Drei Stunden am See

Die Idee war mir ganz spontan eingefallen, als M. mich anrief und einen Termin für unser wöchentliches Treffen mit mir absprechen wollte. M. ist mein Coach, meine ambulante Betreuung. Nicht zu verwechseln mit einer gesetzlichen Betreuung, sondern jemand, der mir dabei helfen soll, meine Selbstständigkeit trotz meiner Erkrankung zu behalten.


Als wir telefonierten, erschien vor meinem geistigen Auge das Auto, das in diesen Zeiten unser Haupt-Treffpunkt ist. Meistens fahren wir einkaufen, oder wir nehmen Arzttermine wahr, besprechen meine Sorgen und entwickeln Strategien zur Bewältigung von Schwierigkeiten, die immer mal wieder auftauchen, mit denen ich mich dann aber oft überfordert fühle. Wir erledigen also Dinge, die ich mir alleine nicht zutraue. Vor Corona haben wir uns auch oft mal in einem Café oder in ihrem Büro getroffen oder M. kam zu mir in die Wohnung.

Das geht nun gerade überhaupt nicht. Die Hygiene-Vorschriften verbieten das. Aber ich habe überhaupt keine Lust mehr auf diesen rein dienstlichen Kontakt. Mehr noch, mich ängstigt dieses Social Distancing, denn gerade jetzt befinde ich mich in einer Phase, in der ich zum Rückzug neige, in der ich selbst die wenigen noch zugelassenen Kontakte abblocke. Nun, etwas zu erkennen ist das Eine, aber Gegenstrategien zu entwickeln und sie auch noch anzuwenden? Das steht auf dem berühmten anderen Blatt, das in die Hand zu nehmen mir schwerfällt.

Ich kämpfe jeden Tag mit mir. Arbeite daran, dass ich Anrufe annehme, nicht abblocke, Mails und Messenger-Nachrichten nicht unbeantwortet lasse. Dass ich nicht einfach alles abschalte und mich treiben lasse. Denn trotz dieser „freiwilligen“ Isolation, die für mich einem Rückfall in alte Verhaltensmuster gefährlich nahekommt, merke ich, wie sehr mir das fehlt: Menschlicher Kontakt.

Gleichzeitig weiß ich aber auch um die Situation meines Coachs. Viele ihrer Kollegen sind krank oder arbeiten nur noch vom Home-Office aus und so bleiben alle Kontakt-Termine an ihr und einem – wohlgemerkt einem! – Helfer hängen. So gerne die beiden das auch machen: Es zehrt, denn sie müssen zusätzlich zu ihren eigenen Klienten auch die der anderen Coaches und Helfer übernehmen. Das ist also eine vierfache Belastung, für jeden von ihnen. Ich weiß auch, dass mein Coach nicht nur wegen der Überbelastung zu den Risikopatienten gehört. Einige Vorerkrankungen, die ihr immer wieder zu schaffen machen, würden ihr jedes Recht dazu geben, auf persönliche Kontakte zu verzichten. Aber das tut sie nicht, nein. Sie nimmt sich auch noch der Problemfälle ihrer Kollegen an, jene Klienten, die auf jeden Fall den persönlichen Kontakt brauchen. Woche für Woche sehe ich, wie sehr sie das alles belastet und Woche für Woche überlege ich, ob ich denn wirklich unbedingt jemanden benötige, der mich zu Terminen begleitet. Vielleicht könnte ich auch einfach diese Termine absagen?

Während ich also zögerte, einem weiteren Termin zuzusagen, hatte ich auf einmal ein Bild vor mir. Natur, eine Bank zum Sitzen, Kaffee in Thermoskannen. Vielleicht ein See, damit ich überhaupt mal wieder in der Nähe eines Gewässers sein kann. Sehnsucht packte mich und bevor ich noch großartig überlegen konnte, platzte es aus mir heraus: „Wie wäre es denn, wenn wir diesmal einfach einen Kaffee am Blausteinsee trinken? Ich weiß, da hat alles zu, aber an den See darf man noch. Ich bring eine Thermoskanne mit und wir setzen uns gemütlich hin und genießen mal einfach die Sonne.“

Mein Coach hatte nichts dagegen, und so verabredeten wir uns für den heutigen Tag. Gemächlich fuhren wir in die Richtung des beliebten Naherholungszentrums, während wir gleichzeitig die dienstlichen Neuigkeiten abhandelten. Ohne großartig darüber geredet zu haben, waren wir uns einig: Das hier ist die Pflicht, aber am See kommt dann die großartige Kür.

So schweigen wir dann auf den ersten Metern durch den Wald, der uns zu dem Weg führt, auf dem man den See umrunden kann. Aber zwischen M. und mir dauert es nie sehr lange und wir finden auch heute schnell Themen, die uns beschäftigen.

Der Blausteinsee ist einer der wenigen Seen in unserer Heimat, der als Naherholungsgebiet ausgewiesen ist. Hier gibt es jede Menge Möglichkeiten Sport zu treiben. Baden, angeln, tauchen, paddeln und segeln kann man hier genauso wie wandern, reiten, radfahren, skaten. Seit neuestem gibt es sogar eine E-Bike-Station. Dann gibt es natürlich noch einen Gastronomiebereich, dem auch ein großer Kinderspielplatz angeschlossen ist. Trotz all dem ist rund ein Drittel des Sees Naturschutzgebiet.

Naherholungsgebiet. Die Verantwortlichen des Freizeitzentrums machen gerne daraus ein Wortspiel: „Nicht nur der Mensch, sondern auch die Flora und Fauna kann sich hier erholen.“ Und natürlich ist auch hier der Naturschutzbund nicht fern und hat ein Naturhaus aufgebaut, in dem „Naturschutzberatung“ und „Umweltbildung“ stattfindet und Naturschutzprojekte ins Leben gerufen werden.

Allein die Ruhe gibt mir schon ein Gefühl der Erholung und ich laufe das erste Mal seit Monaten schmerzfrei eine längere Strecke. Vermutlich, weil es sanft, kaum merklich bergab geht. Meine Knie und mein Rücken bedanken sich für diese Strecke mit huldvollem Schweigen.

Schließlich gelangen wir an den See und wir können schon von weitem erkennen, dass es an den üblichen Stellen kaum einen Platz geben wird, an dem wir gemütlich unsere Thermoskannen auspacken können. So schlagen wir uns in die Bresche, laufen den Grüngürtel, der rund um den See verläuft, entlang und nutzen einen kleinen Trampelpfad, der dennoch ein gerüttelt Maß an Hindernissen wie zum Beispiel dicke Äste und größere Steine bietet. Aber wir sind wagemutig geworden und uns ergreift schon fast ein bisschen Abenteuerstimmung, während wir uns bis zum Seeufer hindurchkämpfen.

Dann endlich stehen wir direkt da, an der Kante. Wir hören das Wasser plätschern. Der Wind streicht sanft durch die Bäume und Sträucher und ab und zu lässt auch einer der Vögel sein Gezwitscher hören. Ich schließe die Augen, nur für einen Moment, denn so lange schon habe ich kein größeres Gewässer mehr gesehen. Ich atme tief ein, ganz tief, halte die Luft an, bis ich nicht mehr kann. Dann erst lasse ich die Luft entweichen und öffne dabei wieder meine Augen.

M. hat mir dabei zugesehen. Sie lächelt und ich spüre, dass sie genau weiß, was ich empfinde.

Wir suchen uns zwei umgestürzte Bäume, testen, ob sie unser Gewicht tragen oder ob sie schon zu morsch sind. Aber alles geht gut und wir setzen uns. Es mutet fast wie ein Ritual an, wie wir da unsere Thermoskannen herausholen, Becher auspacken. Ich habe sogar Milch und Zucker mitgebracht, da ich nicht wusste, dass auch M. für unseren kleinen Ausflug Proviant mitbringen wollte und wir beide auf unterschiedliche Art unseren Kaffee genießen.

Das Gespräch plätschert dahin. Eine ganze Weile gelingt es uns, die aktuelle Krise außen vor zu lassen. Doch dann findet sie in einem Nebensatz einen kleinen Raum und breitet sich von dort weiter aus.

Wir erzählen uns von dem, was wir wahrnehmen, erleben. Von Einzelfällen, natürlich. Von Menschen, durch das Raster fallen, weil sie allein sind, weil sie keine Hilfe annehmen können, sofern sie nicht von vertrauten Personen kommt. Weil sie Krankheiten haben, die sich nicht auf den Virus beziehen und daher von den Krankenhäusern vertröstet werden müssen. Aber auch von Menschen, die offenbar noch nicht gemerkt haben, wie schlimm es uns alle treffen kann, wenn sie sich nicht an die Hygienevorgaben halten: Da sitzen Menschen bei Partys eng beieinander, teilen sich Gläser, Zigaretten. Mundschutz? Kein Thema, bei diesen Menschen. Natürlich sind auch das Einzelfälle. Nur: All diese Einzelfälle machen etwas mit unserer Wahrnehmung. Weil es nicht Erzählungen sind von Bekannten, die das von der Schwester ihrer Schwägerin erfahren haben, die das bei Facebook in einer Betroffenengruppe gelesen haben. Weil es Menschen sind, die wir kennen. Die, die durchs Raster fallen und die, die sich nicht im Geringsten darum scheren, ob sie andere mit ihrem Verhalten gefährden.

Irgendwann landen wir wieder bei anderen Themen. Wir erfreuen uns an der Umgebung, nehmen wahr, wie gut uns dieser winzige Urlaub tut, fernab von allen Verpflichtungen. Obwohl doch auch diesem Ausflug ein Termin zugrunde liegt.

„Ich habe das schon begriffen“, sagt M. auf einmal. „Dass es bei diesem Ausflug nicht nur um eine Auszeit für dich geht.“ Ich grinse verlegen, fühle mich ertappt und sie lacht. „Ich kenne dich gut genug“, sagt sie noch, und, dass sie das schon in dem Moment wusste, als ich sie um diesen Ausflug bat. Dann streckt sie sich und ich nehme es als das wahr, was es mir sagen soll: Wir müssen zurück. Aber auch: Auch ihr hat das gutgetan und sie dankt mir mit jedem Zeichen dafür.

Gemächlich machen wir uns wieder auf den Weg zum Auto, auch wenn keiner von uns das so richtig will. In der nächsten Woche werden wir wieder einkaufen gehen. Heute aber, heute haben wir drei Stunden geschwänzt: Pflichten, Sorgen, Corona standen für uns nicht auf dem Stundenplan.

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