Dunkle Zeiten

Als die Tage wieder dunkler wurden, begann für Romi eine schwere Zeit. Sie wusste genau, woran das lag, aber es gab niemanden in ihrer Klasse, mit dem sie darüber hätte reden können. So zog sie sich, je näher das Fest kam, weiter in sich zurück, und am letzten Tag vor den Ferien ging sie nach Haus, ohne auf die guten Wünsche, die ihr zugerufen wurden, zu achten. In sämtlichen Häusern und Wohnungen um sie herum wurde geschmückt, gebacken, gebastelt, wurden Lichter angezündet und Wunschzettel geschrieben. Die Menschen freuten sich auf das Weihnachtsfest, hatten es zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht, im Bewusstsein dessen, dass es in dieser dunklen Zeit ein strahlender Punkt sein würde, der dafür sorgte, dass sie die Zeit bis zum Frühjahr in irgendeiner Form überstanden. Für Romi gab es diese hellen Momente nicht. Weihnachten, das war für sie mit Schmerz, Anspannung, Wut, Trauer, Verzweiflung verbunden. Mit zerbrochenem Geschirr, Blut auf dem Teppich und ausgerissenen Haaren im Mülleimer. Weihnachten war für sie grölende Männer, die betrunkene Frauen auf ihren Schoß zogen, die achtlos ihre sorgsam gebastelten Geschenke auf den Boden warfen und auf sie traten, wenn sie dann im Weg lagen. Weihnachten hatte für sie persönlich ein „h“ zuviel, denn sie konnte es nur mit Weinbrand und brennenden Tränen in Verbindung bringen, so weit sie zurückdenken konnte. Dabei begann es jedes Jahr immer so friedlich…

„Dieses Jahr machen wir alles anders, Romi“ versprach ihre Mutter ihr jedes Jahr, und der Vater schwor Stein und Bein, dass er höchstpersönlich mit ihr den Christbaum aussuchen würde. Am ersten Advent saßen sie stets gemütlich beieinander und schmiedeten Pläne, die sich um Plätzchenbacken, Basteln, Geschichten erzählen, Spaziergänge im Schnee und Adventskalender drehten, und sie schrubbte mit ihrer Mutter die viel zu kleine Wohnung, bis jede Ecke glänzte, als sei sie schon geschmückt. Mit Feuereifer stürzte sie dann in den folgenden Tagen von der Schule nach Hause, bereit, all das auszuführen, von dem ihre Eltern gesprochen hatten. Doch statt des versprochenen Bastelmaterials stand auf der schäbigen Anrichte nur eine Batterie von Flaschen mit ungut riechendem Inhalt, und all die wohlfeilen Pläne wurden von Tag zu Tag weiter nach hinten verschoben. In den Wald ging sie dann allein, sammelte Kiefernzapfen und Tannenzweige, Steine und Moose, Beeren und Mistelzweige, mit denen sie dann begann, die Wohnung so herzurichten, dass es wenigstens etwas nach Vorweihnachtszeit aussah. Sie bespickte Orangen mit Nelken, um den schalen Geruch aus den Zimmern zu treiben, buk die einfachen Plätzchen, wie es die Oma ihr beigebracht hatte, als sie sie noch besuchen durfte, summte leise für sich Weihnachtslieder und bemalte die Rückseite vom Bescheid vom Arbeitsamt mit hübschen Ornamenten, um daraus zumindest ansatzweise einen Wunschzettel zu machen. Wenn es dann so richtig geschneit hatte, schrieb sie in Schönschrift ihren einzigen Wunsch, den sie hatte, auf den vorbereiteten Zettel und versteckte ihn dann in einer Schneelaterne, wie sie es bei „Petterson und Findus“ gelernt hatte. Doch Jahr um Jahr blieb der Zettel zurück, wurde nicht abgeholt, und so begann sie zu zweifeln. Sie fragte sich, ob sie nicht dieses grässliche Fest genau so verdient hatte, wie es Jahr um Jahr stattfand. Es kümmerte sich ja niemand um sie, wenn sie dann still in ihrer Ecke saß und den fremden

Menschen zusah, wie sie aus der Geburtstagsfeier für Jesus ein Besäufnis machten, eher einem Stammtisch würdig als diesem heiligen Anlass, und sie war froh, wenn der Zeitpunkt kam, an dem sie sich von den Anwesenden verabschiedet hatte. Dann ging sie still ins Bad, wusch sich endlos und ewig, bis sie den Alkohol- und Zigarettendunst nicht mehr roch, schlich zu ihrem Zimmerchen und holte den Schlüssel aus ihrer Tasche. Seit einmal dieser Mann in ihrem Zimmer gestanden hatte und sie wie am Spieß loskreischte, hatte ihre Mutter ihr erlaubt, sich am Heiligen Abend einzuschließen. Romi vermutete aber, dass das nichts mit ihrer Sorge um sie zu tun hatte sondern nur mit den unschönen Folgen, die dieser Abend damals hatte. Es gab einen Riesenaufruhr, denn auch unter diesen volltrunkenen Menschen gab es noch ein oder zwei mit einem Fünkchen Anstand, der sie dazu anhielt, diesen widerlichen Menschen von ihr fort zuziehen. Es artete in eine üble Prügelei aus, und die Blutflecken waren bis heute noch nicht ganz raus aus dem Teppich, gleich wie oft sie versuchte, ihn zu reinigen. Immer noch hörte sie die zu einer Groteske verstümmelten Worte der Strafpredigt, mit der ihr Vater sie seinerzeit zulallte, und jedes einzelne Wort saß wie ein Messerstich in ihrem Herz. Romi hatte ihm schweigend zugehört, mit hochrotem Kopf, da er diese Ansprache vor den versammelten Gästen hielt, vor diesem Schwurgericht aus alkoholkranken Tagedieben und liederlichen Weibsbildern, die ihre zerrissenen Kleider kritisch begutachteten und die Röte in ihrem Gesicht als schamvolles Schuldeingeständnis hinnahmen. Schöne Augen hätte sie dem Gast gemacht, den ganzen Abend schon, klagte ihr Vater sie an. Eine Hure hätte er an seinem Busen genährt, keinen Deut besser als die Alte, die er aushalten müsse. An dieser Stelle, erst dann, hatte ihre Mutter zu protestieren begonnen, beschimpfte ihn als Säufer und Taugenichts, der kein Recht hätte über sie – sie!! – zu urteilen. Die Folge waren weitere Streitereien, bei denen zur Krönung der Christbaum umfiel und das Wohnzimmer in Brand steckte. Im darauffolgenden Jahr schloss die Mutter am Heiligabend Romis Zimmer ab und reichte ihr schweigend den Schlüssel – und einen Christbaum gab es nie wieder.

„Dieses Jahr wird alles anders“, versprach ihre Mutter Romi, als sie am ersten Advent beisammen saßen und heißen Kakao tranken. Der Duft der gebackenen Plätzchen vermischte sich mit dem der Nelken, die in ihrem Orangenbett auf der Heizung ruhten. „Ja“, antwortete Romi, wie in jedem Jahr. Aber dann fuhr sie fort. „In den vergangenen Wochen habe ich viel nachgedacht, Erkundigungen eingeholt und mich darum gekümmert, dass es anders wird – Nein, lasst mich bitte dieses eine Mal ausreden.“ Romi hob die Hand, um die Unterbrechungsversuche ihrer Eltern abzuwehren. „Ich werde in zwei Wochen 16 Jahre alt, und hier verfaule ich wie ein Apfel, der sich im Obstkorb an anderen faulen Früchten anlehnt. In jedem Jahr wird es immer schwieriger für mich, euch zu verzeihen, dass ihr eure Versprechen nicht einhaltet. Von Moment zu Moment wird es für mich schwerer, über eure Exzesse hinwegzusehen, sie vor allem vor dem Rest der Welt zu kaschieren. Ich kann es nicht mehr, und ich will es auch gar nicht mehr.“ Sie strich sich mit einer fahrigen Bewegung die Haare aus dem Gesicht, ein Zeichen für dafür, wie schwer ihr das alles fiel. Und dennoch gab sie sich einen Ruck und fuhr fort, entschlossen, für ihre Zukunft zu kämpfen. „Ich war bei der Jugendberatung, Papa, und beim Verein für Kinder alkoholkranker Eltern und habe mich beraten lassen. Es liegt an euch, wie es in Zukunft weitergeht. Ihr könnt für mich betreutes Wohnen beantragen, dort kann ich noch vor Weihnachten einen Wohnplatz bekommen. Oder aber,“ ihre Stimme wurde lauter um den beginnenden Protest zu übertönen,

„ich zeige Euch beim Jugendamt an wegen permanenter Misshandlung und Vernachlässigung, dann wird euch das Sorgerecht von Amts wegen entzogen und ihr werdet euch vor dem Gericht verantworten müssen.“ Schnell sprach sie weiter, voller Angst, dass ihr Vater noch vor dem Ende ihrer immer wieder geprobten Ansprache völlig die Kontrolle über sich verlieren würde. „Ich will euch nicht strafen oder bloßstellen, aber ich will, nein ich muss an meine Zukunft denken, und ich weiß, dass ich hier keine haben werde. All die Jahre habe ich geschwiegen, gehofft, dass ihr eure Versprechen haltet, dass ihr nicht mehr so viel trinkt, dass ihr mir helft, euch Arbeit sucht, dass wir eine richtige Familie werden, aber ich weiß, dass das niemals geschehen wird. Nein, Mama, schau nicht so verletzt. Ich bin diejenige, die jahrelang eure Beschimpfungen hinnehmen musste, die heimlich nachts weinte, weil aus dem versprochenen Tagesausflug zum Meer wieder nichts wurde, die am Monatsende in den Geschäften um ein Brot und eine Handvoll Nudeln betteln musste, damit ich überhaupt etwas zu essen bekam.“ Unwillig wischte Romi die Tränen weg, die ihr ungewollt über die Wangen liefen. „Ich habe all die Jahre heimlich Oma in ihrem Heim besucht, heimlich. Ich musste euch hintergehen, um die einzige Person nicht zu verlieren, der ich wirklich wichtig bin. Ich habe es nie verstanden, warum ich nicht mehr zu ihr durfte, Mama, und ich bin froh, dass ich mich nicht an euer Verbot gehalten habe. Eine Pflegerin dort gab mir die Adressen der Organisationen, an die ich mich wenden kann, und Oma hat mich in diesem Vorhaben bestärkt.“ Während sie weitersprach, sorgsam darauf bedacht, keine allzu lange Pause aufkommen zu lassen, die ihren Eltern die Gelegenheit gegeben hätte, ihr ins Wort zu fallen, holte Romi ein paar Unterlagen aus ihrer Schultasche. „Ich war da, Papa. Und sie gaben mir ein Antragsformular mit, das ihr nur noch unterschreiben müsst.“ Zitternd vor lauter unterdrückten Tränen, vor Aufregung, vor Erstaunen über ihrem eigenen Mut, hielt sie ihrem Vater die Papiere hin. Wortlos starrte er sie an und kurz, nur für den Hauch eines Augenblicks, blitzte widerwilliger Respekt in seinen Augen auf, der bald schon überschattet wurde von dem leeren Blick, der sonst immer in seinen Augen die Kontrolle übernahm. Romi stand auf und hielt ihm die Papiere noch näher hin, fast berührten sie seine Finger, aber er rührte sich nicht. Fragend drehte sie sich zu ihrer Mutter, bat sie mit stummem Blick, den Antrag in ihre Hände zu nehmen, doch der ausweichende Blick verriet Romi, dass sie auch hier keine Unterstützung zu erwarten hatte. So legte sie sanft die Unterlagen auf der Anrichte ab, drehte sich um und ging hinaus. Sie hatte noch viel zu tun, bis die Mühlen des Jugendamtes für sie zu mahlen beginnen würden.

In diesem Jahr würde sie auf keinen Fall mehr bei ihren Eltern Weihnachten feiern, das hatte Romi schon beschlossen. Sie würde die Einladung ihrer Großmutter annehmen, würde Weihnachtsschmuck für das Altenheim anfertigen, ein Gedicht auswendig lernen, ein Geschenk für ihre Oma basteln – und ihren Wunschzettel in die Schneelaterne legen.

In diesem Jahr würde alles anders.

Der erste Schritt war getan.

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