Ruhestörung

Es ist noch früh am Morgen und der Tag verspricht schön zu werden. Ich habe gut geschlafen, endlich mal wieder, und mein Sohn hat die Wohnung vor wenigen Minuten verlassen; er sitzt sicherlich schon im Bus und fährt zur Schule.
Ich genieße meinen Kaffee, das Schweigen, lese in meiner Zeitung.
Ich mag das: Keine Verpflichtungen, auf nichts achten müssen. Ein bisschen die Seele baumeln lassen, bevor ich mich in die Hektik des Alltags stürzen muss. Alleine in der Stille langsam richtig wach werden.
Nur der Geruch von Kaffee und das leise Rauschen des Windes in den Bäumen, von gelegentlichem Läuten der Kirchenglocken unterbrochen, umgeben mich, hüllen mich ein in eine dezente Kulisse der Ruhe und des Friedens.
Es ist fast so, als habe jemand die Welt angehalten, und sie würde sich erst weiterdrehen, wenn die Turmuhr zur neunten Stunde läutet.

Doch heute wird diese Ruhe gestört.

Ich höre im Hausflur eine Tür zuschlagen. Es folgt wildes Kreischen: eine hohe Stimme, die zu kippen droht. Worte verstehe ich nicht, will ich auch nicht.
Ich erkenne sofort, um wen es sich handelt.
Vor ein paar Monaten zogen sie bei uns ein, eine Familie mit zwei Kindern. Freundliche Menschen, stets höflich, hilfsbereit. Einer der beiden Jungen hat mir des Öfteren angeboten, meine Einkäufe in den zweiten Stock zu tragen. Er hält mir die Tür auf, grüßt freundlich, kurz: Ein wohlerzogener Teenager, fast schon eine Seltenheit.
Von dem anderen Jungen hörte ich lange Zeit nur immer wieder diese hohe, überbordende Stimme.
Die Klangfarbe seiner Stimme ordne ich für meine Ohren bei einem grellen Gelb ein: Aufdringlich, in den Ohren stechend, die Gedanken blendend, Abwehr auslösend. Ein hoher, anklagender Ton, der sich bei mir festsetzte als das Heulen eines unzufriedenen, verzogenen Kindes. Anfangs war das sehr störend, da der Junge meist den ganzen Mittag über zu hören war.
Dann erfuhr ich die Hintergründe für dieses alltäglich wiederkehrende Theater: Der Junge ist Autist. Zurzeit verträgt er die Medikamente nicht mehr und soll umgestellt werden. Dass so eine Umstellung eine langwierige Sache sein kann, weiß ich, und so übe ich mich in Geduld.
Mit der Zeit gelang mir das auch immer besser, und ich höre kaum noch hin, wenn von den Nachbarn noch Lärm zu mir nach oben dringt.
Heute aber ist irgendetwas anders.
Noch nie habe ich den Jungen im Hausflur kreischen hören, noch nie rannte er ohne seine Mutter aus dem Haus. Jetzt aber höre ich ihn schon vor der Tür, und er randaliert. Er wirft die Mülltonnen um, brüllt laut und aggressiv – sein Tonfall klingt verzweifelt.
Nun folgt die Mutter. Sie ruft ihm hinterher, fragend. Die Stimme des Jungen ist nun von der Straße zu hören, man versteht immer noch keine Worte, es bleibt unverständliches Geschrei.
Ich gehe zum Fenster und schaue nach, ob ich helfen kann. Zeigen mag ich mich nicht, ich kann mir denken, dass die Situation an sich bereits schlimm genug für die Mutter ist.
Oft genug hat sie sich schon bei den Nachbarn entschuldigt, händeringend um Verständnis gebeten. Dabei müsste sie das nicht tun, denn Kinderlärm ist in einem Mietshaus unumgänglich und kein Grund zur Beschwerde.
Und dennoch hat eine Mitbewohnerin es tatsächlich gebracht und bei unserem Hausverwalter eine Abmahnung für die Familie gefordert; der Familie selbst hat sie mit einer Anzeige wegen Lärmbelästigung gedroht.
Gut, diese bestimmte Mieterin ist eine egoistische, herzlose Megäre, die sich bei jedem unbeliebt macht, und der Rest der Mietergemeinschaft hat sich auf die Seite der Familie gestellt.
Aber ich kann mir denken, dass eine solche Androhung nicht gerade geringfügig belastend wirkt. Also bleibe ich lieber im Hintergrund und schaue nur nach, ob Hilfe benötigt wird.
Wird es nicht, nicht akut. Sie läuft ihrem Sohn hinterher, seine Mütze in der Hand. Er steht auf dem Bürgersteig, die Hände zu Fäusten geballt, so als wolle er gleich seine Mutter boxen, und brüllt seine ganze Wut und seine Verzweiflung heraus.
Schlimm klingt das, und es tut beinahe weh, ihm zuzuhören. Nur beinahe?
Sie spricht auf ihn ein, nimmt seine Hand – und auf einmal lässt er sich widerstandslos mitziehen. Einen Moment lang schaue ich den beiden hinterher, sie erreichen das Ende der Straße ohne weiteren Zwischenfall.
Nun herrscht wieder Ruhe.
Nachdenklich streife ich mir eine Jacke über und ziehe meine Schuhe an. Zumindest kann ich die Mülltonnen aufrichten, damit unsere Ego-Mieterin keinen Anlass findet, erneut beim Hausverwalter zu insistieren.

Wie mag sich ein solches Kind fühlen? In seiner Welt eingeschlossen, abgekappt von den Gefühlswelten anderer zu leben. Nicht in der Lage zu sein, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, nicht zu wissen, was andere fühlen. Wie mag das sein, wenn es einem nicht möglich ist, die eigenen Gefühle zu äußern? Was für eine Frustration muss das mit sich bringen, welche Angst?
Ich fühle in diesem Moment eine Art Kummer in mir. Eine Traurigkeit, die mich von innen heraus aushöhlt. Ich möchte die Luft anhalten, damit diese Leere sich nicht ausweiten kann.
Schließlich bleibt mir nichts anderes übrig: Ich muss atmen, also hole ich tief Luft und schlucke hart.
Ja, mir tut es weh, mir das vorzustellen.

Während ich den Müll einsammle, der sich auf dem Weg verbreitet hat, denke ich weiter darüber nach, und mich überkommt eine Dankbarkeit von unbeschreiblichem Ausmaß. Meine Kinder sind gesund. Natürlich haben sie ihre Probleme, und sie mussten sehr schwierige Zeiten hinter sich bringen. Dankenswerterweise sind diese schlimmen Zeiten vorbei.
Vorerst.
Es gibt keine Garantie für Glück und Zufriedenheit, für Gesundheit.
Und während meine Hände gerade eine mit klebrigen, undefinierbaren Resten eingeschmierte Spinatpackung aufnehmen, freue ich mich. Über meine Kinder. Mein Glück.
Und darüber, dass ich Handschuhe angezogen habe.

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