Sie saßen dort, schweigend, und hörten ihm zu. Hörten diesem alten Mann zu, der sich nicht mehr in dieser Welt zurechtfand. Hörten, wie er von der Einsamkeit sprach, die ihn als Einzige ständig begleitete, ihm aber nicht half, wenn er Schmerzen bekam, wenn ihn die Angst überfiel. Dann stand diese Einsamkeit da und zeigte ihm gnadenlos, wie tief er schon in ihr versunken war, verschlungen von ihr, eingewebt in ihr Netz.
„Ich könnte spazieren gehen“, sagte er, unsicher. Und er lächelte auf diese kurze Art, als sei dieses nach oben verziehen der Mundwinkel ein völlig unbekannter Akt für ihn. Befremdlich. Nicht zu ihm gehörend.
Aufmunternd nickten sie ihm zu. Der Wald wäre doch das, wo er sich so wohl fühlen würde.
„Nur die Schmerzen…“
Er murmelte etwas von Angst, dass ihn Schmerzanfälle mitten im Wald überfallen könnten. Wenn er dort allein war und niemand in der Nähe, der ihm helfen könnte. Den er helfen lassen würde.
Und mit dem Schmerz kam die Angst. Die Panik.
„Wir könnten zusammen gehen.“
Vorsichtig, beinahe verlegen kam ihm die Stimme vor, die da von der gegenüberliegenden Seite zu ihm drang.
Erstaunt sah er auf. Zweifelnd. Hatte er richtig gehört?
Doch da sprach sie schon weiter, diese Stimme, die zu der Frau gegenüber passte. Die, die schon öfter mit ihm gesprochen hatte. Klein war sie, rundlich. Selten persönlich, eher distanziert. Aber sie hatte ein freundliches Gesicht, lachte viel und verstand wenigstens ansatzweise, was ihn ihm vorging.
„Ich sollte auch mal öfter an die frische Luft, aber ich kann mich nicht aufraffen. Vielleicht, wenn wir beide uns gegenseitig ein wenig antreiben…“ ihre Stimme verlor sich, unsicher irrte ihr Blick von ihm zu den anderen, die erstaunt zu ihr schauten.
„Naja… wenn dann was ist, kann ich Hilfe holen“, schloss sie lahm.
Und senkte den Blick.
Er sah sich um, sah, wie die anderen in der Runde versuchten, ihre Überraschung zu überwinden. Wie sie anfingen zu spekulieren. Grade sie. Sie, die sonst jeden auf Abstand hielt.
Oh, sie war freundlich, natürlich. Und sie beteiligte sich an den Unterhaltungen, auch klar.
Aber mehr als das schien nicht bei ihr drin. Ein paar seiner Kollegen hatten sie schon angesprochen, wollten sie noch auf einen Kaffee einladen, sie ins Kino mitnehmen. Immer hatte sie höflich abgelehnt und schnell das Thema gewechselt.
Und nun bot sie sich vor allen anderen an, mit ihm einen Spaziergang zu machen. Was zum Teufel hatte sie da geritten? Er sah förmlich die Gedanken von den anderen, sah, dass sie selbst auch anfing zu zweifeln. Es war ihr sichtlich peinlich, dass sie sich so zur Schau gestellt hatte.
Sie tat ihm leid. Da saß sie nun, überwand sich, ihm zuliebe. Oder warum auch immer. Aber sie hatte einen Schritt nach vorn gemacht. Und ausgerechnet auf ihn zu. Er musste etwas sagen. Sie erlösen, möglichst so, dass sie sich noch aus der Affaire ziehen konnte, aber auch so, dass sie sich nicht vor allen anderen zurückgestoßen fühlte.
„Ja“, sagte er. „Das könnten wir.“
Und diesmal fühlte sich sein Lächeln nicht mehr ganz so fremd an.
Von nun an unterhielten sie sich häufiger. Sie nötigte ihn, in den Pausen bei Spielen mitzumachen, Spielen, die er zwar verstand, in denen er gut war, besser noch als alle anderen, aber deren Sinn er nicht verstand.
„Sieh es so“, grinste sie ihn dann an. „Das ist eine Art kognitives Training, und das brauchst du doch, sagtest du.“ Und so bot sie ihm eine Möglichkeit mitzumachen. Sich nicht mehr so von allem ausgeschlossen zu sehen.
Und wenn er dann gewann, war er sogar ein bisschen stolz.
Irgendwann gestand er ihr, dass er Angst hatte, wenn er durch die Stadt gehen musste. Der Beton, der die Natur gänzlich bedeckte, machte ihn fast panisch, und er hatte Mühe heil zu seinem Parkplatz zu kommen. Dann schloss er mit zitternden Händen den Wagen auf, ließ sich schwer atmend in den Sitz fallen und zerrte mit letzter Kraft die Türe hinter sich zu.
„Wie hast Du es denn bist jetzt geschafft?“ fragte sie, völlig sachlich. Oh ja, sie wusste, dass jedes Erstaunen, jedes Mitleid, jeder Zweifel nur dazu geführt hätten, dass er sich wieder verschloss. Und doch erschrak er innerlich, dass sie ihn schon so gut kannte. Was hatte er alles schon preisgegeben? Ihre gelassene Art half ihm. Er erzählte von dem Kollegen, der bisher mitgegangen war. Der nun aber versetzt wurde. Und er musste von nun an wieder allein gehen.
„Das trifft sich gut“, meinte sie. „ich habe gehört, dass Du durch meinen Ort fährst, wenn Du heimfährst. Lass uns einen Deal machen: Ich gehe mit Dir zum Parkplatz, und Du holst mich ab und bringst mich heim.“ Grinsend sah sie ihn an. „Dann haben wir beide was davon.“
Und so hielt er von nun an jeden Morgen vor ihrem Haus, wartete, bis sie einstieg, sich anschnallte und ihm fröhlich einen guten Morgen wünschte. Dann fuhren sie los, und die Stadt verlor an Grauen.
So verliefen die nächsten Wochen. Er holte sie ab, sie begleitete ihn vom Parkplatz zur Firma und wieder zurück, er fuhr sie heim. Einmal in der Woche gingen sie spazieren, und er zeigte ihr die Wälder der Umgebung. Sie sammelten Pilze, unterhielten sich, lachten viel, und er erzählte ihr immer mehr von sich. Von seinem Leben. Von seinen Ängsten. Seiner Panik. Von seiner Verzweiflung über den Zustand der Welt, von der Verzweiflung darüber, dass er sie nicht ändern konnte, dass er noch nicht einmal gewusst hätte, wie er sie hätte ändern wollen, würde er es können.
Und sie hörte zu. Erklärte ihm ihre Sicht der Dinge. Die war so viel klarer als seine. Auf alles schien sie eine Antwort zu haben, aber nicht besserwisserisch, nein, das hätte ihn gleich ungeduldig gemacht, und er hätte den Kontakt abgebrochen.
Manchmal erzählte sie auch etwas von ihrem Leben. Nicht oft, eigentlich nur, wenn sie ihm etwas verdeutlichen wollte. Wie allein sie war, durch ihre Distanziertheit. Dass sie das eigentlich gar nicht wollte, aber nie wusste, wie sie das ändern konnte. Dann, einmal, lächelte sie plötzlich und meinte erstaunt: „Aber ich ändere ja gerade was daran. Ich lasse Dich nahe kommen.“
Er hielt die Luft an, unwillkürlich. Sie ließ ihn näher kommen? Diese kleine, immer fern bleibend wirkende Frau, die keine Freunde hatte, keinen Geliebten, keine Familie – diese Frau hatte gerade ihn ausgewählt als…
Ja, als was?
Er überlegte noch, als ihre nächsten Worte zu ihm durchdrangen:
„…werden wir Freunde, und das wäre gar nicht mal so übel.“
Spontan legte er ihr eine Hand auf den Arm, strahlte übers ganze Gesicht. Kurz, ganz kurz nur, aber es fühlte sich gut an.
Zu gut.
Als sie weitergingen, entfernte sich ihre Stimme, er nahm die Worte nicht mehr wahr, die sie vor sich hin plauderte, und eine Woge der Angst überzog ihn. Er wusste nicht, wie er es schaffte, die Füße voreinander zu setzen, sich nichts anmerken zu lassen. Um keinen Fall wollte er sie erschrecken, verschrecken.
Und doch platzte er auf einmal heraus: „Entschuldige, ich habe nichts von dem verstanden, was Du gesagt hast. Ich habe eine Panikattacke.“
Sie sah zu ihm auf. Prüfend. Sachlich. Distanziert. Und sie checkte genau ab, was sie tun könnte.
„Soll ich es noch einmal erzählen?“
Ja. Heftig nickte er, keiner Worte mehr fähig. Ihre Stimme tat gut, gab ihm das Gefühl, dass er nicht allein war mit dieser verdammten Angst, und langsam, aber sicher zog sich die Angst zurück, überließ ihn wieder sich selbst.
Am Auto angekommen, redeten sie lange darüber. Sie machte Vorschläge, wie er der Panik entgegentreten konnte. Er erzählte ihr, wie es war, wenn die Angst ihn packte und nicht mehr losließ. Erst als es dunkel wurde, fuhr er sie heim. Verlegen, weil er sie so lange in Anspruch genommen hatte. Ängstlich, weil er nicht wusste, ob sie sich nun nicht von ihm abwenden würde.
Vor ihrem Haus lächelte sie ihn an: „Schönen Abend noch, bis morgen.“ Eine Feststellung. Keine Frage. Einfach nur ein Gruß, der ihm sagte: Sie wendet sich nicht ab. Und ihr macht das alles nichts aus. Zuversichtlich fuhr er heim, und erst langsam wurde ihm klar, was das war, Zuversicht.
Zuversicht. Zukunft. Die Sicht auf die Zukunft. Es war eine gute Sicht.
Der einzige Wermutstropfen für ihn war: Er erzählte. So viel. Sie hörte zu, gab ihre Meinung dazu, erklärte, stritt sogar mit ihm. Nur von sich erzählte sie kaum etwas.
Er hakte nicht nach, zu groß die Angst davor, dass sie sich dann zurückziehen würde. Und es folgte ein weiterer Moment, in dem sie ihm etwas von sich erzählte. Einen Freund wolle sie treffen, daher könne sie am Wochenende nicht mit ihm spazieren gehen.
„Ich dachte, Du hast keine Freunde?“ Er platzte einfach so damit heraus, und sie wurde rot. Sie lief tatsächlich rot an, nicht aber ertappt, sondern… aufgeregt, beinahe glücklich. Sie habe da jemanden kennen gelernt, sagte sie. Aus einer anderen Filiale. Er war bei einer überregionalen Konferenz da gewesen, und sie hatte die Gäste betreuen müssen. Der Kontakt zu ihm war geblieben, trotz der Entfernung. Weil sie sich mochten.
„Wir haben viel telefoniert, Mails geschrieben“, erklärte sie. „Und nun hat er mich eingeladen, da bei ihnen ein Fest stattfindet. Ein Stadtfest, von dem er meint, dass ich es sicher mögen würde.“
Da war noch mehr, dessen war er sich sicher. Aber er fragte nicht. Allein diese lange Erklärung war schon mehr als er bisher von ihrem Leben oder ihrer Arbeit erfahren hatte.
Sie schlug vor, dass sie den Spaziergang auf einen Wochentag verschoben, und er willigte ein. Gerne. Weil er wusste, dass ihm die Bewegung fehlen würde. Die Bewegung und sie.
Das Wochenende kam, und er lungerte in seiner Wohnung herum. Langweilte sich. Zog das Buch vor, das sie ihm geliehen hatte, blätterte darin, verfing sich in den Seiten und las. Es war ein gutes Buch, und es tröstete ihn, dass er zumindest etwas zu tun hatte. Und am nächsten Tag würden sie ja wieder zusammen spazieren gehen.
Pünktlich stand er da, wartete auf sie. Und sie sah zu ihm hinüber, als sie einstieg, grüßte ihn fröhlich, fragte ihn, wie es ihm ging. Er erzählte ihr von dem Buch, das er fast durchgelesen hatte, wie begeistert er von dem Inhalt war, welche Fragen in ihm aufkamen. Und sie hörte zu. Erklärte. Gab ihre Meinung ab. Konzentrierte sich ganz auf ihn.
Irgendwann brach er schuldbewusst ab. Fragte sie nach ihrem Wochenende.
Sie schwieg, sah zu Boden.
„Jule?“ Sanft sprach er sie an, fragend. Und als er sah, dass ihre Schultern zu beben begannen, hob er ihr Gesicht an, sah ihre Tränen, die Trauer, die Verletzung.
„Ach Helmut…“
Und dann brach es aus ihr heraus. Dass sie hingefahren war. Zu ihm. Wie sehr sie sich gefreut hatte. Wie aufgeregt sie gewesen war. Wie der Zug in den Bahnhof fuhr und sie schon am Fenster nach ihm Ausschau hielt. Es noch weiter tat, als sie auf dem Bahnsteig stand.
Fünf Minuten. Zehn. Zwanzig. Eine Stunde, zwei, drei. Sein Telefon war abgeschaltet, sie erreichte ihn nicht.
Irgendwann sah sie ein, dass er nicht kommen würde.
Sie fuhr heim, verkroch sich das ganze Wochenende. Durchweichte ihr Kissen mit ihren Tränen. Raffte sich auf, ging arbeiten, blieb freundlich, höflich, distanziert, diszipliniert.
Bis zu diesem Moment, als er sie nach ihrem Wochenende fragte.
Unbeholfen stand er dort, wusste nicht, was er tun sollte. Er sollte… ihr irgendwie das Gefühl geben, dass sie nicht allein war. Dass sie… na… genau: Dass sie einen Freund an ihrer Seite hatte.
Nur, wie verhielten sich Freunde in so einer Situation?
Er erinnerte sich vage an das, was er in Filmen des Öfteren gesehen hatte.
Und er nahm sie, ein wenig hölzern, in die Arme, strich ihr unbeholfen über den Rücken und ließ sie weinen.
So wie Freunde das eben tun.