In der Dunkelheit

Im Grunde benötigte sie den prüfenden Blick nach draußen nicht, sie wusste stets, wann die Sonne wich und die Dunkelheit die Herrschaft übernahm. Dennoch sah sie aus dem Fenster. Es war Nacht, endlich.
Sie schlich durch die Wohnung, räumte ein paar Kleidungsstücke an den rechten Platz, bereitete für den Frühstückskaffee alles vor, ließ Rollläden herunter und zog die Vorhänge zu.
Als sie endlich der Ansicht war, dass sie alles für den heutigen Tag erledigt hatte, ging sie ins Bad. Nun begann der Teil, auf den sie schon seit Beginn des Morgens gewartet hatte. Frei von allen Verpflichtungen duschte sie ausgiebig den Mief des staubigen Alltags ab, föhnte ihr Haar und trocknete sich gründlich ab, bevor sie in die schon vor Tagen ausgesuchte Kleidung stieg.
Schwarz musste sie sein, so dunkel wie die Nacht, und kein glänzender Knopf durfte einen Lichtstrahl reflektieren. Das blasse Gesicht würde unter einer Skimaske verschwinden und die Augen schminkte sie komplett dunkel, so dass sie nicht im Kontrast zum Rest ihrer Gestalt standen. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte ein befriedigendes Ergebnis: Nur noch die Augen hätten sie verraten können, aber sie war gewohnt, den Blick zu senken.
Und so stand ein einziger schwarzer Fleck dort im Flur vor der Ankleide, wie ein Schatten, der von einer Gestalt, die eine kurze Entfernung weiter stand, geworfen wurde.
Lange betrachtete sie sich dort. Schweigend, nachdenklich. Wie schnell man doch sich selbst unsichtbar machen konnte…
Ihr fiel eine Szene aus der Verfilmung von Asterix und Cleopatra ein, in der die Geheimagentin sich nur durch Augen öffnen und schließen sicht- bzw. unsichtbar machen wollte. Das Kino stand damals Kopf vor Lachen, und sie selbst war eine von denen gewesen, die am Ende auf dem Heimweg sich immer wieder weg- und wieder zurückblinzelte.
In der darauffolgenden Nacht hatte sie dann Albträume, die vom absoluten Verschwinden handelten. Niemand nahm sie mehr war, und das nur, weil sie um Punkt 12 Uhr geblinzelt hatte.
Seither blinzelte sie selten.
Aber das Unsichtbarwerden hatte sie nicht losgelassen. Wie musste es sein, eins sein mit der Umwelt, verschmolzen zu einem Nichts, einem kaum erkennbaren Schemen, der höchstens das Auge irritierte, aber nicht an das Gehirn als Wahrnehmung weitergab…
Sie kannte solche Menschen. Graue Mäuse wurden sie gerne genannt, weil sie so in sich selbst zurückgezogen durch die Räume huschten, unauffällig ihre Arbeit erledigten und nie auffielen, weder positiv noch negativ. Ihr waren solche Menschen unheimlich. Nie konnte man sagen, worüber sie nachdachten, was sie fühlten; nie begannen sie von sich aus in einem Gespräch ein Thema. Es schien ihnen nichts einzufallen oder ihnen fehlte der Mut dazu. So zumindest stellte sie es sich vor, wenn ihr solche Menschen auffielen, die so dermaßen still und passiv waren, dass man sie erst auf den dritten oder vierten Blick wahrnahm.
Ihr schwebte eine andere Art Unsichtbarkeit vor, nicht so klein und abhängig vom Wohlwollen Anderer. Sie wollte sich in der Masse bewegen, am Leben teilnehmen und dennoch nicht gesehen werden, und so entwickelte sie Übungen, um sich mit der Umwelt zu verschmelzen.
Heute Abend stand die Idee hinter dieser Übung, sich schon von vorneherein als nicht sichtbar zu fühlen.
Versuchsweise schaltete sie das Flurlicht aus und ließ nur eine kleine Lampe im Bad brennen, das dafür sorgen würde, dass mögliche Lichtreflexionen sichtbar würden. Sie schlug die Augen nieder, blinzelte durch die Wimpern zum Spiegel und sah….
Nichts. Das absolute Nichtvorhandensein, die Unsichtbarkeit ergriff von ihr Besitz.
Leere.
Selbst großartige Bewegungen hinterließen gerade mal Schatten, und das Weiße in ihren Augen fiel kaum auf.
Sie war einfach nicht mehr da.
So, wie sie es sich gewünscht hatte. Es war wirklich kurios: Sie wusste ja, dass sie da stand, und dennoch sah sie… nichts.
Noch nicht einmal einen Schatten ihrer selbst, es war, als sei sie plötzlich verschwunden.
Gut.
Sie löschte das Licht im Bad, wartete, bis sich ihre Augen an die völlige Dunkelheit gewöhnt hatten und verließ dann leise die Wohnung in Richtung Treppe. Den Aufzug wollte sie nicht nehmen. Wäre ihr jemand begegnet, wäre sie im fahlen Licht des Lifts wieder sichtbar geworden. Vor allem sich selbst, und das galt es unter allen Umständen zu vermeiden.
Ohne einen Laut zu verursachen schaffte sie es bis in den Keller. Hier wurde es nun schwierig, denn die Stahltüre leise zu schließen, war eine Herausforderung. Sie fiel so schwer ins Schloss, dass es nur unter größerem Kraftaufwand gelingen würde, den dumpfen Rumpler zu vermeiden, den sie sonst immer von sich gab.
Isabelle wusste genau, was zu tun war. Den Weg war sie schon oft bei Tag gegangen, manchmal zum Training mit geschlossenen Augen. Sie kannte jede Unebenheit im Boden, wusste, nach wie vielen Schritten sie nach links umbiegen musste, um dann geradeaus weiter zu der Sicherheitstür zu gelangen, die sie nach draußen führen würde.
Wie eine Katze in der Nacht suchte sie sich ihre Pfade, horchte in sich hinein, bis sie die Wände und eventuelle Hindernisse in den Gängen spüren konnte. Zu guter Letzt war sie dann an der Tür angelangt, konzentrierte sich und sammelte ihre Kräfte.
Sie legte beide Hände auf die Klinke, drückte ihre rechte Schulter gegen das Türblatt und senkte dann erst ganz sacht und mit unendlichgeduldiger Langsamkeit den Griff. Wie erwartet erfühlte sie schnell den Zeitpunkt, an dem sie die Schulter vorsichtig zurücknehmen konnte und die Tür öffnete sich gemächlich nach innen. Sobald der Spalt breit genug war, schlüpfte Isabelle durch die Lücke und schloss sie vorsichtig, die Tür ein bisschen anhebend, wieder.
Auch diese Hürde war also geschafft, und so stand sie draußen still, ließ die Wärme der Sommernacht einen Moment lang auf sich wirken.
Wie viele Geräusche die Nacht von sich gab… Zikaden zirpten, Mücken summten, ab und an der Motor eines Autos oder eines Motorrades, leises Lachen aus den Nachbargärten, ein weinendes Kind, das Bellen eines Hundes…. Sie nahm die Klänge in sich auf, wartete, bis sie zu einer Melodie verschmolzen, deren Rhythmus erkennbar wurde: Der Puls des Lebens.
Als ihr Pulsschlag diesen Rhythmus in sich aufgenommen und sich ihm angeglichen hatte, tappte sie leise die Kellertreppe hoch, hielt immer wieder inne um zu überprüfen, ob sie allein war. Niemand sollte mitbekommen, welchen Weg sie ging, es kam nun einfach darauf an nicht gestört zu werden.
Am Fuß des Aufstiegs wartete sie einen Moment ab, ans Geländer gelehnt schaute sie sich um, überprüfte noch einmal alle Wege und Fenster, bevor sie sich aufmachte, über den großen Platz schlich, auf dem ein Schild mit großen Lettern verbot, den Rasen zu betreten. Am Ende des Gartens stieg sie still über den Zaun und befand sich nun auf einem der Felder, die hier bis an den Stadtrand reichten.
Getreide war aufgrund einer Bevölkerungsexplosion ein knappes Gut, und so bebauten die Agrarökonomen jede freie Fläche, die nicht als Bauland ausgewiesen war, mit Weizen, Roggen, Hafer – sprich, mit allem, aus dem man noch etwas zu Essen zusammenbasteln konnte.
Lebensmittelknappheit… Wer hätte das schon gedacht, wo vor rund 50 Jahren noch Butterberge abgebaut werden mussten und die Regierungen nicht wussten, wer die Zeche für die Rentenversicherungen zahlen sollte?
Alles hatte sich geändert seither, hatte Ulla ihr erzählt. Ulla war 83 Jahre alt und hatte schwere Zeiten hinter sich gebracht, in denen sie an einer sogenannten „grünen Tafel“ für ein Minimum an Kostenbeitrag ganze Berge von Lebensmitteln einkaufen konnte, die die gutsituierten Bürger nicht kaufen wollten. Oft war das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen, das Brot älter als zwei Tage, das Obst schon leicht angedrückt und der Salat wies braune Flecken auf. Aber was machte das schon in den damaligen Zeiten? Heute gab es nichts Schlechtgewordenes mehr, allein aus dem Grund, weil alles sofort leer gekauft wurde, wenn es wieder etwas Neues gab. Dafür aber gab es auch keine „grüne Tafel“ mehr.
„Gemessen am heute lebten wir alle im Überfluss, Bella.“ pflegte die kleine, grauhaarige Nachbarin von Isabelle zu erzählen. Sie sagte nie Isabelle, immer nur Bella, weil sie den Anblick der langbeinigen herben Schönheit Isabelles genoss. Die um achtundfünfzig Jahre Jüngere hatte damals, als sie die alte Frau abholen und in ein Sterbeheim bringen wollten, beschlossen sich um die zarte kleine Person in der Wohnung nebenan zu kümmern.
Sterbeheime waren eine Sache für sich. Ursprünglich dafür gedacht, Menschen aufzunehmen, die tatsächlich in naher Zukunft den Gang allem Irdischen nehmen mussten, waren sie eine gute Einrichtung gewesen. Dem Tode Geweihte konnten dort in Würde Abschied von ihren Lieben und vom Leben nehmen, gleich ob jung oder alt, allen wurde das höchstmögliche Maß an Aufmerksamkeit zugedacht. Inzwischen wurden dort nur noch Menschen hingekarrt und abgeladen, die nicht mehr zur Produktivität des Landes beitrugen. Dann wurden sie sich selbst überlassen, es gab eine Mahlzeit am Tag und der Rest strafte das Wort Versorgung mit blankem Hohn.
Ulla war dem Sterbeheim nur entgangen, weil Isabelle sie anstellte als ihre „Teilzeitoma“, ein Arbeitsverhältnis, das sie Unmengen an Geld kostete, aber sicherstellte, dass „Oma Ulla“ als produktiv galt, da sie eigenes Geld verdiente. Sie aßen nun immer gemeinsam und teilten sich alles, was mit dem Haushalt zu tun hatte, und so kamen beide über die Runden – mehr schlecht als recht, aber es ging.
Aber die alte Frau musste nicht ins Hospiz und sie… na ja, sie mochte Ulla nun mal.
Während sie über „ihre Angestellte“ nachdachte, suchte Isabelle sich einen Weg am Rande des Weizenfeldes und schaute sich immer wieder um, aber es war niemand in der Nähe, dem sie hätte auffallen können, bis sie an dem kleinen Trampelpfad angelangt war, der zu dem Waldgürtel führte.
Es war keine leichte Übung, die sie sich vorgenommen hatte. Unbemerkt durch die engstehenden Bäume huschen, darauf achtend, dass selbst die Tiere ihren gewohnten Geschäften nachgingen… das war fast unmöglich, das wusste sie, und sie stellte sich darauf ein, dass ihr das nicht auf Anhieb gelingen würde. Allein schon wegen ihres menschlichen Geruchs würde das nicht machbar sein, dafür hatte sie noch keine Lösung gefunden.
Aber letztendlich ging es nur darum, dass sie dazulernte, bevor sie ihre Unscheinbarkeit an Menschen ausprobierte.
Der Pfad verlief seitlich vom Wäldchen, und sie blieb dort stehen, wo ein Zugang zwischen den Bäumen vielversprechend aussah.
Dunkel war es und nur schemenhaft zeichneten sich die Bäume und Sträucher in den nächtlichen Schatten ab. Leise betrat sie den kleinen, mit Moos bewachsenen Boden zwischen zwei Bäumen und einer Ansammlung von Sträuchern.
Die plötzliche Stille am Waldesrand schien sich wie ein Echo nach hinten fortzusetzen und hieß sie unwillkürlich inne halten. Sie verharrte reglos, stumm an ihrem Standort und wagte kaum zu atmen. Als ein Waldkäuzchen zwischen den Bäumen einen Ruf in die Dunkelheit los sandte, rührte sie sich immer noch nicht, verharrte dort an ihrem Platz und verschmolz mit ihrer Umgebung.
Langsam, misstrauisch und vorsichtig begann sich die Stille wieder mit Leben zu füllen, und Isabelle atmete leise und behutsam auf. Sie gönnte den Tieren noch ein paar Minuten Ruhe, bevor sie begann, sich ganz sacht einen Weg in den Wald zu suchen.
Wie ein Phantom bewegte sie sich in dem Gehölz, tastete sich langsam von Moosballen zu Moosballen, bemüht, die kleinen Zweige auf dem Waldboden nicht zu zerbrechen. Hast musste hier ein Fremdwort sein, und tatsächlich gelang es ihr immer besser, in ruhiger Gelassenheit von einer Lichtung zur nächsten zu gelangen. Sie betrat diese Lichtungen nie, sah nur vom Rande aus darauf um sich zu orientieren.
Endlich bemerkte sie anhand einiger markanten Zeichen, dass sie die Mitte des Waldes erreicht hatte und ließ sich still auf einem weichen bemoosten Stein nieder. Während sie zur Ruhe kam, richtete sie ihre Sinne zuerst nach außen.
Ihre Augen waren schon an die Dunkelheit gewohnt, nichts in ihrem Blickfeld schien fremd oder beängstigend. Sie konnte Sträucher, Steine, Felsen ausmachen, konnte den Waldboden von Gras und Moos unterscheiden. Sie sah kleine Tiere umherhuschen – sie selbst aber wurde nicht wahrgenommen, nicht bewusst. Eine Feldmaus lief fast über ihre Füße, Isabelle bekam einen solchen Schrecken, dass sie fast alles zerstört hätte. Aber sie konnte den Aufschrei gerade noch unterdrücken, die Füße still halten, und so blieb der Frieden auf dieser Lichtung gewahrt.
Die Geräusche um sich herum nahm sie mit geschärften Sinnen auf, ihr Gehör war wesentlich besser als in einem hellen Raum. Das Knacken von Zweigen, das Zirpen der Zikaden – die summenden Mücken und das leise Schnüffeln von kleineren Tieren, all das nahm sie wahr und merkte, wie sich ihr eigener ruhiger Atem darin verlor.
Ihr Geruch wurde überlagert vom Duft der blühenden Sträucher, vom Moos, den Efeuranken, von dem satten Aroma der feuchten Erde und dem nassen Gras.
Eins sein mit der Dunkelheit, verschwinden und nicht mehr sein – nach außen hin hatte sie es geschafft.
Sie rutschte langsam von dem Felsen in eine kniende Position auf dem Mooskissen davor, setzte ihre Reise fort, schickte einen fragenden Ruf der Stille über die Lichtung hinaus, aber er verlor sich in ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit und kehrte nicht zurück.
Es war also an der Zeit, in sich zu horchen, die eigenen Gefühle zu überprüfen.
Hinter der Befriedigung, ihre Aufgabe so gut es ging erledigt zu haben, verbarg sich noch mehr, und daran galt es zu gelangen.
Als erstes fühlte sie Verunsicherung. Es schien ihr, als würde sich ihr Ich in der Luft auflösen, in den Waldboden sickern, mit der Dunkelheit vereinen – sie wurde absorbiert, war keine eigenständige Person mehr sondern nur noch ein Anteil ihrer Umgebung. Keine Isabelle mehr, selbst der Name erschien ihr fremd, hatte nichts mehr mit ihr zu tun.
Einen Moment lang war sie versucht, die Maske vom Gesicht zu reißen, laut ein Kinderlied zu singen, selbst ein unguter Geruch aus ihren Darmwindungen wäre ihr willkommen gewesen um diese Spannung zu zerreißen, die sie fühlte, die sie aber immer noch als eigenständige Person greifbar machte. Aber das hätte alles zerstört, also schloss sie die Augen, atmete tief ein und hielt so lange den Atem in sich, bis sich die Panik gelegt hatte.
Dann ließ sie langsam die Luft wieder weichen, atmete noch ein, zwei Mal langsam und intensiv, atmete die Angst aus sich heraus, um sich wieder in Ruhe ihren anderen Gefühlen widmen zu können.
Mit jedem Atemzug mehr nahm sie weniger von ihrer Umgebung auf, sank in die tiefe Schwärze in sich, es wurde still in ihr. Das Nichts zeigte sich ihr, ließ sie auf sich blicken und zeigte ihr, dass sie alleine ein Niemand war. Kurz wollte die Panik wieder aufwallen, aber das war so weit entfernt, ganz oben, kurz unter der Oberfläche, und diesmal reichte ein ruhiger Atemzug, um sie fortzuwehen.
Was nun geschah, erstaunte und faszinierte sie: Sie begann das Nichtsein zu genießen. Ihre Atmung verlangsamte sich wie von selbst nochmals drastisch bis ihr Herzschlag kaum noch zu spüren war, ihre Gliedmaßen schienen sich aufzulösen und zurück blieb nur noch diese grenzenlose Leere, die sie sorgsam umhüllte, mit ihr war und sich nicht löste.
Lange verharrte sie so, sah zu, wie sie von dieser Negation des Daseins absorbiert wurde, fühlte als einzige menschliche Regung das Glück, sich fallen lassen zu können, nichts mehr sein zu wollen, zu müssen, als der untrennbare Teil eines kollektiven Nichts.
Als die Stimme sie rief, war sie bereit. Beine, die ihr nicht mehr gehörten, standen auf und trugen sie weiter, lautlos, unbeachtet vom Rest des Waldes, trugen sie durch dunkelschwarze Pfade, die sie noch nie betreten hatte. Sie wehte mit dem sanften Wind, flog mit den Nachtfaltern, raschelte mit den Mäusen durch das Unterholz, breitete die Flügel des Waldkäuzchens aus und segelte mit ihm hinunter zu der Höhle am Fuß der Anhöhe, dort wo die Stimme immer fordernder nach ihr verlangte. Kein Zögern, kein Zaudern hielt sie am Eingang, zielstrebig ging sie dorthin, wo ihre Anwesenheit verlangt wurde. Sie lief durch enge Gänge, hielt an keiner Kreuzung inne, der Ruf zeigte ihr den Weg. Sie kletterte über Felsen, hangelte sich über einen tiefen Abgrund zur anderen Seite, nahm nichts davon wahr. Und ständig ging es tiefer, immer weiter in die Gesteinsformation, die von außen gar nicht sichtbar war. Sie ging durch knietiefe Priele, schwamm durch einen eiskalten See, tauchte unter, wo Steine ihr das Fortkommen verwehrten, ließ ihre Kleidung und immer mehr von sich selbst zurück.
Nackt und bloß erreichte sie endlich das warme Glühen, das sie angezogen hatte. Nackt und bloß, nicht nur am Körper sondern auch im Geist und im Herzen.
Schweigend stand sie vor diesem Glühen, und in dieses Schweigen flossen Gedankenströme, nebelhaft und ohne Laut, in sie hinein. ‚Du bist gekommen’ schienen sie zu sagen. ‚Du bist endlich angekommen. Ich rief dich schon so lange, und nie hast du mich gehört.’ Obwohl kein einziges Wort gesprochen wurde, verstand Isabelle die Botschaft, und ehe sie es sich versah, hatte sie auf die gleiche Art und Weise geantwortet.
’Ich kenne dich nicht, ich hörte dich nicht. Wie sollte ich auch nur ahnen können, dass du mich brauchst?’
Als hätte diese Antwort ein Schleusentor geöffnet, wurde ihr Geist mit Bildern und Gedanken überflutet. Szenen aus ihrem Alltag, aus ihrem täglichen Leben wurden zurückgeholt und offenbart, Momente, in denen sie verwirrt war, das Gefühl hatte, dass ihre innere Stimme lauter und klangvoller als die Stimmen der anderen war. Augenblicke der inneren Kälte, ahnungsvolle Tage – und sie hatte das alles weggewischt, als Einbildung abgetan. Bei jedem dieser Protokolle fühlte Isabelle ihr eigenes Versagen stärker als je zuvor, und noch immer riss die Flut der Bilder nicht ab. Die Erleichterung, dass sie doch normal war, dass sie sich doch nichts eingebildet hatte, überwog einen kurzen Moment und sorgte dann dafür, dass die Last des Versagens, die sich einstellte, doppelt so schwer war und sie hinunterzog, hinein in sich selbst.
Tiefer, immer tiefer sank sie, niedergedrückt von dem Gedankenfall, der auf sie einprasselte. Sie tauchte ein in das, was bislang vor ihr verborgen war: In eine sie wie das Wasser einer warmen Quelle umhüllende Masse, die den Sturz bremste und ihr eine sanfte Landung auf dem weichen Grund ermöglichte.
Atemlos, sprachlos, völlig bewegungsunfähig lag sie dort auf der Seite, in sich gekauert wie ein Embryo im schützenden Bauch der Mutter, die wärmende Masse noch um sich herum. Dass ihr das Atmen hier nicht schwerfiel, wunderte sie seltsamerweise nicht, sie fühlte sich sicher und geborgen.
Nach einem kurzen Innehalten öffnete sie langsam die Augen.
Wieder sah sie nur Dunkelheit um sich herum, kein Lichtstrahl, kein Sternenblinken war erkennbar, und wieder saß sie diesem Glühen gegenüber, diesmal kleiner, schwächer, pulsierend, aber definitiv dasselbe Glühen. Als Isabelle es ansah und in sich aufnahm, versuchte herauszubekommen wer und was es ist, verstärkte sich die Wärme, als würde eine Art…. stille Freude es durchziehen, und gleichzeitig formte sich das Bild von einem Rahmen in seinem Zentrum.
Neugierig sah sie in die dort gezeichnete Abbildung und fuhr erschrocken zurück. Das Bild im Rahmen tat ihr gleich: Es war ein Spiegel! Sie konnte es nicht fassen, sah wieder und wieder in das Zentrum des Glühens, und bei jedem Blick wurde ihr Konterfei jünger, das Pulsieren heftiger, das Glühen heller und wärmer, bis sie an einem Punkt angelangt waren, an dem Isabelle den Spiegel nicht mehr aus den Augen lassen konnte.
Genau in diesem Moment nämlich änderten sich die Bewegungen der jugendlichen Isabelle, wichen von den ihren ab und verselbstständigten sich scheinbar. Fahrig strich sich ihr Gegenüber die Haare aus dem Gesicht, es trat einen Schritt zurück um mehr von sich zu betrachten. Die Ältere erinnerte sich an diese Begebenheit und wusste, dass das junge Mädchen nun ihre seinerzeit kleineren, bloßen Brüste mit den Händen anheben würde, sie streicheln, das versuchen würde, was sie beim Blick aus dem Fenster zur Wohnung gegenüber in der Nacht heimlich beobachtet hatte.
Wie gebannt starrte die Ältere die Jüngere an, sah Daumen und Zeigefinger an einer Knospe zwirbeln und konnte noch gut das Gefühl nachempfinden, was sie damals urplötzlich ausgefüllt hatte: Ein leiser Schmerz, diese Woge der Erregung – und das Schamgefühl, das die Stimme in ihr auslöste, die sie mit dem kalten Klang ihrer Mutter als verdorben bezeichnete und ihr befahl, so etwas nie wieder zu tun. Sie empfand das Erschrecken nach, das sich Alleingelassenfühlen, die Unsicherheit, dass etwas so Schönes so schlecht sein sollte. Und heute, gefühlte Jahrhunderte weiter, trug sie ein Bedauern darüber mit sich, dass sie so schnell nachgab, aus Furcht, tatsächlich von ihrer Mutter erwischt und abgekanzelt zu werden.
Das Glühen erhellte sich für einen kurzen Moment und zog diese Episode zurück. Wieder erschien nur das blasse Gesicht der mittlerweile kleinen Isabelle, und wieder stoppte die Bilderflut und zeigte neue Szenen, in denen sie anders gehandelt als gefühlt hatte. Diese Fülle an Momentaufnahmen erschöpften sie mit der Zeit so sehr, dass sie sich noch mehr zusammenkauerte, so weit, dass ihr der Blick von den eigenen Knien verdeckt wurde.
Lange noch lag sie so da, immer noch wie gefesselt, immer noch ohne Worte, bis sie verstand, und das Glühen schwebte auf sie zu und umhüllte sie ganz mit seinem matten Schimmer. Sie setzte sich langsam und sachte wieder auf, wollte ihre Ummantelung nicht verscheuchen.
Sie war voreilig vorsichtig gewesen. weil sie nicht daran glaubte, dass es bei ihr bleiben würde, so oder so. Sie fühlte die Wärme bis in ihren Bauch, ein sanftes, wohliges Brennen, sah eine schimmernde Hülle um sich herum und lächelte.
Die Stimmung, in der sie sich nun befand, war erhebend, und so schwebte sie tatsächlich. Aufwärts, hoch bis zur Oberfläche, tauchte auf aus sich selbst und kniete vor der wesentlich größeren und wärmeren Quelle vor sich.
Noch einmal glühte sie auf, so als wolle sie ihr zunicken, und mit einem Ruck wurde Isabelle nach hinten gezogen, in das Wasser des Sees geworfen, durch die Höhlen und Gänge geschleift, bis sie wieder am Eingang der Höhle stand, immer noch nackt, immer noch schimmernd, aber ihre Kleidung lag auffordernd vor ihr auf dem Felsgestein.
Sie gehorchte und kleidete sich an, verbarg Stück für Stück ihre schimmernde Aura, bis sie wieder völlig eins mit ihrer Umgebung war.
Und dennoch…. etwas war anders. Benennen konnte, wollte sie es nicht, aber es bewirkte, dass sie mehr mit zurücknahm als nur ein warmes Gefühl und ein stilles Leuchten, als sie nun den Rückweg zur Lichtung antrat.
Immer noch in Trance, lief sie die verschlungenen Pfade zurück, und immer noch in Trance flog sie mit einem Bussard weite Strecken, als sie nicht mehr laufen konnte. Immer noch in Trance fiel sie, als er sie über ihrem Ausgangspunkt losließ, zurück auf den weichen Boden und blieb einen kurzen Moment länger neben sich stehen, bis sie aus ihrer knienden Haltung heraus einfach umfiel.
Ob es der Ruf des Bussards, das leise Schreien des Waldkäuzchens oder schlicht und einfach die Tatsache, dass sie in sich zusammensackend den Waldboden an ihrer Wange spürte.. Wer konnte das schon wissen?
Sie setzte sich wieder auf, reckte sich wie nach einem langen Schlaf und bewegte vorsichtig ihre Beine. Sie müssten endlos müde sein nach dieser anstrengenden Nacht, aber am heutigen Tage würde sie nicht mehr darüber nachdenken, warum sie nur taub waren, eingeschlafen wie nach einer längeren Zeit in bewegungsloser Haltung.
Als das Blut durch eine schnelle Massage wieder dort floss, wo es sein sollte, stand Isabelle leise, leicht schwankend auf und bemühte sich, sich noch ihrer Aufgabe bis zum Schluss widmen zu können.
Letztendlich konnte sie es noch nicht einmal sich selbst bestätigen, ob sie es geschafft hatte, denn sie war noch immer leicht abwesend, während sie zum Waldrand schlich, dachte über die Geschehnisse der Nacht nach. War sie gelaufen? War sie geschwommen? War sie in eine glühende Quelle getaucht, oder hatte sie die ganze Zeit auf dem Mooskissen gekniet? Dieses Schimmern… sie meinte, an den Händen davon etwas erhaschen zu können, aber der Mond schien hell durch das durchlässige Blätterdach, und so war sie sich nicht sicher.
Endlich erreichte sie die Stelle, an der sie den Feldweg verlassen hatte und trat still den Heimweg an.
Unwillkürlich blieb sie stehen, verharrte einen Moment des Abschiedes und drehte sich dann um. Der Kontrast zwischen dem in Schatten verborgenen Wald- zu dem in Licht getauchten Stadtleben war krass, und gierig saugten die Augen die hellen Punkte dort unten auf.
Als sie sich satt gesehen hatte, fühlte sie eine leise Ambivalenz in sich aufsteigen. Der Wald, das Glühen, die Wärme und Geborgenheit: Das alles sollte sie nun verlassen? Dort unten wartete doch nichts auf sie…. außer Ulla.
Ulla, die ihrer Hilfe dringend bedurfte. Die ihr eine gute Freundin geworden war. Die ihr von alten Zeiten erzählte und ihre Wäsche mit dem schon lang verbotenen Weichspüler wusch, immer nur ein paar Tropfen einer Essenz, die sie selbst herstellte. Ulla, die ihr für morgen – nein, heute – Apfelstrudel zum Nachtisch versprochen hatte. Selbstgebacken.
Ulla, die als Einzige von ihrem nächtlichen Ausflug gewusst hatte und eine Kerze in ihr Fenster gestellt hatte.
Damit ihre Bella den Weg zurück auch finden konnte.
Sich ihres Lächelns nicht bewusst, setzte Isabelle den Weg nach Hause fort.
Fort von dem Wald, hin zur Zivilisation.
Fort von der vielsagenden, Geborgenheit gebenden Dunkelheit, hin in die hektische, alles reglementierende, selbst in der Nacht taghelle Stadt mit der sie umsorgenden Ulla.
Ihr Heim, ihr Ankerpunkt.
Zumindest fürs Erste.

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