töpfe wegzuräumen, in der Hoffnung, durch diese Ordnung wieder Struktur in ihr Denken zu legen.

Doch es war noch nicht vorbei.

Die Tür knallte auf und er stürmte in den Raum, mit wildem Blick auf sie zu. Drohend erhob sie die schwere gusseiserne Pfanne, die sie gerade in der Hand hielt.

„Komm mir nicht zu nahe, ich schwöre es, ich schlage zu!“ fuhr sie ihn an, aber er schien ihr gar nicht zuzuhören und schnitt ihr brüllend das Wort ab:

„Du dreckiges Miststück! Wer glaubst du, wer du bist? Mich lässt man..“

Sie machte ihre Drohung war.

Mit erhobenen Fäusten war er auf sie losgegangen, hatte zu einem Faustschlag ausgeholt – und sie schlug zu.

So fest sie konnte schlug sie zu, mitten in seine Worte, mitten in diesen Schlag hinein.

Der Aufprall auf seinem Kopf stoppte ihn, er klappte mit einem Aufstöhnen zusammen und lag vor ihr auf dem Boden. Blut spritzte aus einer Platzwunde, und sie brach in Tränen aus, entsetzt über sich und darüber, was hier gerade geschah. Sie hörte ihn röcheln. Gut, er atmete noch, also stellte sie die Pfanne zur Seite und lief im größtmöglichen Bogen um ihn herum, hinaus aus der Küche.

Luca stand in seiner Zimmertür und starrte sie an, die Angst schrie aus seinen Augen und verwandelte sich augenblicklich in Erleichterung, als er sie sah.

Schnell nahm sie ihn in ihre Arme, strich ihm beruhigend über den Kopf: „Schhhht… Alles in Ordnung, mir geht es gut… Wir gehen jetzt sofort. Ziehe bitte schnell deine Jacke an und nimm den Rucksack mit, den Beutel binde ich mir um, gib ihn mir. … So ists gut, mach schnell aber werde nicht hektisch, wir haben nicht viel Zeit, ich weiß nicht, wann er wieder aufwacht. Bist du fertig? Gut. Ich erkläre dir alles, wenn wir hier raus sind, aber nun erst mal los.“

Ihr Sohn hatte schweigend ihre Anweisungen befolgt, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd.

Marie machte sich große Vorwürfe.

Warum hatte sie die Zeichen nicht eher erkannt? Der arme Kerl musste das alles miterleben, und nun schon zum zweiten Mal.

Schon der Terror seines Vaters war bestürzend für den Jungen gewesen, ein Mann, der nie akzeptierten konnte, dass sie ihn verlassen hatte und daher seinen ganzen Hass über sie bei ihm auskippte, sie schlecht machte wo es nur ging – ihn aber gleichzeitig immer wieder hängen ließ, wenn es um Besuchstermine ging.

Als er merkte, dass seine Taktik nicht aufging, schickte er Marie in unregelmäßigen Abständen Schläger auf den Hals, die sie einschüchtern sollten. Nie hatte sie Beweise, nur ein kleines Kind war Zeuge, wenn diese Typen aufkreuzten und ihr auflauerten, Drohungen ausstießen und sie bedrängten.

Getan hatten sie nie etwas – dazu waren sie zu schlau, aber die Angst saß damals – wie heute auch wieder – in ihrer beider Nacken.

Als er fertig war, schnappte sich Marie ihre Jacke und zog Luca aus der Wohnung. Sie sperrte hinter sich ab und ließ den Schlüssel stecken, eine Maßnahme, um ihn aufzuhalten, sollte er nun schneller als erhofft wieder aufwachen.

Schnell liefen sie die Treppen hinunter, nur mit dem Nötigsten bepackt, damit sie sich leichter bewegen konnten. Die nächste U-Bahnstation war einige Straßen weiter, und sie mussten sich sputen.

Das laute, wütende Brüllen ließ sie an einen verwundeten Stier denken, als sie es erschrocken vernahm. Also hatte sie richtig vermutet, er war schon wieder bei Bewusstsein, verdammt!

„Los, lauf Luca, um die nächste Ecke herum, er darf nicht wissen, in welche Richtung wir gegangen sind!“

Sie nahm ihren völlig verängstigten Sohn bei der Hand, begann zu rennen und zerrte ihn mit. Er stolperte, ein Schuhband war aufgegangen, und Marie heulte innerlich auf ob dieser Verzögerung. Sie kniete nieder, machte eine Doppelschleife, weil seine Hände zu fahrig waren – er bekam es nicht hin und schluchzte leise. Mutter und Sohn umarmten sich ganz kurz, sie strich ihn noch einmal flüchtig, in tröstender Geste über das Haar und zog in dann hoch. Endlich konnten sie weiter, und so rannten sie mit wehenden Jacken um die nächste Ecke.

„Da vorn,“ sie schnaufte und hielt sich die Seite, „an der Ampel müssen wir rüber auf die andere Seite, schaffst du das bis dahin? Vielleicht bekommen wir da ein Taxi.“

„Aber aber aber – das ist doch zu teuer sagst du immer…“

Marie fuhr ihm über den Mund. „In so einer Situation ist mir das völlig egal, los komm, Diskussionen kosten nur Zeit…“

Und wieder liefen sie, eilten mit großer Hast auf diese Ampel zu, in der Hoffnung, dass sie ihre Spur verwischen konnten, als sie ein lauthalses Schreien ins Stocken geraten ließ:

„Haltet sie… Haltet die Frau da, sie hat mein Kind!“

Ein paar Fußgänger starrten sie an, zweifelnd. Sahen zu ihrem Sohn, der sich an ihre Hand klammerte.

Keine Zeit für Erklärungen, sie mussten weiter, also sah sie bittend zu den Passanten, hielt aber nicht inne.

„Er… ist nicht… der Vater“ keuchte sie ihnen noch zu, „bitte.. aufhalten“, und rannte weiter.

Der große Platz war keine Option mehr, das war ihr klar. Also rüber auf die andere Seite und dann um die Ecke, dort in den nächsten Hinterhof.

Luca wollte stehen bleiben, er verstand nicht so gleich, was los war.

Wütend zischte sie ihm zu: „Komm schon… hier nicht.. ich erklär dir das alles später“, und sie zog ihn unerbittlich weiter.

In ihrer Erinnerung war auf dem Innenhof ein kleiner Zaun, der zwei Höfe voneinander trennte. Dort wollte sie hinüber klettern, denn im nächsten Hof gab es einen Hinterausgang, der in einer kleinen Gasse endete.Wenn sie sich dort leise entlang bewegten, würden sie sich am Ende der Gasse auf eine der belebten Einkaufsstraßen wiederfinden, die zur U-Bahnstation führte.

Erst einmal raus aus diesem Stadtteil, weg von hier – und dann mit dem Zug weiter, in irgend eine unbekannte Stadt, das war ihr Ziel, das sie nun kurzfristig ins Auge gefasst hatte. Tobias kannte hier zwar viele Menschen, von denen einige sie auch sicher an ihn verraten würden, aber die Stadt selbst war ihm fremd, das wusste sie. Er ging ja selten zu Fuß, wenn er seine Freunde besuchte.
Endlich waren sie an dem kleinen Zaun angelangt. Ihre Erinnerung hatte sie im Stich gelassen, denn so klein sah der in diesem Moment gar nicht mehr aus, jetzt, da sie davor standen.

Hektisch sah sie sich um. Etwas davor stellen um hinüber zu klettern ging nicht, das hätte sofort auf ihren Weg aufmerksam gemacht. Sie musste damit rechnen, dass irgendwer seinen Lügen glauben schenkte und ihm zeigte, wo sie entlang gelaufen waren. Schritte wurden auf der Straße laut, sie geriet in Panik.

Zu früh, viel zu früh…

Endlich hatte sie den rettenden Einfall: Schnell zerrte sie die Papiermüll-Tonne vor den Zaun und zog ihren Sohn dann unter den schmalen Spalt eines tiefhängenden Balkons. Sie hielt ihn fest im Arm, wickelte ihre dunkle Jacke, so weit es ging, um sie beide und streichelte ihn beruhigend.

Leise hauchte sie ihm beruhigende Worte zu: „Schhh…. Schhh… es wird alles gut, glaubs mir. Alles wird gut, nun nur nicht weinen, ganz ruhig jetzt, schhh…“
Die Schritte entfernten sich, ließen die Einfahrt links liegen. Was nun? War er es gewesen und schaute nun in den nächsten Innenhof? Oder war da jemand anderes die Straße entlang gelaufen?

Marie fühlte, dass sie im Moment in einer Sackgasse übelster Art steckte. Ihr Plan war gescheitert, den Weg, den sie sich ausgemalt hatte, konnten sie nicht gehen. Hinaus konnten sie aber auch nicht, solange sie nicht sicher waren, dass er, Tobias, fort war.

„Ich hab Angst..“

Luca begann zu wimmern, und sie wusste, dass sie irgendetwas tun musste. Im Moment waren sie hier recht gut versteckt, aber durch die Atempause begann natürlich nicht nur bei ihr wieder das Gehirn zu arbeiten, und so wurde Luca bewusst, was alles passieren konnte.

Sie zog ihren Sohn noch näher an sich, brummte ihm eine beruhigende Melodie vor, leise, fast tonlos, und nur die Vibrationen ihres Oberkörpers gaben einen tröstenden Strom an ihn ab, und er wurde langsam ruhiger. Still warteten sie ab, lauschten in die mittlerweile tiefdunkle Nacht, auf Schritte, die nicht kommen wollten. Die Atmung ihres Sohnes verlangsamte sich und Marie merkte, dass sich der ganze Körper entspannte, er war im Begriff einzuschlafen. Das ging nun nicht, und sanft sprach sie auf ihn ein, fragte ihn nach der Schule, nach dem letzten Buch, das er gelesen hatte, um ihn wachzuhalten.

„Marie…..“ Von der Toreinfahrt kam ein säuselnder, lockender Ton. „Ich weiß, dass du hier bist…“

Die Schritte waren kaum hörbar, der Mistkerl hatte seine Sportschuhe angezogen.

„Komm raus, du Miststück, ich weiß, dass du hier steckst.“ Der Ton wurde hart, und Marie begann zu zittern.

Jetzt galt es, die Nerven zu bewahren. Luca wurde stocksteif in ihren Armen, und unwillkürlich drückte sie ihn an sich, fest und beschützend. Der Junge nahm augenblicklich wahr, dass nun absolute Stille geboten war und unterdrückte sein Schluchzen.

Die Schritte kamen näher, und durch den Spalt zwischen Erde und Balkon konnte sie seine Beine sehen, wie sie zu dem Zaun gingen, zu dem sie die Tonne gezerrt hatte. Nun kam es darauf an.

Würde er glauben, dass sie über den Zaun geklettert waren? Sie beobachtete ihn, seine Füße, die dort standen, sich nach oben reckten, vernahm ein verhaltenes Fluchen.

„Verdammt, diese Schlampe ist verflucht fix…“

Sie sah Beine, die sich beugten, Schwung nahmen, sich abdrückten vom Boden. Die Tonne kippelte, aber offensichtlich hielt sie stand, trug seinen Körper.

„Die wird doch nicht…“

Ein knirschender Aufprall verriet, dass er gesprungen war, ob über den Zaun oder nur auf die andere Seite der Papiermüll-Tonne, wagte Marie nicht zu vermuten.

Still liegend und flach atmend warteten die beiden ab, lauschten weiter in die Nacht.

Eilige Schritte erklangen, zu sehen war nichts.

Da… die Hinterhoftür quietschte rost- und wetterbedingt in ihren Angeln, dann klappte die Tür zu, und sie hörten nur noch ein murmelndes vor sich hinfluchen, das sich langsam aber stet entfernte.

Als die Stille wieder vollkommen war, raffte Marie sich auf. Sie krabbelte aus ihrem Versteck, gleich gefolgt von ihrem Sohn, der mittlerweile vor Angst und Kälte zitterte.

Die Erschöpfung war ihm anzusehen. Es half nichts, sie mussten zusehen, dass sie weiterkamen.

Die U-Bahnstation war gestrichen, er würde sie kennen.

Polizei ging auch nicht, niemand würde ihr glauben.

Nele? Würde Nele helfen oder sie verraten? Zu unsicher.

Also doch der Hubertusplatz, dort gab es einen Taxistand, und kleine Cafés, in denen sie sich unauffällig verstecken konnten, aufwärmen, falls dort kein Taxi wartete.

Doch halt… diese Cafés, in denen war ihr Gatte zu Hause, sie würde dort auffallen wie ein bunter Hund.

Langsam, vorsichtig liefen die beiden dunklen Gestalten aus dem Hinterhof, Marie prüfte ständig, ob die Luft wirklich rein war. Sie wandte sich nach rechts, entgegengesetzt der Richtung, in der sich die Flüche verloren hatten.

Der Hubertusplatz kam ihr auf einmal nicht ausreichend sicher vor, selbst bei den Taxen war sie unsicher, ob es gut war eines zu benutzen. Lieber lief sie den ganzen Weg bis zum Bahnhof, und wenn es die ganze Nacht dauern würde.

Doch sie hatten Glück.

Ein Stück die Straße herauf war eine Bushaltestelle, und am Ende der Straße sah sie, wie ein Bus langsam herauf fuhr.

Gut, dann würde es der Bus sein, eine profane, unerwartete Lösung, die er nie in Betracht ziehen würde.

Die Richtung war zwar nicht korrekt, er fuhr vom Bahnhof weg, aber nach kurzem Zögern fand Marie das noch besser, denn dort würde er sie vermuten, an der U-Bahnstation, am Bahnhof – aber sicher nicht in der benachbarten Stadt.

Luca erklomm den Bus und setzte sich ganz hinten hin, aber in ihrer Vorsicht holte sie ihn nach ganz vorne. Hinter dem Busfahrer, dort wollte sie sitzen, so dass sie die Fahrerkabine als Sichtschutz hatten.

Dann lehnte sie sich zurück. Zeit, ihre nächsten Schritte zu überdenken.

Wo sollten sie hin?

Ihr Sohn kuschelte sich an sie und fragte sie genau das: „Und nun? Was hast Du vor, Mama?“

Sie erklärte es ihm gern.

„Tobias wird die U-Bahnstation nach uns absuchen, den Bahnhof, wenn es sein muss. Irgendwann wird ihm kalt werden und er wird vorerst die Sache aufgeben. Bis dahin sind wir schon lange in Weingarten, dort gibt es einen kleinen Bahnhof. Der erstbeste Zug, der in die entgegengesetzte Fahrtrichtung fährt, wird der unsere sein. Wo wir landen werden? Keine Ahnung. Wir fahren erst mal drauf los, und dann sehen wir weiter. Im Zug sind wir sicher, und je weiter weg von ihm – desto besser.“

Sie unterhielten sich leise, damit die Geräusche des Busses ihre Stimmen übertönten: Was sie besprachen, ging keinen etwas an. Das Abenteuercamp in der Schweiz war natürlich nicht mehr drin für Luca, und er war ziemlich traurig, dass er sich nicht von seinen Freunden verabschieden konnte.

Ihren Arbeitgeber musste sie informieren, aber das würde sie über einen Anwalt machen, ihre neue Anschrift würde niemand aus der Vergangenheit bekommen.

Sie würden auch nicht in die Berge ziehen, wie er sicher vermuten würde.

All das war Gegenstand ihrer Unterhaltung, und in der Zeit, in der sie der Bus gemütlich über Land zur nächsten Stadt brachte, erholten sich zwei Menschen von der Todesangst, die sie in dieser Nacht gehabt hatten.

Das Glück war ihnen weiter hold, denn am Bahnhof angelangt, konnten sie sofort in einen Zug steigen, der gerade im Begriff war, abzufahren. Marie erklärte dem Zugbegleiter, warum sie nicht außerhalb das Ticket hatte lösen können und kaufte bei ihm zwei Fahrkarten.

„Wohin solls denn gehen, junge Frau?“ fragte der Schaffner, um Freundlichkeit bemüht.

Spontan wollte sie „In eine bessere Zukunft“ antworten, aber sie wollte ihn nicht überfordern und nannte ihm die Endstation als Ziel.

Ob sie dort oder eher aussteigen, noch einmal umsteigen würden, wusste sie noch nicht. Warum aber den Mann dort verunsichern?

Schlussendlich fuhr der Zug, und das war wichtig: Sie hatten es geschafft, waren ihm entkommen, diesem Mann, der so lange zu ihnen zu gehören schien und sich dann als Lebensgefahr herausstellte.

Sie saßen in einem der Großraumwagen, hatten einen dieser Vierersitze für sich allein.

„Ich würde gerne mal ICE fahren,“ bemerkte Luca, völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Er war müde, die Anspannung hatte ihn losgelassen und dafür gesorgt, dass er nun kaum noch aufrecht sitzen konnte.
„O.K., Luca, dann machen wir das gleich im Anschluss. Wo soll es denn hingehen?“

„Freiburg“ kam es wie aus der Pistole geschossen.

Ihr Sohn hatte ein gutes Gedächtnis, dass sie gerne in Freiburg leben wollte, hatte sie vor langer Zeit mal öfter erwähnt.

Marie sah ihn ernst an.

„Ich hoffe, dass du nicht allzu traurig bist über das verpasste Abenteuercamp, mein Schatz…“

Da lachte der Junge auf einmal auf. „Abenteuercamp? Nein, Mama, nach dieser Nacht habe ich für lange Zeit von Abenteuern genug…“

Und sie stimmte ein in sein Lachen, das so herrlich nach Ende und Neubeginn klang.

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