Klassentreffen

Es ist wieder einmal soweit: Klassentreffen.

Helga hat sich unglaublich viel Mühe gemacht: Zehn Jahre nach dem letzten Treffen sind viele Klassenkameraden umgezogen, haben sich scheiden lassen, neu geheiratet. Namen, Anschriften, all das hat sich geändert, und da natürlich niemand daran dachte, unsere selbsternannte Präsidentin des Festkomitees darüber zu informieren, sind etliche Einladungen wieder zurückgekommen.

Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie sich davon aufhalten ließe. Ein bisschen im Internet recherchieren, die Beziehungen zum Einwohnermeldeamt spielen lassen, andere Ehemalige nerven und ausfragen – und endlich hat sie alle erreicht. Der Termin ist so gelegt, dass eigentlich jeder zusagen kann: Genug Zeit zu planen und einen Abend freizuhalten hat sie klugerweise eingeräumt. Das Treffen findet in einer Pension statt, die moderate Preise bietet, weil Paul, der Inhaber der Pension, der Bruder von Erwin ist und Erwin unser Klassensprecher war. So können auch die, die weit weggezogen sind, ohne desaströse Ausgaben an dem Treffen teilnehmen. Die klassischen Ausreden waren damit bereits im Vorfeld ausgeräumt, so würden lediglich die nicht auftauchen, die immer fehlten.

Unzählige Mails mit Erinnerungen („Nicht vergessen: Am 23. Oktober ist es soweit! Du kommst doch ganz gewiss?“), Anweisungen („Bringt bitte alle das Jahrbuch mit und das T-Shirt mit den ganzen Unterschriften! Wir haben ein Spiel vorbereitet!“), Regeln („Die Partner bleiben bitte daheim, ebenso Kind, Hund, Katze, Maus, haha!“) und sonstigen für Helga so wichtigen Details sind vermutlich bei jedem von uns hereingeschneit; mindestens genauso viele Anrufe erreichten uns, und nein, Leute: Nicht rangehen ist bei einem Anruf von Helga keine Option. Dann folgen weitere Anrufe im Fünf-Minuten-Takt, so wie eine weitere Mailflut, in der um dringenden Rückruf gebeten wird.

Aber gut, alle zehn Jahre kann man mal so eine Zeit mitmachen. Letztendlich lassen wir das alles nun zum dritten Mal über uns ergehen, und es hat sich die beiden vorhergehenden Male gelohnt. Viele nette Gesichter, das Erstaunen auf allen Seiten, was aus uns geworden ist, gute Gespräche und viel Gelächter – auch über Helgas militärische Vorbereitungsweise – machen das locker wieder wett.

Natürlich gibt es auch Leute, die würde man am liebsten gar nicht mehr sehen.

Ludwig zum Beispiel hätte ich beim ersten Klassentreffen am liebsten nicht dabeigehabt. Die Erinnerung daran, dass er auf der Abschlussfeier mit mir Schluss gemacht hat um mit Karina aus der 10c zu knutschen, saß einfach noch wie ein bohrender Nagel in meinem Selbstbewusstsein. Als ich aber dann sah, was aus ihm geworden war, dankte ich allen Göttern und insbesondere Karina dafür, dass sie ihn auf Abwege geführt hatten:

Ich hatte ihn größer in Erinnerung. Größer, mit mehr Haaren auf dem Kopf. Wo waren seine wunderschönen Wuschellocken hin? Da war nur noch ein schütterer Rest, der mehr nach einem verzweifelten Versuch, Haare vorzutäuschen, aussah. Und dann diese Brille! Glasbausteine! Hatte der Mann noch nichts von Kontaktlinsen gehört? Ich muss heute noch grinsen, wenn ich daran denke, wie Andrea und ich zusammenstanden, kichernd zu ihm rüber starrten und all seine schrecklichen Veränderungen aufzählten, die uns auf den ersten Blick auffielen.

Als ich am Ende des Abends Andrea und Ludwig knutschenderweise im Auto sitzen sah, musste ich noch mehr lachen.

Im Jahr darauf traf es mich allerdings noch schlimmer. Ansgar war scheinbar für eine Weile zurück in Deutschland und beehrte uns deswegen mit seiner Anwesenheit. Ansgar war seinerzeit immer der Klassenbeste gewesen und wurde uns Verlierern als leuchtendes Beispiel vorgehalten, was er ganz offen und unheimlich genoss. Nach unserem Abschluss absolvierte er noch das Gymnasium und schloss dort mit Summa Cum Laude ab. Natürlich studierte er. Irgendwas mit Bio oder Chemie, oder mit beidem. Auf dem ersten Klassentreffen fehlte er, und Helga erzählte lang und breit mit dieser bedeutungsschwangeren Stimme, die andeuten sollte, dass nun etwas hochdramatisch Wichtiges ans Licht kommen würde, dass er nun ein Forschungsprojekt in den USA leiten und gerade in einer wichtigen Phase des Projekts stecken würde, was ihn leider daran hindere zum Treffen zu kommen.

Dafür war er dann bei dem zweiten Treffen dabei und sonnte sich in der Bewunderung aller, die ihm Respekt zollten für all das, was er von seinem Lebensstil in den USA erzählte. Seine Lieblingssätze waren: „Das kennt ihr hier natürlich nicht.“, und: „Habt ihr das hier nicht? Ach, ja….“

Dabei setzte er eine derart gönnerhafte Miene auf, dass ich ihm am liebsten sein Flugticket ins Maul gestopft und mit einem Tritt auf den Heimflug befördert hätte. Ohne Flugzeug. Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, auch allen, wirklich allen Leuten ein Gespräch aufzuzwingen, gleich ob man wollte oder nicht, und so stand er tatsächlich irgendwann auch bei uns.

Ich verdrehte die Augen und hörte gar nicht richtig zu, was er da zu erzählen hatte, aber das schien ihn gar nicht zu stören. Er erzählte und erzählte, bis ich mich höflich entschuldigte und in Richtung WC verschwand, um endlich meine Ruhe zu haben.

Nun, vermutlich wird er in diesem Jahr wieder zu beschäftigt sein, also freue ich mich tatsächlich wieder ein bisschen auf das Treffen.

„Hey, schön dass du da bist!“ Helga stürmt auf mich zu, kaum dass ich den Festraum betreten habe und fängt sofort an auf mich einzuschwatzen, als seien wir Busenfreundinnen. Oh Gott. Ich konnte Helga nie ausstehen, weil sie immer alles machen wollte, sich für jeden Mist am schnellsten und am lautesten gemeldet hatte. Ihre Noten waren grottenschlecht, aber die Lehrer mochten sie natürlich, weil sie immer so hilfsbereit war und hievten sie durch jedes Schuljahr. Jeden Sommer betete die halbe Klasse stumm darum, dass sie es ein einziges Mal nicht schaffen würde. „Bitte! Einmal nur! Eine Ehrenrunde schadet doch niemandem!“, bettelten wir bei der Zeugnisvergabe unsere vorhandenen oder eingebildeten Götter an; stumm, um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht. Und jedes Jahr entgleisten uns die Gesichtszüge, wenn sie dann stolz verkündete: „Versetzt in Klasse Xb!“

Wie dem auch sei, ich mied Helga während unserer Schulzeit wie Strickstrumpfhosen im Frühjahr. Auf der weiterführenden Schule galten Strickstrumpfhosen als gesellschaftlicher Tod. Helgas Gesellschaft war eher so, als wäre man an einem Pfahl im Meer angebunden, bei Ebbe bis zur Brust im Wasser, nicht wissend, ob Haie oder die Flut letztendlich für Deinen Tod sorgen würden. Bei strahlender Sonne betetest Du irgendwann um einen Hai, der dann aber sicherlich nicht auftauchen würde.

Und genau diese Helga hakt sich nun bei mir unter und erzählt mir strahlend, wie toll alles geworden sei und dass fast alle zugesagt hätten. Ich nicke abwesend und suche nach einem Grund, mich höflich bedauernd von ihr loseisen zu können, als der Name „Ansgar“ fällt.

„… stell dir vor, und gestern Abend rief er an und erzählte, dass er es doch noch schafft, und so ist er quasi unser Überraschungsgast des heutigen Abends!“ Helga fängt an zu kichern. Ein schulmädchenhaftes Gackern, das mich an jene Zeiten erinnert, in denen ich mit meinen Freundinnen auf Feten zusammengestanden und zu den Jungs rüber gestarrt habe. Aber okay, da waren wir 14 Jahre alt, nicht ein halbes Jahrhundert! Allerdings rückt diese Peinlichkeit in den Hintergrund, als ich ihre nächsten Worte wahrnehme:

„Ich dachte mir, dass ich euch nebeneinander setze. Ihr habt euch das letzte Mal so gut unterhalten, sagte Ansgar.“ Sie zwinkert mir auffällig zu und raunt dann auf derart vertrauliche Weise in mein Ohr, dass ich nicht weiß, was ich schlimmer finden soll: Ihren anzüglichen Ton oder der Inhalt dessen, was sie sagt. „Da geht noch was zwischen euch… Du bist doch immer noch Single, oder?“

Dem Himmel sei Dank wartet sie gar nicht auf meine Antwort sondern löst sich von mir und flattert zu dem nächsten bedauernswerten Gast, der gerade den Weg zu uns gefunden hat.

Ich lasse mich auf den nächsten freien Stuhl sinken und stöhne auf. Kurz überlege ich, ob ich nicht heimlich verschwinden soll, aber da steuert unsere Gastgeberin wieder auf mich zu, den Stargast im Schlepptau. Ansgar sieht mich erfreut an, und ich bemühe mich, zumindest höflich zu sein. Nachdem wir uns die Hände gereicht haben, will er gleich ein Gespräch mit mir anfangen. Ich aber drehe mich um und stürme auf Ludwig und Andrea zu, als seien sie die rettende Oase in der Wüste.

Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich noch, wie Helga der Mund offen stehen bleibt. Sie sucht offensichtlich nach passenden Worten, um die Situation noch zu retten, aber das ist mir egal. Soll sie doch mit ihm fertig werden.

Andrea und Ludwig schauen verkrampft lächelnd durch den Raum. Der Abstand zwischen ihnen und ihre Körperhaltung verrät mir, dass Helga auch hier die Zeichen missdeutet und die beiden Falschen zu einem Paar zusammengefügt hat: Die beiden sind kein Paar geworden, sondern haben nur die Nacht miteinander verbracht.Nun müssen sie schon zum zweiten Mal dafür büßen, dass sie die Finger nicht voneinander lassen konnten.

Beim zweiten Treffen hat Andrea mich an ihre Seite gezogen und mir das ganze Drama erzählt. Am Morgen danach sei sie durch eine keifende Stimme neben ihm aufgewacht und hätte den Schock ihres Lebens bekommen. Offenbar hatte Ludwig ihr verschwiegen, dass er noch bei seiner Mutter wohnte und diese die Angewohnheit hat, ihrem Söhnchen den Kaffee ans Bett zu bringen. Als Mutti nun ihren Ludwig mit einer Frau im Bett erwischte, brach wohl ihr Weltbild zusammen, und das Drama, das folgte, war laut meiner ehemaligen Banknachbarin filmreif: Andrea im Bett, zwischen ihr und ihren Kleidern die in Tränen aufgelöste Mutter; neben ihr ein ertappter Ludwig, der mit den beiden Damen völlig überfordert war. Kein Wunder, dass die beiden die Klassentreffen am liebsten in zwei verschiedenen Städten gefeiert hätten.

Heute revanchiere ich mich und klage Andrea mein Leid: Lautstark lasse ich mich über Helgas unglückliche Hand bei der Wahl der Tischnachbarn aus. Darüber, dass ich neben dem nervigen Streber sitzen muss, der doch eh nur wieder erzählt, was er drüben in den USA für tolle Sachen macht, die uns Hinterwäldlern noch überhaupt nicht bekannt seien. „Mir geht dieses herablassende Getue auf den Nerv. Der tut so, als seien wir bedauernswerte Höhlenmenschen, die Kultur für eine Zahnpasta halten!“

Kurz überlegen wir, ob wir für das Essen nicht die Plätze tauschen können. Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie uns diese Eigenmächtigkeit durchgehen lassen würde. „Oh nein, das geht auf gar keinen Fall!“, tönt sie entsetzt und schaut uns an wie ein getroffener Hund. Nicht umsonst habe ich doch alle so hingesetzt, darauf basiert doch später das ganze Spiel!“

Ich schließe kurz die Augen und überlege, ob ich sie oder mich umbringen soll. „Ich will nicht mit Mister USA-Angeber Ansgar spielen“, tönt es rebellisch durch meinen Kopf. Den schockierten Minen in meinem Umfeld entnehme ich, dass dieser Satz wohl nicht in meinem Kopf geblieben, sondern über meine Lippen hinaus durch den ganzen Raum geschallt ist.

Oh, Mann.

Sowas passiert immer nur mir. Millionen Menschen gehen zu Klassentreffen, haben einen langweiligen bis angenehmen Abend. Die Hälfte davon knutscht im Anschluss mit einem ehemaligen Klassenkameraden und geht fremd. Aber nur ein Mensch unter diesen Millionen von Menschen reißt die Klappe auf und düpiert den Ehrengast mit respektlosen, unfreundlichen Gedanken, die besser nie gesagt werden sollten.

Nun, jetzt sind sie aber raus, und alle stehen da und starren mich an. Wie die Salzsäuren, oder als hätte jemand die Zeit eingefroren.

Was nun?

Leugnen, dass ich das gesagt habe, kann ich nicht. Laut genug war es, das zeigen mir die Gesichter um mich herum.

„Das war nicht so gemeint“ sagen und lahm dabei lächeln? Peinlicher geht’s nicht mehr.

Außerdem habe ich es ja so gemeint, denke ich trotzig. Ich kann solche Menschen nicht ausstehen, die irgendwo hereinplatzen und von anderen Orten, Vereinen und was sonst auch immer schwärmen, die Anwesenden gönnerhaft darüber aufklären, wie zurückgeblieben sie sind und dass es doch woanders wesentlich klügere, bessere, kompetentere Menschen gäbe als dort, wo dieser Mensch es sich gerade eben bequem macht.

„Rot werden, eine Entschuldigung stammeln und flüchtend den Saal verlassen“, flüstert mir mein kleiner Feigling im Ohr zu, und fast wäre ich der Versuchung erlegen. Dann aber besinne ich mich. Wo soll ich denn hin? In mein Zimmer, bis morgen früh, damit ich niemandem mehr über den Weg laufe? Das ist fast so wie Stubenarrest. Und wenn ich zu alt zum Kichern bin, dann bin ich auch ganz sicher aus dem Alter für Stubenarrest hinaus.

Also denke ich mir: „Aufstehen, Krönchen richten, weitermachen“, recke das Kinn und lächele entwaffnend.

Die bewegen sich immer noch nicht. Und keiner sagt etwas. Ob ich mich noch bewegen kann? Ja klar, sonst hätte ich nicht das Kinn recken können. Eigentlich sieht dieser Mensch ja ganz nett aus, wenn er nur nicht so ein überheblicher Angeber wäre. Schweigen die jetzt schon Minuten lang oder kommt mir das nur so lang vor?

Ein Gedanke nach dem anderen jagt durch meinen Kopf, huscht durch die Ecken, wirbelt Staub auf und verschwindet wieder durch das Dachfenster. Soll ich es erklären, warum ich das gesagt habe?

Noch bevor ich diesen Gedanken weit von mir weisen kann, reißt ihn ein einsames schallendes Gelächter von mir fort. Ich starre entgeistert zu Andrea.

Aber nicht Andrea lacht, sondern Ansgar. Herzlich, ehrlich. Der ganze Mann lacht: Er hält sich den Bauch, die Schultern zucken, und mit weit zurückgeworfenem Kopf brüllt er sein lautes, angeberisches Amilachen heraus. Ich starre ihn an, als sei er verrückt geworden. Die anderen auch. Aber dann fallen sie zögernd mit in sein Lachen ein, überrascht und gleichzeitig erleichtert, weil mein Affront nicht den Abend zerstört hat.

Helga jedoch schaut fassungslos von einem zum anderen, den Tränen nahe, und begreift gar nichts.

Mir geht es nicht viel anders., auch wenn ich keinen Grund zum Weinen sehe. Gut, ich habe das nicht sagen wollen, aber er benimmt sich doch wirklich so. So völlig überheblich und unsensibel. Taktlos, ja taktlos, das ist das Wort, das mir fehlte, und während ich es in meinem Kopf ausprobiere, macht mein Bauch einen kleinen Hüpfer und sorgt gnadenlos dafür, dass ich schamrot werde. Denn letztendlich habe ich ihm gerade eben gezeigt, dass Taktlosigkeit nichts ist, was nur die Amis kennen. Das haben wir hier auch.

Ansgar hat sich soeben ein bisschen beruhigt und grinst mich über meinen ratlosen Blick hinweg an.

„Über sich selbst lachen können“, sagt er in einem höllisch breiten texanischen Akzent, den er mal so eben aus dem Hut zaubert. „Kennt Ihr das hier in Deutschland nicht? Ach, ja…“

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