Traumkind

Dunkelrot, fast schwarz schwamm die winzige Pfütze aus Tinte vor ihr in dem kleinen Glas.
Träumerisch tunkte sie einen Pinsel in die Flüssigkeit und begann zu malen.
Ein kleiner, dunkler Fleck erschien auf dem blütenweißen Papier. Er hätte eine beschmutzende Wirkung, würde nicht langsam und zögerlich die Form eines Herzens aus ihm entstehen. Ein zweites Herz entstand in geringem Abstand daneben, beide sahen schmerzhaft verzerrt aus, auf eine unwiederbringliche Art gebrochen.
Sorgsam fein gezogene Striche über und unter den Klecksen ließen den möglichen Zuschauer erahnen, dass es sich um Augen handeln sollte. Augen, die zuviel schon auf dieser Welt gesehen hatten.
In der gleichen trägen Trance zog sie nun den Pinsel über das Blatt und ließ aus ihm zusammengezogene Augenbrauen, Stirnfalten und einen Haaransatz fließen. Ein Gesicht formte sich, leer sah es aus, und dennoch voller Leid und Schmerzen. Eine dunkle Träne sammelte sich im inneren Augenwinkel, der Mund versuchte zu lächeln, doch die Falten um ihn herum zeigten, dass dies schon lange nicht mehr gelungen war.
Momentaufnahmen.
Das schweigend alte Gesichtchen eines Kindes, von dem sie heute Nacht geträumt hatte, gestern schon, und von dem sie morgen wieder träumen würde.
Sie wusste, um was für ein Kind es sich handelte. Es war in ihr, schon seit ewigen Zeiten, und monatelang schon versuchte sie, es zu malen. Aber es gelang ihr immer nur mit dieser speziellen Tinte. Traumtinte nannte sie sie, denn wenn sie mit ihr das Gesicht malte, dann träumte sie auch von dem Kind.
Nein, das war so nicht richtig, korrigierte sie ihre Gedanken.
Nur, wenn sie mit dieser Tinte zeichnete, dann konnte sie sich das Gesichtchen in seiner ganzen Qual erträumen, um es dann zu liebkosen und zu herzen, bis Frieden in diese Augen einzog und der leidende Glanz verschwand. Bis der Schweißfilm auf ihrer beider Haut durch erlösende Tränen fort gewaschen wurde.
Erlösung. Gab es die überhaupt? Für sie schien diese Option von Nacht zu Nacht wieder möglich, aber wenn der Morgen das Grauen wiederbrachte, verblasste mit der Dunkelheit auch die Hoffnung.
Nichts änderte sich.
Sie war immer noch gefangen, gefangen in ihrem eigenen Panzer, und der Stahlhelm, den sie als Schutz vor ihrer grausamen kleinen Welt aufgesetzt hatte, ließ ihre Gefühle nicht hinaus und gute Gedanken nicht hinein.
Und schon gar nicht die Erinnerungen. Die hingen fest, irgendwo hakten sie und wollten, durften nicht zu ihr und nicht nach außen. Da waren schlimme Sachen geschehen, irgendwann. Und sie war schuld, das wusste sie, das war das Einzige, was sich nicht hatte aufhalten lassen. Wie der Sauerstoff den Wald unter seinem Blätterdach mit Leben betränkte, so war auch diese Gewissheit in ihre Seele gedrungen, nur brauchte sie diese Gewissheit eigentlich nicht. Sie brachte auch kein Leben, nur Lähmung, und sie wollte sie gar nicht haben.
Aber dieses kleine hartnäckige Ding hatte ihr Gewissen infiltriert, und so wollte sie wenigstens an diesem kleinen, uralten Gesichtchen wieder gut machen, was sie an anderer Stelle so Schlimmes angerichtet haben musste.
Böse war sie, und sie wollte doch nichts anderes als gut sein.
So oft, zu oft hatten alle möglichen und unmöglichen Experten versucht, Löcher in ihre Seele zu bohren, sie anzuzapfen, Informationen abzugraben, wie dem Nachbarn in der Trockenzeit das Wasser. Was denn nur geschehen war, dass sie von dieser fixen Idee so beherrscht war, wollten sie erfahren. Warum immer dieses Kind, warum immer die Traumtinte?
Immer dann, wenn sie die Tinte beim Namen nennen wollten, hielt sie sich die Ohren zu, denn sonst würde die Magie verloren gehen, und sie könnte das Kind nicht mehr trösten, die Verbindung würde von ihr zu dem Gesicht unterbrochen.
Es wäre nur noch eine Einbahnstraße: Sie würde das Kind in all seinen Leiden sehen und könnte nichts mehr für es tun.
Sie wusste das ganz genau, denn so war es ja am Anfang gewesen, bis sie das Kind mit der Traumtinte hatte spielen sehen. Die Herstellung war ganz einfach gewesen, nachdem sie einmal gewusst hatte, wie sie es tun musste. Aber sie wusste auch, dass es nur klappte, bis man den Namen aussprach.
Das war wie bei den Wünschen beim Anblick einer Sternschnuppe. Erzählte man den Wunsch, trat genau das Gegenteil ein und man hatte sieben lange Jahre Pech.
Der Pinsel wurde wieder ins Glas getaucht, aber es war leer.
Der letzte Rest, mit dem sie nun zum ersten Mal den Versuch starten wollte, auch den Rest des Kindchens zu zeichnen, war vertrocknet.
Was nun? Neue Tinte herstellen? Oder es wieder einmal bleiben lassen?
In der vergangenen Nacht war sie aufgewacht, und mit ihr die Erkenntnis, dass das, was sie als Opfer bereit war, zu geben, nicht reichen würde. Sie müsste das Kind ganz zu Papier bringen, am Besten in drei Variationen:
Einmal, wie es war, als es sich zu erkennen gab: grau, verschwommen, völlig leer und verschwindend.
So wie es jetzt war, von ihrer Liebe durchtränkt, sehnsuchtsvoll die Arme nach besseren Zeiten ausstreckend.
Und zu guter Letzt so, wie sie es sich beide erträumten und erhofften: Fröhlich, die Narben und noch offenen Wunden mit einem glockenhellen Lachen bedeckend. Voller Hoffnung, dass bald schon ein Ende absehbar sein würde, ein Ende aller abgründigen Gedanken, der tiefdunklen Gefühle. Die Nacht, bislang der einzige Freund, würde nicht mehr zum Schutz benötigt werden, das Grauen des Morgens auf ein weißes, klares Nichts minimiert.
Ja, es stand schon fest, bevor sie ihre Überlegungen gestartet hatte: Sie musste, würde neue Traumtinte herstellen, und gleich im ausreichenden Maße, damit sie ihr Projekt durchziehen konnte. Sollte eine dieser Helfershelferinnen ihrer Kerkermeister dahinter kommen, würde die ihr nur Probleme bereiten, ihre Zeichnungen forttragen und sie und das Kind im Chaos der unvollendeten Heilung zurücklassen.
Ihr blieb nur die eine Chance, und sie war fest entschlossen, diese auch zu nutzen.
Sie holte ein größeres Glas aus dem Bad und die kleine Scherbe, die sie zum Abzapfen der Tinte benötigte, aus ihrem Sonderversteck hervor.
An der Unterseite des Regalbrettes in ihrem Kleiderschrank war das Werkzeug befestigt, mit allen Klebestreifen, die sie von der Verpackung des letzten Geburtstagsgeschenkes hatte abknibbeln können. Dort hatte noch nie jemand gesucht, und heimlich kicherte sie bei dem Gedanken, dass sie doch schlauer war als alle die, die sie immer wieder nach Narben absuchten, die das Werkzeug nicht fanden, das sie so dringend benötigte, um ihrem Traumkind beistehen zu können.
Niemand würde sie davon abbringen können, selbst wenn sie sich die Adern aufbeißen musste. Rasch überzeugte sie sich davon, dass die selbsternannten Wächterinnen ihrer körperlichen Unversehrtheit sie sich selbst überlassen würden, und richtig. Es war Pausenzeit im Wachzimmer, und nun würde nur ein Notruf eine der tumben, genussüchtigen Weiber von ihrem Stuhl hochfahren lassen.
Sie hatte Zeit, viel Zeit.
Der Schmerz der mittlerweile stumpfen Klinge zerrte mit scharfen Klauen an ihrem Nervenzentrum, aber sie hieß ihn willkommen, denn er schärfte ihre Sinne und hielt ihr Denken klar.
Viel zu langsam, Tropfen um Tropfen rann die Traumtinte aus der Zapfstelle, und in ihrer Ungeduld überlegte sie, dass ein Längsschnitt hier Abhilfe schaffen würde.
So würde zuviel Zeit in die Herstellung der Tinte fließen, und sie hätte nicht mehr ausreichend Gelegenheit zum Malen.
Alle Vorsicht außer Acht lassend, band sie nichts ab, sondern ritzte, sägte eifrig drauf los, bis auf einmal die Flüssigkeit in pulsierenden Stößen aus dem Handgelenk schoss. Schnell hielt sie das Glas darunter, eifrig darauf bedacht, nichts von dem kostbaren Saft auf den Teppich tropfen zu lassen.
Als das Glas voll war, begann sie mit ihrer Zeichnung. Sie malte und tuschte, ließ die drei Kinder, so wie sie vor ihrem inneren Auge sichtbar waren, auf dem Papier erscheinen.
Sie achtete schon nicht mehr auf die Flecken im Teppich, die immer größer wurden.
Ihre Bewegungen wurden wieder träger, und sie spürte dennoch mit jedem Pinselstrich, dass sie ihr Ziel erreichen würde: Sie und ihr Traumkind würden endlich das weiße Nichts erreichen.
Nur noch ein paar Striche, dann wäre es so weit.
Nicht mehr viel, sie war schon fast fertig…
Da fehlte noch eine kleine Falte…
Bald schon, wirklich bald…
Würden sie endlich…
einschlafen…
können…

Frieden…


fürs Kind…



für…




sie…

..
.

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