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Drei Stunden am See

Die Idee war mir ganz spontan eingefallen, als M. mich anrief und einen Termin für unser wöchentliches Treffen mit mir absprechen wollte. M. ist mein Coach, meine ambulante Betreuung. Nicht zu verwechseln mit einer gesetzlichen Betreuung, sondern jemand, der mir dabei helfen soll, meine Selbstständigkeit trotz meiner Erkrankung zu behalten.


Als wir telefonierten, erschien vor meinem geistigen Auge das Auto, das in diesen Zeiten unser Haupt-Treffpunkt ist. Meistens fahren wir einkaufen, oder wir nehmen Arzttermine wahr, besprechen meine Sorgen und entwickeln Strategien zur Bewältigung von Schwierigkeiten, die immer mal wieder auftauchen, mit denen ich mich dann aber oft überfordert fühle. Wir erledigen also Dinge, die ich mir alleine nicht zutraue. Vor Corona haben wir uns auch oft mal in einem Café oder in ihrem Büro getroffen oder M. kam zu mir in die Wohnung.

Das geht nun gerade überhaupt nicht. Die Hygiene-Vorschriften verbieten das. Aber ich habe überhaupt keine Lust mehr auf diesen rein dienstlichen Kontakt. Mehr noch, mich ängstigt dieses Social Distancing, denn gerade jetzt befinde ich mich in einer Phase, in der ich zum Rückzug neige, in der ich selbst die wenigen noch zugelassenen Kontakte abblocke. Nun, etwas zu erkennen ist das Eine, aber Gegenstrategien zu entwickeln und sie auch noch anzuwenden? Das steht auf dem berühmten anderen Blatt, das in die Hand zu nehmen mir schwerfällt.

Ich kämpfe jeden Tag mit mir. Arbeite daran, dass ich Anrufe annehme, nicht abblocke, Mails und Messenger-Nachrichten nicht unbeantwortet lasse. Dass ich nicht einfach alles abschalte und mich treiben lasse. Denn trotz dieser „freiwilligen“ Isolation, die für mich einem Rückfall in alte Verhaltensmuster gefährlich nahekommt, merke ich, wie sehr mir das fehlt: Menschlicher Kontakt.

Gleichzeitig weiß ich aber auch um die Situation meines Coachs. Viele ihrer Kollegen sind krank oder arbeiten nur noch vom Home-Office aus und so bleiben alle Kontakt-Termine an ihr und einem – wohlgemerkt einem! – Helfer hängen. So gerne die beiden das auch machen: Es zehrt, denn sie müssen zusätzlich zu ihren eigenen Klienten auch die der anderen Coaches und Helfer übernehmen. Das ist also eine vierfache Belastung, für jeden von ihnen. Ich weiß auch, dass mein Coach nicht nur wegen der Überbelastung zu den Risikopatienten gehört. Einige Vorerkrankungen, die ihr immer wieder zu schaffen machen, würden ihr jedes Recht dazu geben, auf persönliche Kontakte zu verzichten. Aber das tut sie nicht, nein. Sie nimmt sich auch noch der Problemfälle ihrer Kollegen an, jene Klienten, die auf jeden Fall den persönlichen Kontakt brauchen. Woche für Woche sehe ich, wie sehr sie das alles belastet und Woche für Woche überlege ich, ob ich denn wirklich unbedingt jemanden benötige, der mich zu Terminen begleitet. Vielleicht könnte ich auch einfach diese Termine absagen?

Während ich also zögerte, einem weiteren Termin zuzusagen, hatte ich auf einmal ein Bild vor mir. Natur, eine Bank zum Sitzen, Kaffee in Thermoskannen. Vielleicht ein See, damit ich überhaupt mal wieder in der Nähe eines Gewässers sein kann. Sehnsucht packte mich und bevor ich noch großartig überlegen konnte, platzte es aus mir heraus: „Wie wäre es denn, wenn wir diesmal einfach einen Kaffee am Blausteinsee trinken? Ich weiß, da hat alles zu, aber an den See darf man noch. Ich bring eine Thermoskanne mit und wir setzen uns gemütlich hin und genießen mal einfach die Sonne.“

Mein Coach hatte nichts dagegen, und so verabredeten wir uns für den heutigen Tag. Gemächlich fuhren wir in die Richtung des beliebten Naherholungszentrums, während wir gleichzeitig die dienstlichen Neuigkeiten abhandelten. Ohne großartig darüber geredet zu haben, waren wir uns einig: Das hier ist die Pflicht, aber am See kommt dann die großartige Kür.

So schweigen wir dann auf den ersten Metern durch den Wald, der uns zu dem Weg führt, auf dem man den See umrunden kann. Aber zwischen M. und mir dauert es nie sehr lange und wir finden auch heute schnell Themen, die uns beschäftigen.

Der Blausteinsee ist einer der wenigen Seen in unserer Heimat, der als Naherholungsgebiet ausgewiesen ist. Hier gibt es jede Menge Möglichkeiten Sport zu treiben. Baden, angeln, tauchen, paddeln und segeln kann man hier genauso wie wandern, reiten, radfahren, skaten. Seit neuestem gibt es sogar eine E-Bike-Station. Dann gibt es natürlich noch einen Gastronomiebereich, dem auch ein großer Kinderspielplatz angeschlossen ist. Trotz all dem ist rund ein Drittel des Sees Naturschutzgebiet.

Naherholungsgebiet. Die Verantwortlichen des Freizeitzentrums machen gerne daraus ein Wortspiel: „Nicht nur der Mensch, sondern auch die Flora und Fauna kann sich hier erholen.“ Und natürlich ist auch hier der Naturschutzbund nicht fern und hat ein Naturhaus aufgebaut, in dem „Naturschutzberatung“ und „Umweltbildung“ stattfindet und Naturschutzprojekte ins Leben gerufen werden.

Allein die Ruhe gibt mir schon ein Gefühl der Erholung und ich laufe das erste Mal seit Monaten schmerzfrei eine längere Strecke. Vermutlich, weil es sanft, kaum merklich bergab geht. Meine Knie und mein Rücken bedanken sich für diese Strecke mit huldvollem Schweigen.

Schließlich gelangen wir an den See und wir können schon von weitem erkennen, dass es an den üblichen Stellen kaum einen Platz geben wird, an dem wir gemütlich unsere Thermoskannen auspacken können. So schlagen wir uns in die Bresche, laufen den Grüngürtel, der rund um den See verläuft, entlang und nutzen einen kleinen Trampelpfad, der dennoch ein gerüttelt Maß an Hindernissen wie zum Beispiel dicke Äste und größere Steine bietet. Aber wir sind wagemutig geworden und uns ergreift schon fast ein bisschen Abenteuerstimmung, während wir uns bis zum Seeufer hindurchkämpfen.

Dann endlich stehen wir direkt da, an der Kante. Wir hören das Wasser plätschern. Der Wind streicht sanft durch die Bäume und Sträucher und ab und zu lässt auch einer der Vögel sein Gezwitscher hören. Ich schließe die Augen, nur für einen Moment, denn so lange schon habe ich kein größeres Gewässer mehr gesehen. Ich atme tief ein, ganz tief, halte die Luft an, bis ich nicht mehr kann. Dann erst lasse ich die Luft entweichen und öffne dabei wieder meine Augen.

M. hat mir dabei zugesehen. Sie lächelt und ich spüre, dass sie genau weiß, was ich empfinde.

Wir suchen uns zwei umgestürzte Bäume, testen, ob sie unser Gewicht tragen oder ob sie schon zu morsch sind. Aber alles geht gut und wir setzen uns. Es mutet fast wie ein Ritual an, wie wir da unsere Thermoskannen herausholen, Becher auspacken. Ich habe sogar Milch und Zucker mitgebracht, da ich nicht wusste, dass auch M. für unseren kleinen Ausflug Proviant mitbringen wollte und wir beide auf unterschiedliche Art unseren Kaffee genießen.

Das Gespräch plätschert dahin. Eine ganze Weile gelingt es uns, die aktuelle Krise außen vor zu lassen. Doch dann findet sie in einem Nebensatz einen kleinen Raum und breitet sich von dort weiter aus.

Wir erzählen uns von dem, was wir wahrnehmen, erleben. Von Einzelfällen, natürlich. Von Menschen, durch das Raster fallen, weil sie allein sind, weil sie keine Hilfe annehmen können, sofern sie nicht von vertrauten Personen kommt. Weil sie Krankheiten haben, die sich nicht auf den Virus beziehen und daher von den Krankenhäusern vertröstet werden müssen. Aber auch von Menschen, die offenbar noch nicht gemerkt haben, wie schlimm es uns alle treffen kann, wenn sie sich nicht an die Hygienevorgaben halten: Da sitzen Menschen bei Partys eng beieinander, teilen sich Gläser, Zigaretten. Mundschutz? Kein Thema, bei diesen Menschen. Natürlich sind auch das Einzelfälle. Nur: All diese Einzelfälle machen etwas mit unserer Wahrnehmung. Weil es nicht Erzählungen sind von Bekannten, die das von der Schwester ihrer Schwägerin erfahren haben, die das bei Facebook in einer Betroffenengruppe gelesen haben. Weil es Menschen sind, die wir kennen. Die, die durchs Raster fallen und die, die sich nicht im Geringsten darum scheren, ob sie andere mit ihrem Verhalten gefährden.

Irgendwann landen wir wieder bei anderen Themen. Wir erfreuen uns an der Umgebung, nehmen wahr, wie gut uns dieser winzige Urlaub tut, fernab von allen Verpflichtungen. Obwohl doch auch diesem Ausflug ein Termin zugrunde liegt.

„Ich habe das schon begriffen“, sagt M. auf einmal. „Dass es bei diesem Ausflug nicht nur um eine Auszeit für dich geht.“ Ich grinse verlegen, fühle mich ertappt und sie lacht. „Ich kenne dich gut genug“, sagt sie noch, und, dass sie das schon in dem Moment wusste, als ich sie um diesen Ausflug bat. Dann streckt sie sich und ich nehme es als das wahr, was es mir sagen soll: Wir müssen zurück. Aber auch: Auch ihr hat das gutgetan und sie dankt mir mit jedem Zeichen dafür.

Gemächlich machen wir uns wieder auf den Weg zum Auto, auch wenn keiner von uns das so richtig will. In der nächsten Woche werden wir wieder einkaufen gehen. Heute aber, heute haben wir drei Stunden geschwänzt: Pflichten, Sorgen, Corona standen für uns nicht auf dem Stundenplan.

Do it yourself

Prüfend schaut sich Nora in ihrem Bad um. Ganz sicher ist sie sich nicht, aber sie findet, dass die neuen Fliesen und das Laminat gut zueinander passen. Es gibt dem Ganzen einen mediterranen Stil, findet sie.

„Gut, dass wir schon vor dem Lockdown mit der Planung für das neue Badezimmer angefangen haben“, schießt es ihr durch den Kopf. So standen alle Materialien bereit, als der Startschuss für den Umbau fiel.


Startschuss. Nora schmunzelt. Sie hat etwas übrig für Wortspiele und dieses Wortspiel ist ein ganz besonderes, eines, das nur sie verstehen würde. Als sie geschossen hatte, hatte es gestürmt und niemandem konnte aufgefallen sein, dass der Knall mehr war als das wetterbedingte Phänomen, wenn Donner und Blitz zur gleichen Zeit explodierte. So gesehen war Svens Timing perfekt gewesen. Genau in dieser Nacht hatte er wieder einmal gedemütigt, verprügelt und derart misshandelt, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen war, sich gegen seine perversen Spielchen zu wehren, die er so gerne mit ihr trieb, die sie jedoch allenfalls mit Abscheu, nicht aber mit Leidenschaft erfüllten.

Gut, sie hatte es sich so ausgesucht. Es sollte ein Mann sein, ein richtiger Mann. Und er sollte gutaussehend und gut situiert sein. Alternativ wäre ihr auch ein reicher alter Knacker recht gewesen, wenn dieser dann zügig das Zeitige gesegnet hätte. Aber das Glück war Nora hold gewesen und sie fand in Sven tatsächlich jemanden, nicht nur gut für sie sorgen konnte, sondern auch allen anderen Wünschen entsprach: Er hatte neben seinem großen Anwesen, seiner Garage mit einigen Luxuskarossen und einem prall gefüllten Bankkonto auch noch einen göttlichen Körper und eine charismatische Ausstrahlung zu bieten und war bereit, sie auf Händen zu tragen.

Bis die Flitterwochen vorbei waren. Dann erst zeigte sich, dass man immer bedenken sollte, was man sich wünscht…

Nora schüttelt sich und kehrt in die Gegenwart zurück. Sie muss überlegen, was als nächstes zu tun ist.  „Dazu sollte ich mich wohl als erstes darüber informieren, wie der Stand der Dinge da draußen ist“, denkt sie und lässt die nahe Vergangenheit Revue passieren.

Seit sechs Tagen ist sie nicht mehr aus dem Haus gegangen, hat die ganze Zeit durchgearbeitet. Und nun endlich sieht das Badezimmer so aus, wie sie es sich immer vorgestellt hat. Dank ihrer handwerklichen Fähigkeiten und unzähligen Youtube-Tutorials hat sie sogar die neue Badewanne selbst eingebaut und verfugt, die Heizkörper angeschlossen – kurz und gut: Nichts im Bad ist mehr so wie vorher und sie hat niemanden helfen lassen.

Nora schaut an sich herunter und beschließt, erst einmal in Ruhe ein Bad zu nehmen. Sie will den Schmutz und den Staub von ihrer weichen, leicht gebräunten Haut spülen, ihre langen, blonden Locken pflegen, will sich nach all dieser Handwerksarbeit wieder weiblich fühlen. Spontan beugt sie sich zu ihren Schuhen, um sie auszuziehen, streift die Sportsocken ab. Sie richtet sich wieder auf, öffnet die Latzhose, lässt sie zu Boden gleiten, streift das langärmlige Shirt ab. Auf Unterwäsche hat Nora schon immer gerne verzichtet; sie ist für sie nur Verschwendung. Lediglich in ihrer Zeit mit Sven hat sie welche getragen. Anfangs heiße, knappe Tangas, die seine Leidenschaft für sie befeuern sollten. Je schlimmer es mit ihrer Ehe wurde, desto langweiliger wurden dann allerdings auch ihre Wäschestücke. Sie wollte nicht mehr attraktiv für ihn sein, wollte seine Lust nicht mehr reizen. Seit der Nacht, in der sie sich ihre blutgetränkten Kleidungsstücke ausgezogen hatte, trägt sie nichts unter der Oberbekleidung. Und sie genießt es mit jedem Tag mehr.

Nora schaltet den Fernseher ein, den sie höchstpersönlich an der Wand festmontiert hat. Während das heiße Wasser in die Wanne schießt, lässt sie ein paar Badeperlen in das Wasser gleiten. Sie genießt den Geruch, der sofort mit den Dämpfen aufsteigt. Sandelholz und ein Hauch von Bergamotte. Ein Hochzeitsgeschenk einer der Geschäftspartner ihres Mannes. Sven wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie so etwas verdient hätte.

„Du kriegst schon genug von mir“, war sein Standardspruch gewesen, wenn sie um etwas gebeten hatte. Noch nicht einmal ein Taschengeld hatte er ihr zugestanden; alles hatte er selbst eingekauft. Die Lebensmittel über einen Lieferanten, Kleider übers Internet, die Rechnungen liefen alle über seinen Tisch. Was sie bestellte wurde zurückgeschickt und sie wurde bestraft. So war sie tatsächlich völlig von ihm abhängig und das ließ er sie jeden Tag spüren.

Nun, das hatte ihm letztendlich ein Loch an einer ihm äußerst unangenehmen Stelle eingebracht. An einer tödlichen Stelle, gewissermaßen.

Während das heiße, wohlriechende Wasser ihren Körper umschmeichelt, entspannt sich Nora und sie streichelt über die Stellen ihrer Haut, die noch immer Zeugnis seiner Misshandlungen geben. Gegen ihren Willen schweifen ihre Gedanken ab, bringen sie in die Nacht zurück, in der Sven das letzte Mal Hand an sie legte.

Es schien ein Tag wie jeder andere zu sein. Also: Gähnende Langeweile für sie, da Nora nichts anderes zu tun hatte als sich zu pflegen, damit sie schön für ihn war. Ansonsten blieb ihr Netflix und Zeitschriften, die er für sie ausgesucht hatte, ein Bad im Swimmingpool oder eben… nichts tun. Das Bisschen, was es für sie im Haushalt zu tun gab, war innerhalb einer halben Stunde erledigt, geputzt wurde einmal in der Woche von einer Putzfrau. Er aß grundsätzlich außerhalb, denn er bestellte für sie nur Lebensmittel, die darauf abgestimmt waren, sie rank und schlank zu halten. Das durfte sie natürlich nicht mit ihm gemeinsam einnehmen, denn Sven fand es abstoßend, sie essen zu sehen. „Wie du in deinem Salat herumstocherst! Wie ein verwöhnter Geier, dem die Knochen nicht zusagen!“ In Vergleichen war ihr Ehemann nie besonders gut gewesen, aber was hatte sie das schon gestört, als sie ihn kennenlernte? Er war attraktiv, er war männlich und er war reich – mehr hatte sie ja nie gewollt.

Sie hatte also ihr Essen schon lange zu sich genommen, als er nach Hause kam. Wie immer hatte sie früh genug gehört, wie sein Auto die Auffahrt entlangfuhr, so dass sie rechtzeitig an der Haustür auf ihn warten konnte. Sie spürte sofort, dass sein Tag nicht gut gelaufen war, denn statt sie keines Blickes zu würdigen, wie er das inzwischen üblicherweise tat, blieb er stehen und erfasste ihre Erscheinung ganz genau.

„Sahst auch schon mal besser aus“, nuschelte er und Nora schwante Böses. Er hatte schon außerhalb getrunken. Das war nicht gut, gar nicht gut! In der Hoffnung ihn zu besänftigen entschuldigte sie sich bei ihm. Sie würde es besser machen, morgen. Er lachte höhnisch auf.

„Morgen? Da hab ich vielleicht gar keine Lust mehr auf dich. Geh nach oben und zieh dir was Vernünftiges an!“

„Was Vernünftiges“ bedeutete für ihn, dass sie die Reizwäsche anziehen sollte, die er so erregend fand. Dies und das durchscheinende Negligé, das er von der letzten Geschäftsreise mitgebracht hatte. Dazu Heels, natürlich. „Und schmink dich so, dass man dich auch ansehen will!“, blaffte er ihr hinterher.

Während Nora nach oben lief, zog sich alles in ihr zusammen. Es würde also wieder einmal einer dieser Abende werden.  Sie würde vor ihm hin und her laufen müssen. Er würde sich über ihre fetten Oberschenkel und die viel zu kleinen Titten echauffieren. Dann würde er sie zwingen, sich vor ihn zu knien, den Mund weit geöffnet, damit er sie „wenigstens etwas von Wert“ betanken könnte. Für jeden Tropfen, den sie nicht auffangen konnte, würde sie Hiebe bekommen. Erst dann, das wusste sie, war er überhaupt bereit, sie in irgendeiner Form zu penetrieren. 

Sie wollte sich nicht alles ausmalen, was auf sie zukommen könnte – nein, würde! – denn das meiste war zu schrecklich, zu grausam und wenn sie daran denken würde, verließe sie der Mut und sie würde zu große Angst haben, ihr Zimmer überhaupt zu verlassen. Also blendete sie alles aus und beeilte sich, sich für ihn zu präparieren.

Als sie schließlich die Treppe heruntereilte, erhielt sein Spiel aber eine Variante, die bisher noch nie vorgekommen war: Sie hörte Stimmen in seinem Arbeitszimmer. Sven war also nicht allein!

Nora zögerte. Was sollte sie jetzt tun? Bisher waren seine Demütigungen immer nur eine Sache zwischen ihm und ihr gewesen, von der noch nicht einmal die Dienstboten etwas ahnten. Sollte sie wieder in ihr Zimmer gehen und warten, bis alle anderen gegangen waren? Aber was, wenn sie damit einen Fehler machte? Sie würde sich wochenlang nicht richtig bewegen können und damit noch mehr Strafen auf sich ziehen, weil ihn Gebrechlichkeit anwiderte.

Noch während sie haderte, hörte sie seinen Ruf. „Nora! Wir warten!“

So war das also.

Nora schluckte und trat zögernd ein.

Und da stand ihr Gatte am Kamin, während zwei Fremde sich auf den Sesseln herumlümmelten und sie ungeniert angafften.

…..

Das Wasser wird kalt und Nora hat schon lange die Lust am Bad verloren. Doch sie fühlt sich immer noch dreckig. Beschmutzt, durch Sven und seine Kumpane. Schnell greift sie zu einem ihrer Badeschwämme und beginnt sich abzuschrubben. Als könnte sie so die Hände, die sie betatschten, all die Flüssigkeiten, die sie berührten, die Blicke und den Hohn abwaschen, all das, was sie für immer gezeichnet hat, auslöschen. Doch jeder blaue Fleck, jede kleine Narbe von größeren Kratzern, jede Strieme erinnern sie daran, wie es weitergegangen ist. Die Schmerzen tauchen wieder auf. Die Angst, das Gefühl der Scham, der Demütigung. Die Hilflosigkeit. Noch einmal durchlebt sie die Schrecken dieser Nacht, fühlt, wie der Hass langsam aufstieg. Ganz am Ende, als die Kerle schon gegangen waren.

Als er sie noch weiter verhöhnte. „Du hast dir nen Kerl mit Kohle gesucht, wie ne billige Hure. Hast dich an mich verkauft. Dein Körper gegen mein Geld. Genauso wirst du eben behandelt.“ Dann hatte er einen Geldschein genommen und mit dem Unrat beschmiert, der am Boden zu finden war: Die Spucke, das Sperma, der Urin. Bis der Schein völlig durchweicht war. Er hatte den Schein zusammengeknüllt, ihren Mund aufgezwungen und das Papier in ihren Mund gestopft. Er hatte sie gezwungen, zu kauen, zu schlucken, und er hatte erst aufgehört, nachdem er sich selbst davon überzeugt hatte, dass ihr Mund völlig leer war. Schließlich hatte er sie zur Seite geschubst. Achtlos, wie eine zerstörte Puppe, die ihm im Weg lag.

Die Gewissheit, dass es immer schlimmer werden würde, ganz gleich, ob sie sich wehren würde oder nicht, stand deutlich vor ihr.

Und da war der Hass in ihr aufgestiegen. Brennend, grenzenlos, nicht zu heilen. Sie kroch auf allen Vieren aus dem Arbeitszimmer, kroch die Treppe hoch und schleppte sich ins Bad, in dieses Bad, das noch ganz anders ausgesehen hatte, in dieser Nacht. Sie reinigte sich notdürftig und verschwand in ihrem Zimmer.

Dann brach der Sturm los. Als würden sich all ihre Gefühle draußen im Toben der Natur ausleben, zerrte der Wind an allem, was er mit sich zu reißen hoffte. Wasser toste an den Fenstern herab, Hagel wurde durch die Nacht geschleudert, als sei es ein Streufeuer einer dieser riesigen Maschinengewehre, von denen Nora nie wusste, wie sie heißen und was sie alles anrichten konnten. Als sich auch noch Blitz und Donner hinzugesellten, reifte in Nora ein Plan.

Und sie wartete. Wartete darauf, dass er, Sven, endlich ins Bad gehen würde. Oh, sie würde das schon noch früh genug mitbekommen. Er würde es ihr mitteilen, wie immer. „Jetzt muss ich erst mal deinen Schlampendreck abkriegen!“

Noch immer bewegte sie sich nicht. Sie lag da und horchte, bis sie hörte, dass das Wasser abgedreht wurde. Bis sie hörte, dass ein Körper ins Wasser glitt. Bis sie das genüssliche Aufstöhnen hörte und wusste, dass er nun in Erinnerung an das, was er Nora soeben angetan hatte, masturbieren konnte. Denn erst jetzt, nach der Demütigung, nach der Misshandlung, erst jetzt konnte er kommen, das wusste sie aus Erfahrung.

Und dies war der Moment, in dem sie sicher war, dass er all seine Aufmerksamkeit auf seine Erinnerungen gerichtet hatte. Jetzt stand sie auf und schlich humpelnd in sein Zimmer. Sie wusste genau, wo er seine Waffe aufbewahrte. Oh ja, er hielt sie für zu schwach, für zu willfährig, als dass er ihr zugetraut hätte, sich aufzulehnen. Das hatte er ihr bereits zu Beginn aus dem Leib geprügelt.

Und so war es ja auch gewesen, bis heute. Bis er wieder einmal die Spielregeln geändert hatte.

„Nora!“ Nein, sein Ruf erschreckte sie nicht. Auch das war üblich: Er würde ihr sein Sperma geben, damit sie es in sich aufnahm; schließlich gehörte zu „seinem Imperium“ auch ein geeigneter Erbe, wie er immer wieder betonte. „Komm her, Zuchtsau!“

Und sie ging zu ihm, mit der Waffe in der Hand.

Endlich, als sie an diesem Punkt der Erinnerungen ankommt, beginnt Noras Haut sich sauber anzufühlen. Die Wundmale verschwinden zwar nicht, aber sie scheinen blasser als zuvor zu sein. Sie taucht mit dem Kopf unter, entfernt die Seife aus den Haaren, reibt sich über das noch blasse Gesicht.

Dann taucht sie empor, und es erscheint ihr, als würde mit jedem Tropfen auch jedes Unbill, das er ihr angetan hat, abperlen. Er hatte seine Quittung bekommen.

Der Rest würde leicht sein. Der Transfer seines Geldes auf ein altes Konto von ihr, das unter einem Namen geführt wird, den noch nicht einmal er kannte. Zumindest so viel, dass sie ein Ticket buchen kann, sobald Corona die Flughäfen wieder aus ihren Fängen lässt. Den Großteil seines Vermögens hatte er eh in der Schweiz gebunkert, das weiß sie. Aber die Unterlagen sind alle hier, in diesem lächerlichen Tresor, dessen Schlüssel er immer um den Hals trug. Alles ist vorbereitet und nun, nachdem dieses Bad endlich fertig ist, wird niemand mehr Spuren finden.

Es sei denn, jemandem gefällt das neue Bad nicht.

Von Tapeten und Bällen

Still sein. Still wie ein Mäuschen. Oder besser doch nicht wie ein Mäuschen, denn Mäuse sind in Wohnungen nicht erwünscht. Lieber wie… die Tapete an der Wand, ja, genau! Die Tapete guckt man an und nimmt sie gar nicht mehr wahr, so speckig und alt wie sie schon ist. Die Wand kann zwar auch gehauen werden, oder getreten. Manche schreien auch die Wand an, aber die Tapete ist damit nicht gemeint, die nimmt niemand wahr.

Nele beschließt, dass sie ab sofort eine Tapete ist. Still und unbewegt hockt sie auf ihrem Bett und versucht, mit dem vergilbten Weiß hinter sich zu verschmelzen. Vielleicht würde sie dann nicht hören, wie Kai vor Schmerz brüllt. Vielleicht würde sie dann nicht das Keifen ihrer Mutter hören: „Harald, hör endlich auf damit!“ Vielleicht würde sie dann nicht das Aufjaulen hören, wenn Harald, der Freund ihrer Mutter, dieser „eine langt“, wie er das ausdrückt. Und vielleicht würde er sie dann übersehen, wenn er, weil er ja schon mal dabei ist, ein Exempel zu statuieren, in Neles Zimmer gestapft kommt, um auch ihr eine Tracht Prügel zu verabreichen.

Alles nur, weil Kai kein Toilettenpapier mehr bekommen hat. Und weil sie die letzte Rolle eingelegt und vergessen hatte, Bescheid zu geben. Und weil Harald eben… Harald ist.

Es war schon früher schlimm gewesen, erinnert sie sich. Seit Mama ihn kennenlernte und er bei ihnen einzog. Seither kann Nele keine Freundinnen mit nach Hause nehmen, welche besuchen oder mit ihnen telefonieren. Mittlerweile hat sie gar keine Freunde mehr.

Viel zu klein, zu dünn, ständig müde, weil sie wegen der ganzen Streitereien nachts nicht schlafen kann. Selten ist genug Geld für Essen da, für neue Kleidung eh nicht. Sie muss die abgetragenen Sachen von Kai tragen. Jungenklamotten. Und Kai „darf“ bei der Kleiderkammer vorsprechen, da bezahlt man nur ein, zwei Euro für einen Pulli oder eine Hose, wenn man nachweisen kann, dass man bedürftig ist. Die Sachen von Kai sind ihr zwar immer viel zu groß, aber das ist für Nele eher ein Grund zur Erleichterung, denn so sieht niemand die blauen Flecken, die sie manchmal davonträgt.

Schule, das bedeutet für Nele: Pause von Harald, Pause vor Mama, die Sicherheit, nur ausgelacht, aber nicht gehauen zu werden – und eine warme Mahlzeit. „Schulspeisung“ nennt man das. Für Nele und Kai gibt es das kostenlos, weil ihre Mutter Harzerin ist.  

In der Schule ist Nele eine Außenseiterin, eine von den Losern, aber das ist immer noch besser als das hier.

Seit der Ausgangssperre hocken nun vier Personen in einer Vierzimmerwohnung. Das Wohnzimmer belegt „er“ immer mit Beschlag. Hockt da herum, sieht fern und kommandiert von „seinem“ Sessel aus alle herum.  Verlangt „Fleisch auf dem Teller“, auch wenn dadurch alle anderen nur Nudeln und Sauce bekommen. Salat und Gemüse gibt es nur, wenn bei der Tafel nicht zu viele Leute anstehen.

Aber die Tafeln haben jetzt zu, genauso wie die Schule und Klopapier gibt es eben auch nicht mehr.

Dafür aber Prügel, und das nicht zu knapp.

Sie hört die Schritte, die durch den Flur auf ihr Zimmer zukommen und will sich zusammenrollen. Aber dann ist sie keine Tapete mehr, sondern ein Ball, den man treten darf. Der dann im hohen Bogen davonfliegt. In ihrem Fall nur nicht sehr weit und auch nicht ins Tor, nein. Wenn sie, der Nele-Ball, getreten wird, fliegt sie gegen den Tisch. Oder den Schrank. Oder gegen die Wand, wo sie dann Flecken hinterlässt. So wie „er“ auf ihr Flecken hinterlässt.

Also, nein. Nicht zusammenrollen. Verschmelzen, mit der Tapete. Und hoffen, dass sie davonfliegt, bevor er den Ball treten kann.

„Für manche Kinder ist Schule der einzige sichere Ort“

Susanna Krüger, Geschäftsführerin der Organisation „Save the Children“

Ich doch nicht!

Ich doch nicht.

Neh. Kann ja gar nicht sein.

Ich halte mich doch an die Regeln. Nicht rausgehen. Keine Umarmungen. Abstand halten. Hust- und Niesetikette und all der andere Mist. Mir kann also gar nichts passieren.

Und doch…

Seit heute morgen habe ich einen leichten Schnupfen. Nicht wirklich schlimm, nur eine Nasenhälfte, die andere ist noch völlig frei, wirklich! Und das Kratzen im Hals ist bestimmt nur Raucherhusten. Ich habe mich doch an alle Regeln gehalten, wie also könnte ich mich infiziert haben?

Okay, ich erinnere mich, dass ich in der letzten Woche in diesem Bus gesessen habe. Da musste ich Halteknöpfe drücken. Hatte ich mir danach die Hände gewaschen?

Und am Tag drauf, da war ich unterwegs, habe eingekauft. Da konnte ich nicht immer den Sicherheitsabstand einhalten. An der Kasse ist es viel zu eng dazu.

Ich sitze hier und wäge ab. Leichter Schnupfen. Halskratzen. Eine leichte Abgeschlagenheit. Alles Dinge, die mich nie daran gehindert hätten, meiner Arbeit nachzugehen. Und heute habe ich einen Termin. Einen, der mir sehr wichtig ist.

Soll ich abwarten, es darauf ankommen lassen? Vielleicht ist es ja gar nicht dieser unsägliche Virus.

Aber dann denke ich daran, was die Praxis, zu der ich gehe, anderen Menschen ermöglicht, auch für andere Menschen eine Art Ankerpunkt ist. Einer der letzten Orte, zu denen man hingehen kann, etwas Gutes für sich tun kann.

Und dann denke ich an meinen Coach, den ich morgen treffen sollte. Marja ist eine der Personen, die zu jenen gehören, die man als “gefährdet” betrachten sollte. Asthmakrank.

Wenn ich jetzt also nichts mache, einfach weitermache, als wäre dieser Schnupfen nur ein harmloser Schnupfen, könnte ich dafür verantwortlich sein, dass diese Praxis schließen muss und dass ein Mensch, den ich sehr schätze, an Covid erkrankt. Ich könnte im Bus, den ich heute nutzen müsste, noch weitere Menschen anstecken.

Seufzend greife ich zum Telefon, sage den Termin für heute ab. Dann rufe ich meinen Coach an. Und während wir reden, laufen mir auf einmal Tränen übers Gesicht, denn mit diesen Absagen verschwinden auch für mich zwei wichtige Ankerpunkte.

Ich fühle mich hilflos. Ja, ich weiß, was ich zu tun habe. Abwarten, die Symptome beobachten, mich beim Arzt wegen eines Tests melden. Doch wie soll ich dahin kommen? Und was, wenn ich schlimm erkranke? Was passiert dann mit meinem Sohn?

Was am meisten aber schmerzt, ist die Tatsache, dass ich mich mit diesen Anrufen der letzten Kontakte beraubt habe, die mir so wichtig sind. Stützen meines Alltags. Ankerpunkte, die ich so dringend brauche, um selbst einer sein zu können, für meinen Sohn.

Hier in unserer kleinen Zweisiedelei wird es erst einmal so weitergehen wie bisher, obwohl sich die Anzeichen einer sich auflösenden Tagesstruktur mehren. Die kleineren und größeren Probleme werden wir in den Griff bekommen, das ist kein Thema.

Doch in dem Moment, in dem ich nicht mehr sagen konnte: “Ich doch nicht”, hat sich etwas geändert. Es ist etwas verloren gegangen. Meine Unantastbarkeit. Diese Unbesiegbarkeit der Gesunden. Die Sicherheit, dass mir nie wirklich etwas Schlimmes passieren wird.

Das schafft Raum für Demut.

Jetzt halte ich wirklich inne.

Wenigstens für einen kurzen Moment.

Dann werde ich wohl ins Taschentuch schniefen, meine Hände waschen gehen und dafür sorgen, dass in unserem kleinen Reich die Fahnen hochgehalten werden.

Abschluss

Die Dunkelheit zieht sich nur widerwillig zurück und überlässt der kahlen, überforderten Lampe im Untergeschoss gerade genügend Raum, dass man Schemen erkennen kann. Margaux ist nicht zum ersten Mal hier, aber es würde hoffentlich nie wieder notwendig sein, dieses düstere Gebäude aufzusuchen. Fest umklammert sie ihre Tasche und sieht sich in dem Treppenhaus um. Der Aufzug scheint mal wieder defekt zu sein. Also würde sie die Treppe nehmen müssen. Der saure Geruch von Kohl lässt sie flach durch den Mund atmen, dennoch wächst eine leichte Übelkeit in ihr heran. Direkt vor der Aufzugtür hat jemand eine Kerze abgestellt; daneben steht eine Vase mit Blumen. Billige Rosen aus dem Supermarkt, aber immerhin.

Hier also ist er gestorben, denkt sie und zieht die Lederjacke enger um sich. Er soll sich in den Aufzugschacht geworfen haben.

“Wollte nicht mehr leben. Die Geister machten ihm zu schaffen”, hatte der Nachbar genuschelt, als die Kommissare ihn befragten. Auf die Frage, welche Geister das denn gewesen sein sollten, gab er keine Antwort. Lieber hätte er ihnen wohl die Tür vor der Nase zugeworfen, aber das ging nicht. Sie hatten ihm ihre Polizeimarken gezeigt, und er hatte sie nach einer ausgiebigen Prüfung anerkennend zurückgereicht. “Auf jeden Fall lief er jede Nacht auf den Flur und stöhnte. Rüttelte an der Fahrstuhltür.” Der Mann machte eine entsprechende Bewegung am Kopf. “Als wäre er irre.” Dann zuckte er mit den Schultern, lachte dreckig. “Vermutlich wars nur ein übler Trip.”

Mehr hatten sie nicht herausfinden können. Die anderen Nachbarn hatten es vorgezogen, nichts gehört und nichts gesehen zu haben.

Unwillig macht sich Margaux daran, die Treppe hinaufzusteigen. Sie will nicht hier sein. Weiter oben, im ersten Stockwerk, streitet sich ein Pärchen. Es geht um seinen Alkoholkonsum und um ihr Fremdgehen. Sie will das nicht hören, aber die zwei sind so laut, dass jeder im engeren Umfeld genau erfährt, wie oft sie ihn betrügt und dass er deswegen trinkt. Man hört das energische Klopfen an der Wand. Vermutlich ein Nachbar, der nun brüllt, dass er seine Ruhe haben will. “Fick dich!” Die Antwort stammt von der Frau, und ihr Mann brüllt: “Soll er dich doch ficken, du lässt doch eh jeden drüber!” Geschirr zerschellt.

Sie will das wirklich nicht hören.

Im ersten Stockwerk sitzt ein Kind auf der Treppe. Es spielt ein Wurfspiel mit Kieselsteinen. Um diese Zeit gehört es eher ins Bett, denkt Margaux und nickt der Kleinen knapp zu. Sie hat noch zwei weitere Stockwerke vor sich.

Müllbeutel stapeln sich im Flur des zweiten Stockwerks. Einer ist aufgerissen und ein übler Geruch steigt von ihm aus. Maden kriechen aus dem Loch, Fliegen surren umher. Ihre Geräusche geben der ganzen Szene einen surrealen Touch, scheinen sie doch das Gebrüll des Paars zu übertönen. Aber nur solange man in der Nähe der Mülltüten ist. Danach setzt sich der Lärm wieder durch.

Margaux lässt den Gestank hinter sich und drückt im Vorbeigehen vorsichtshalber auf den Lichtschalter. Nicht, dass sie hier nachher im Dunkeln steht. Ihr graut vor der Dunkelheit. Endlich erreicht sie den dritten Stock und drückt auf die Klingel neben der Wohnungstür. Sie hört lautes Fluchen, dann rumpelt es. Scheinbar sieht es in der Wohnung nicht besser aus als auf dem Flur.
Nun mach schon auf, denkt sie sich und tritt von einem Bein auf das andere.

Der Lärm in der Wohnung im ersten Stock hat aufgehört, der Streit ist beendet. Nun folgt ein lautes, fast animalisches Stöhnen. Versöhnungssex. Auch das will Margaux nicht hören. Ihr letzter Sex liegt schon so lange zurück, dass die Geräusche für ein feuchtes Höschen sorgen. Energisch drückt sie noch einmal auf die Klingel. Die Tür wird aufgerissen.
Der Mann vor ihr scheint aus einem Lehrbuch für Klischees zu stammen. Unrasiert, fahle Haut und tiefe Ringe unter den Augen. Aus dem Mundwinkel hängt eine Zigarette. Das Unterhemd aus Feinripp ist unförmig und fleckig. Margaux wischt die Frage, wann es das letzte Mal eine Waschmaschine von innen gesehen hat, hastig fort und weigert sich ebenfalls, die graue Sporthose genauer unter die Lupe zu nehmen.

“Was!” Sein Ton ist unwirsch, schon fast unverschämt. Er bellt seine Frage eher wie einen Befehl. Sympathischer macht ihn das nicht gerade. Sie stellt sich ihm vor, teilt ihm ihr Anliegen mit. Wortlos lässt er sie in der Tür stehen, geht in eines der Zimmer. Eine Katze läuft über den Flur und faucht sie an. Margaux erwägt zurück zu fauchen, lässt es dann aber. Der Kerl sieht nicht so aus, als würde er Spaß verstehen, und sie braucht den Schlüssel zur Wohnung.

Schließlich kehrt er zurück und drückt ihn ihr in die Hand. “Den kannst du unten in den Briefkasten werfen, wenn du fertig bist. Die Miete ist bis übermorgen bezahlt, danach schmeiß ich alles raus.”

“So lange brauche ich nicht”, antwortet sie und dreht sich grußlos um. Noch zwei weitere Stockwerke, dann wird sie da sein. Da, wo sie eigentlich nie mehr hatte sein wollen.

Es hilft nichts.

Der Schlüssel knirscht, als sie ihn im Schloss umdreht. Kurz sammelt sie sich, bevor sie die Tür öffnet. Der Gestank einer Wohnung, die unvermittelt verlassen und seit Wochen nicht mehr betreten wurde, brüllt ihr entgegen. Rasch macht sie Licht und reißt die Fenster auf.

Beißende Kälte strömt herein, aber auch klare, frische Luft. Margaux bleibt am Fenster stehen und holt tief Luft. Dann wagt sie es, den Blick durch das kleine Zimmer schweifen zu lassen. Wie lang war sie hier nicht mehr gewesen? Bestimmt zwei Jahre schon. Sie hatte sich versteckt, vor ihm. War einfach abgehauen und hatte alles hinter sich gelassen, nur damit er ihre Pläne nicht durchkreuzen konnte. Damit er sie nicht finden konnte.

Die Polizei hatte sie gefunden. Nachdem er “unter fragwürdigen Umständen” ums Leben gekommen war. Natürlich hatten sie sie befragt. Grund genug hätte sie dazu gehabt, ihm bei seinem letzten Gang zu helfen. Aber Gründe reichen nicht immer aus, und sie ist kein Mensch, der anderen ein Leid zufügen kann.
Ja. Froh ist sie durchaus, dass der Dreckskerl endlich tot ist. Dass er ihr nichts mehr antun kann. Aber das konnte er auch schon nicht mehr, nachdem sie abgehauen war. Nun aber ist die Zeit der Angst vorbei, endlich vorbei.

Und doch… während sie durch die Wohnung läuft, packt sie das Grauen wieder im Nacken. Nichts hat sich hier verändert in den zwei Jahren. Es sieht heruntergekommen aus. Aber die Tapeten sind immer noch die gleichen, und auch kennt sie noch jedes Möbelstück. Selbst ihre Bilder hängen noch an den Wänden im Flur. Er hat nicht eines abgenommen.

Vorsichtig öffnet sie die Schränke. Ihre Kleider hängen dort noch, ihre Hosen, ihre Blusen. In der Kommode sind feinsäuberlich ihre Dessous aufgestapelt, gleich neben den Feinstrumpfhosen. Im Bad stehen noch ihre Schminkutensilien, im kleinen Hygieneschrank findet sie ihre Tampons. Fassungslos schüttelt Margaux den Kopf. Es ist, als wäre sie nie weg gewesen.

Sie muss sich zusammenreißen. Sie holt ein Fußtreppchen aus der Abstellkammer (dort stehen Flaschen ihres Lieblingsweines. Mehr, als sie zurückgelassen hat, das weiß sie genau) und stellt ihn vor den Kleiderschrank. Ganz oben auf dem Schrank ist der Koffer. Und unter dem Koffer findet sie das, weswegen sie hier ist.

Ihre Geburtsurkunde. Ihr Pass. Die Kreditkarten, die Zugangsdaten für ihre Konten. Alle wichtigen Verträge und Dokumente. Sie hatte das alles versteckt, nachdem er anfing sie zu bedrohen. Sorgfältig packt sie die Papiere in ihre Handtasche. Schließlich setzt sie sich auf das Bett und denkt nach. Nein, sie will sich nicht erinnern. Sie überlegt lediglich, was sie sonst noch mitnehmen möchte. Die Kleider waren teuer, sie sind noch gut erhalten. Ebenso die Dessous, der Schmuck. Will sie die Bilder, die im Flur hängen?

Lange sitzt sie dort und wägt ab. So lange, bis sie die Kälte in der Wohnung nicht mehr aushält.

Sie gibt sich einen Ruck und steht auf.

Nein. Sie will nichts von all dem, was sie vor zwei Jahren zurückgelassen hat. Das alles hat sie nicht vermisst, und sie würde mit diesen Dingen die Erinnerungen mitnehmen. Und die will sie ganz bestimmt nicht.

Gewissenhaft schließt sie das Fenster, löscht das Licht. Gerne würde sie all den Schnaps aus den Flaschen in der Küche in der Wohnung verteilen und ein Streichholz fallen lassen. Nur: Das würde nichts bringen, außer dass das Kind da auf der Treppe seine Wohnung verliert.

Lautlos schließt sie die Tür und macht sich daran, die Treppe wieder herabzusteigen. Im ersten Stock ist Ruhe eingekehrt. Selbst der Versöhnungssex dauert bei dem Pärchen nicht lange. Das Kind ist fort, vermutlich gehört es zu ihnen.

Margaux schaut den Schlüssel noch einmal an, bevor sie ihn in den Briefkasten wirft. Ein letzter Blick wandert zu der Kerze, zu den Blumen.

Dann nickt sie und verlässt das Haus.

Endlich frei.

Danke an Birgit für die Inspiration durch das Foto!

Kein Kopfkino

Wasser. Ich brauche dringend Wasser. Irgendetwas zu trinken, was meinen Mund nicht mehr so trocken wie eine Wüste wirken lässt. Müsste ich jetzt sprechen, es käme nur ein jämmerliches Krächzen heraus.

Immer wieder höre ich Deine Nachricht. Die Worte, die Du mir auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hast. Worte, die mich erregen. Die mein Kopfkino anfachen wie bisher schon lange nichts mehr.

Warum eigentlich Kopfkino? Der Begriff scheint mir überhaupt nichts zu sagen, ist dermaßen fehl am Platze, dass ich mich frage, welcher seelenlose Depp ihn seinerzeit kreiert hat? Das, was sich in mir abspielt, hat nichts, aber auch gar nichts mit meinem Kopf zu tun. Ich höre Dich. Ich verstehe Deine Worte, Deine Botschaft. Aber nichts von dem, was Du sagst, kommt in meinem Kopf an. Es schießt mir direkt in den Schoß.

Schnaufend hole ich Luft, schlucke trocken. Wie war das noch mit dem Wasser? Egal, ich kann jetzt nicht aufstehen. Erst will ich noch einmal Deine Nachricht hören, drücke auf “replay”. Lausche Deiner Stimme, nehme die unverhohlene Lust in ihr wahr. Unwillkürlich kneife ich meine Pobacken zusammen, rutsche unruhig auf meinem Stuhl herum und überlege mir, wie oft ich das Band noch abhören muss, damit der Reiz verschwunden ist. Im Moment glaube ich, dass das nie der Fall sein wird.

Du hast so etwas an Dir, was mich immer wieder mitnimmt. Es liegt in Deiner Stimme.

Mit einem einzigen Wort kannst Du die Stimmung kippen lassen. Vom fröhlichen Geplänkel in die Situation, in der mein Denken aussetzt und eben kein Kopfkino mehr herrscht, sondern nur noch Spüren, Fühlen. Empfindungen, Emotionen. Das ist der Punkt, an dem ich mich selbst verliere.
Vieles von dem, was Du sagst, würde von meinem Kopf ganz gelassen als das übliche Klischeegewäsch abgetan werden. Würde ich es lesen, käme vielleicht eine kleine Aufgeregtheit bei mir auf, aber beim zweiten Mal wäre der Effekt schon abgenutzt.

Wenn wir telefonieren, sieht das schon wieder ganz anders aus. Denn in dem Moment, wenn sich Deine Stimme ändert, nur ganz unmerklich ändert, entgleitet mir der Halt und ich lasse los, ob ich es nun will oder nicht. In solchen Augenblicken kann ich nicht mehr anders als mich Dir hinzugeben. Ein, zwei Bemerkungen schaffe ich vielleicht noch, die locker klingen. Ein letzter Widerstand, mehr gegen mich als gegen Dich gerichtet. Und dann…

Dann verstumme ich. Du musst nachfragen, nachhaken, bevor ich eine Antwort gebe; unwillig, hilflos, stockend. Du hakst gerne nach. Weil Du genau weißt, wie es mir jetzt geht. Dass es mich noch fahriger macht, dass mein wirrer Kopf gänzlich überfordert ist. Dass ich in diesem Moment nicht mehr denke, sondern nur noch bin.

Keine Schattenkämpfe mehr. Kein Buchstabenschach. Kein Kopf.

Du siehst mich vor Deinem inneren Auge, wie unruhig ich bin. Du spürst, wie sehr meine Unterlippe leiden muss, da ich vor lauter Unruhe auf ihr herum kaue. Das macht Dich an. Und ich weiß, dass es Dich anmacht. In diesen Momenten fühle ich mich benutzt, da Du keinen Hehl daraus machst, dass Du diese Reaktionen von mir genießt. Ebenso wenig hältst Du damit hinterm Berg, dass Du mich genau kennst und weißt, was mich anmacht. Du sagst es mir auf den Kopf zu, und dann forderst Du eine Bestätigung von mir.

“Ist das so?”

Ich schweige, weil ich mich schäme, es zuzugeben. Diese Scham macht etwas mit mir, ich merke, dass mein Mund noch trockener wird, und ich weiß, wohin die Feuchtigkeit abwandert. Du weißt es auch. Und Du lässt mir mein Schweigen nicht durchgehen.

“Ich fragte, ob das so ist.”

Nicht hart, nicht wütend, drohend. Noch nicht einmal ungeduldig. Eher… zuversichtlich, weil Du weißt, dass ich ja doch noch antworten werde.

Und irgendwann folgt meine Antwort. Ein undeutliches “Ja…” verlässt meine Lippen. Verzagt, unwillig. Du hast einmal gesagt, dass niemand sonst in der Lage sei, eine so klare, einfache Silbe bis zur Unkenntlichkeit undeutlich auszusprechen. Und dann hast Du gelacht. Heiter, gelassen.

“Sprich klar und deutlich, bitte.”

Dieses “Bitte” ist keine Bitte in dem Sinne. Es ist Deine Dir angeborene Höflichkeit, aber Du bittest durchaus nicht. Es ist eine Anweisung, und mir ist dies genauso bewusst wie Dir, dass Du mich damit noch weiter treibst.
“Ja”, stoße ich widerwillig heraus. Widerwillig, aber deutlich. Du lässt mich dennoch nicht vom Haken.

“Ich will, dass Du es sagst. Ja, was?”

Natürlich könnte ich mich immer noch wehren, und einen Moment lang bin ich versucht, es zu tun. “Ja, das ist so” wäre keine ausreichende Antwort. Keine Verfehlung, nur ein… kleiner Widerstand. Es würde Dich eher amüsieren als ärgern, und Du würdest eh nicht nachgeben, also gebe ich gleich nach.

“Ja, es macht mich an.” In dem Moment überläuft mich ein Schauer. Stoßweise verlässt mein Atem meinen Mund, zittrig hole ich wieder Luft, doch nicht genug, ich muss noch einmal Luft holen. Ich spüre Dein Lächeln durchs Telefon, weil Du genau das wolltest. Du wolltest mich zu diesem Geständnis bringen, weil Du weißt, dass dies meine Mauern bröckeln lässt. Und Du wirst mir weiter zusetzen, bis kein Stein mehr auf dem anderen steht. Bis jeder Gedanke in mir zerfließt und in mein Höschen tropft.

Wenn wir miteinander reden, kannst Du mich dahin bringen. Wenn wir schreiben, nicht wirklich. Denn, wenn ich lesen und schreiben muss, bleibt mein Kopf beteiligt. Dann kann niemand sämtliche Barrieren niederreißen.

Dann ist es eben doch nur Kopf-Kino. Und je klischeehafter der Film, desto schneller verschwinde ich aus dem Kino, zurück in meinen Kopf und verlange mein Geld zurück.

Drachenweihnacht

Es begab sich zu einer Zeit, in der Menschen und Drachen noch freundschaftlichen Umgang miteinander pflegten, dass auch das Julfest von beiden Rassen gemeinsam begangen wurde.

 

Dazu gab es einen ganz besonderen Brauch: Jedem Menschenkind, das am Beginn des neuen Wachstums zehn Winter alt war, wurde eine Julbaumkugel in Obhut gegeben. Sie mussten diese Kugel immer bei sich tragen und auf sie achten, als sei es ihr Augapfel.

 

Bunt waren diese Kugeln, und von unterschiedlicher Gestalt und Farbe. Einige waren rund wie ein kleiner Schneeball, andere hingegen eher wie Zapfen geformt, und wieder andere trugen eine ovale Form. Es gab sie in rot, gelb, grün, blau, silber, gold, orange – ach, es wäre müßig, alle Farben aufzuzählen, denn sie waren so vielfältig wie der Sand am Meeresufer, dort, wo die kleineren Kinder spielten, schwimmen lernten und sich bemühten, die besten ihres Jahrgangs zu werden. Denn: Eine Kugel war immer eine ganz besondere. Nun, es war eigentlich keine Kugel in dem Sinne. Sie war ein Zapfen, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Spitz zulaufend zu beiden Seiten war sie wesentlich breiter als die üblichen Formen dieser Art und dann war sie noch mit goldenen  Stacheln besetzt. So, als sei sie ein Stern, kam es Siopi vor. Jedes Kind wusste, dass dieser Schmuck am Ende die Spitze des Julbaums schmücken würde, und für diese Kugel zu sorgen war die größte Ehre im Volk der Menschen.

 

Siopi stand mit ihren Freundinnen in der Reihe und wartete darauf, dass ihr ihre Kugel überantwortet wurde. Aufgeregt schnatterten die Mädchen durcheinander, stießen sich in die Rippen und überlegten lauthals, welche Kugel sie wohl erhalten würden. Sie hechelten ihre Lieblingsfarben durch und kombinierten sie mit den verschiedensten Formen und starrten immer wieder zu jenen Kindern herüber, die ihren Julbaumschmuck bereits erhalten hatten und, sich der Erhabenheit dieses Momentes durchaus bewusst, mit gemessener Würde an dem Rest der Kinderschar vorbei wanderten.

 

„Ich hätte so gerne eine rote Kugel“, seufzte Eleni und stupste Siopi an. „Und du?“ „Hm… nachtblaue Kugeln haben sie wohl nicht“, erwiderte diese und seufzte theatralisch. Seit kurzem mochte sie am liebsten die Farbe des nächtlichen Himmels; vor allem in einer wolkenlosen Nacht, in der der tiefblaue Himmelsvorhang mit goldenen Sternen gesprenkelt war. „Ach, was solls. Eine Kugel ist so gut wie jede andere“, befand sie dann. „Schließlich müssen wir so oder so auf sie achtgeben, egal ob sie uns gefällt oder nicht.“

 

Eleni schob sich näher an ihre Freundin heran. „Was passiert eigentlich, wenn wir die Kugeln verlieren oder gar zerbrechen? Weißt du es?“

Eleni fragte nicht umsonst Siopi, schließlich war sie die Tochter der Schamanin und überwachte den Brauch mit Argusaugen. Doch sie hatte kein Glück. Auch Siopi musste, wie alle anderen Kinder ausharren und das Jahr mit ihrem Schatz allein zurechtkommen, ohne Anleitung.

 

Alle älteren Kinder und natürlich auch die Erwachsenen wussten, was in der Julnacht geschehen würde. Doch sie hielten dicht, denn gemäß der Traditionen musste ein jedes Kind diese Aufgabe allein meistern.

 

Die Reihe rückte weiter vor und die beiden Freundinnen hielten sich an der Hand, als sie zu ihren Vorgängern aufschlossen. Aufgeregt waren sie, ja. Und sie hofften beide, dass sie die besondere Kugel erhalten würden. Jedes Kind hoffte darauf.

 

Tyrion kam gerade zurück und hielt einen strahlend weißen Zapfen in seiner Hand. Ehrfurcht erfüllte sein Gesicht und er achtete auf jeden seiner Schritte. Das war ungewöhnlich für Tyrion, war er doch ein richtiger Wildfang, der am liebsten auf Bäume kletterte, sich mit den anderen Jungen raufte und die Mädchen an ihren Zöpfen zog. Siopi mochte ihn; er war immer so gut gelaunt und lachte fast den ganzen Tag. Und wenn er nicht mit seinen Freunden herumzog und sie ihre Freundinnen nicht bei sich hatte, war er richtig nett zu ihr. Stolz trug der Junge die Kostbarkeit zu seinen Eltern, die schon mit einer weich gepolsterten  Tragetasche auf ihn warteten.

 

So langsam wurde Siopi nervös. Was erwartete sie, wenn sie an der Reihe war? Durfte sie sich eine Kugel aussuchen oder wurde sie ihr zugeteilt? Wurde die Zuteilung ausgelost oder gab es bestimmte Kriterien, denen ein Kind entsprechen musste?

 

Die Minuten zogen sich und scheinbar nahm die Reihe kein Ende. Auch Eleni war inzwischen verstummt und widmete sich ihren eigenen Gedanken. So ging es jedem Kind, das in dieser Reihe stand: Je näher man dem Augenblick kam, um so stiller wurden sie. Alle Aufregung schien sich in einer Art Lähmung zu kanalisieren, die am Ende dafür sorgte, dass einer der Zeremonienmeister die Kinder mit sanfter Hand in das Zelt schob.

 

So erging es auch Siopi. Auch sie hatte gezögert, war vor lauter Nervosität nicht mehr in der Lage gewesen, sich auch nur noch einen Meter aus eigenen Stücken zu bewegen. Überwältigt stolperte sie ins Dunkel.

 

Ihre Augen mussten sich erst einen Moment an die Finsternis gewöhnen, die ihr entgegenschlug. Erst nach und nach erkannte sie ihre Mutter, die als Schamanin ihren Beobachtungsposten im hinteren Teil des Zeltes bezogen hatte. Dann nahm sie auch noch andere Erwachsene wahr und stellte fest, dass sie sie alle kannte. Agravyn, der Dorfälteste, saß direkt in der Mitte des Zeltes, und um ihn herum lagen sie, die begehrten Zeugnisse des Erwachsenwerdens. Das hatte ihre Mutter ihr verraten: Wenn sie gut auf ihre Kugel achtete und alles richtig machte, wurde sie danach in den Kreis der Jungfrauen aufgenommen und hatte damit wesentlich mehr Rechte als bisher. Natürlich erweiterte sich auch ihre Liste der Pflichten, aber das gehörte eben zum Erwachsenendasein dazu.

 

Agravyn räusperte sich und winkte sie zu sich. „Nun, kleine Siopi. Wie du bereits weißt, ist heute ist der Tag, an dem du dein Schmuckstück für den diesjährigen Julbaum erhältst.“

 

Aufgeregt trippelte Siopi zu ihm hinüber. Es gab so vieles, was sie noch nicht wusste, und heute wurde sie in eines der aufregendsten Geheimnisse ihres Volkes eingewiesen!

 

„Was du allerdings nicht weißt, ist, dass bereits bei deinem zweiten Geburtstag festgelegt wurde, um welche Kugel du dich zu kümmern haben wirst. Jedes Kind wird dann in dieses Zelt gebracht und auf den Boden gesetzt. Dann beobachten wir nur noch, welches Kind zu welchem Kleinod krabbelt. Das erste, an dem Ihr Halt macht, wird für euch bereit gelegt und wartet dann auf den Tag des Wiedersehens, der nun, für dich, am heutigen Tag stattfindet.“

 

Mit einer knappen Geste forderte der Alte Siopi auf, sich zu ihm zu setzen. „Ja, so spricht es sich leichter. Von Angesicht zu Angesicht.“  Schließlich griff er vor sich nach einer bestimmten Kugel und hielt sie sacht in seinen Händen, während er sie schier unendliche Zeiten betrachtete.

 

Siopi wagte kaum zu atmen, als sie das Schmuckstück in Agravyns Händen ansah. Es war nachtblau,  eine sehr ungewöhnliche Farbe für eine Julbaumkugel. Und auch die Form entsprach absolut nicht dem, was Siopi bisher kannte: Statt eines Zapfens oder eines Balls lag vor ihr eine perfekte Mischung aus beidem; jedoch hatte diese nicht, wie sonst üblich, die Stacheln aufstehen, sondern war über und über mit golden und silber funkelnden Sternen bedeckt!

 

Das war die Kugel, die sie sich in ihren Träumen gewünscht hatte!

 

Agravyn merkte auf und lächelte. „Ja natürlich hast du von der Kugel geträumt, liebes Kind. Du hast an deinem zweiten Geburtstag fast eine Stunde mit ihr gespielt und geweint wie eine kleine Mama, die ihr Kind verliert, als du sie wieder verlassen musstest.”

 

Siopi kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Fragend blickte sie den alten Mann an. “Darf ich?”

 

Er nickte und lachte. “Natürlich darfst du. Du musst sogar, denn ab diesem Moment ist die Kugel in deiner Obhut. Gib acht auf sie, als sei sie deine Seele.”

 

Vorsichtig trat das junge Mädchen an ihren Zapfen heran und hob sie auf. Sie war warm, das Material schien die Frische des noch jungen Frühlings zu absorbieren. Es kam ihr so vor, als würde sie pulsieren.  In dem Moment, als sie den das Kleinod in den Händen hielt, erinnerte sie sich an diesen wundersamen Nachmittag, als sie mit ihm gespielt hatte. Die Verbundenheit stieg wieder auf, und zärtlich drückte sie ihren Schatz an sich.

 

Doch dann kam ihr ein furchtbarer Gedanke. “Kurz vor jedem Julfest werden die Kugeln den Drachen überantwortet, damit sie mit ihnen den Julbaum  schmücken. Was geschieht denn danach mit ihnen? Bekommen wir die Schmuckstücke dann zurück?”

 

Agravyn nickte anerkennend zu Siopies Mutter. “Du hast sie tatsächlich nicht eingeweiht.” Dann wandte er sich noch einmal dem jungen Mädchen zu. “Das wird sich alles finden. Am Julfest. Bis dahin kümmere dich mit besonderer Sorgfalt um deine Kugel.”

 

Dann nahm er das Kind bei seinen Schultern und schob sie aus dem Zelt.

 

In den kommenden Monaten hielt sich Siopi akribisch an die Anweisungen der Älteren, die ihr zeigten, worauf sie achten musste, damit ihr Julbaumschmuck für die besondere Nacht seine Schönheit erhielt. Sie polierte die Kugel, sprach mit ihr und trug sie stets in einer gepolsterten Tasche bei sich. Tatsächlich glänzte ihr Schmuck nach einer Weile derart, dass alle voll des Lobes waren, wenn sie sie erblickten. Denn das gehörte auch dazu: An jedem Neumond kamen die Kinder zusammen und zeigten die Julkugeln den Dorfbewohnern. Die, die sich gut um die Kugeln kümmerten, bekamen ein paar Privilegien. Zum Beispiel durften sie am Abendritual teilnehmen. Schweigend zwar, aber immerhin! Es war ein weiterer Schritt auf dem Weg ins erwachsen Werden.

Diejenigen, die sich nicht gut kümmerten, wurden ermahnt und mussten sich lange Vorträge über Pflicht und Verantwortung anhören.

 

Siopi saß gerne dabei, wenn das Abendritual abgehalten wurde. Jeder durfte einen schlechten und einen guten Moment des Tages nennen. So wurden viele Unstimmigkeiten gleich angesprochen und jeder freute sich über die guten Momente. Wenn sie so weitermachte, durfte sie sich bald selbst einbringen und ihre guten und schlechten Momente anbringen. Was für eine Verantwortung lag darin! Schon jetzt achtete sie immer wieder darauf, was ihr alles Gutes widerfuhr, nur damit sie den besten Moment des Tages nicht verpasste. Die schlimmen Dinge waren ja eh immer präsent, aber die Guten? Die waren so wertvoll und dennoch vergaß man sie so schnell.

 

Eine Sache jedoch bedrückte sie. Immer wieder dachte sie darüber nach, was passieren würde, wenn sie ihren Julzapfen an den Drachen übergeben würde, der sie auserwählte. Würde sie ihn dann nie wieder bei sich tragen können? Jedes Mal, wenn ihr diese Möglichkeit in den Sinn kam, überfiel sie eine unendliche Verlorenheit. Das konnte sie nicht zulassen, nein! Irgendetwas musste ihr einfallen, um das zu verhindern. Nur was?

 

Der Sommer ging vorüber und man merkte bei allen Kindern, die eine Julkugel zu betreuen hatten, eine merkliche Änderung. Sie wurden ruhiger, vergaßen weniger Pflichten, die Wildheit, die sie ihre ersten Jahre begleitet hatten, wurde sanfter. Ja, sie waren noch Kinder, spielten viel und lachten noch mehr. Aber dieses eine Jahr brachte ihnen einen enormen Zuwachs an Reife.

 

Nur Siopi lachte immer weniger. Die Momente, in denen sie abwesend vor sich hin brütete, wurden so häufig, dass ihre Mutter darauf aufmerksam wurde.

 

“Was ist los mit dir? Du wirkst so traurig in letzter Zeit, Siopi.”

 

Siopi fühlte sich unangenehm berührt davon, dass ihr Gemütszustand ihrer Mutter nicht verborgen geblieben war. Dabei hatte sie sich so sehr bemüht! Niemand durfte doch wissen, dass sie mit den Bräuchen ihres Volkes nicht zufrieden war. Es war so egoistisch von ihr, dass sie ihren Zapfen behalten wollte. Und doch – sie liebte dieses Ding nicht nur so, wie man eben einen Gegenstand lieben konnte. Es ging viel tiefer. Sie mochte kaum noch von ihm getrennt sein. Selbst zum Schlafen nahm sie die Tasche mit ins Bett. Was, wenn ihre Gefühle unangemessen waren? Was, wenn sie nicht normal war, so wie alle anderen auch? Darüber konnte sie keinesfalls mit ihrer Mutter reden. Schließlich war diese die Schamanin des Dorfes!

 

“Ach, ich habe nur…”

Verzweifelt suchte Siopi nach einer Ausrede. “Ich habe in den letzten Tagen immer mal wieder ein bisschen Kopfweh gehabt. Das macht mir halt Sorgen.”

“Und davon sagst du mir nichts? Schließlich kenne ich alle Heilmethoden, und gerade du solltest das wissen! Komm mal her, ich untersuche dich.”

Erleichtert und gleichzeitig ein bisschen beschämt darüber, dass sie ihre Mutter erfolgreich angeschwindelt hatte, ließ sich Siopi von ihrer Mutter untersuchen.

 

“Hm.. es ist nichts zu finden. Gehen wir mal davon aus, dass es am Wetter liegt. Oder es kann sein, dass du langsam zur Frau wirst. Da hat man manchmal ein paar Beschwerden.”

 

Siopie verdrehte die Augen. “Jaha. Darüber haben wir im Unterricht schon gesprochen.” Das Thema war ihr immer noch unangenehm, aber besser sie sprachen darüber, als dass ihre Mutter nachhakte. “Das ist es ja, was mir ein bisschen Sorgen macht. Das, was alles damit einhergeht, eine Frau zu werden.”

 

Ihre Mutter lachte. “Darüber können wir gerne reden, aber nicht jetzt. Ich muss gleich in den großen Rat. Das Julfest will vorbereitet werden.”

 

Da war es wieder. Das Julfest. Der Tag, an dem sie von ihrem täglicher Begleiter Abschied nehmen sollte.

 

‘Ich laufe einfach weg’, dachte sie. ‘Dann bin ich zwar ausgestoßen, aber ich würde mich noch schlimmer ohne meine Kugel fühlen.’
Dann fiel ihr auf, wie albern das klang. Die ganze Dorfgemeinschaft, die menschliche Gesellschaft, all das hinter sich lassen, nur wegen eines… Dekorationsstücks? Alle enttäuschen, die sich schon auf den Moment freuten, an dem ihr Zapfen die Julbaumspitze krönen würde?

 

‘Wie kannst du nur so egoistisch sein! Hat dich dieses Jahr nicht Verantwortung gelehrt?’ Siopi war böse mit sich. Sie rief sich zur Ordnung und erinnerte sich selbst daran, dass eine Gemeinschaft auch Opfer forderte. Nun, sie würde dieses Opfer bringen müssen.

 

Und so schritt sie am Abend vor dem Julfest gemessenen Schrittes hinter all den anderen Kindern her, die den Julschmuck zu den Drachen trugen.

 

Eine ehrfürchtige Stille beherrschte den Abhang. Alle hatten sich dort versammelt: Die Alten, die Jungen, die Kinder – und auch die Drachen. Beinahe regungslos betrachteten sie die kleine Prozession, die über den Berg zu ihnen herüber kam. So viele Kinder waren da, die allesamt ihre Julkugeln vor sich her trugen; sichtbar für alle. Mal strahlten sie mehr, mal weniger. An den Seiten der langen Reihe liefen die Zeremonienhelfer; sie trugen Fackeln, die den kleinen Zug beleuchteten.

 

Siopi war nervös. In ihr herrschte ein Aufruhr der Gefühle. Den ganzen Tag hatte sie allein mit ihrem Zapfen verbracht, hatte ihn poliert, gestreichelt, mit ihm geredet – kurz: Sie hatte sich von ihm verabschiedet. Geweint hatte sie, oh ja. Aber nur heimlich. Auch jetzt war sie den Tränen nahe, aber dennoch fühlte sie auch die Aufregung, die mit diesem Zeremoniell einherging. Und die Neugierde, welcher der Drachen ihre Kugel wählen würde. Und was dann passieren würde. Und überhaupt: Die ganze Sache war eine Jahrhunderte alte Tradition, und endlich war sie ein Teil davon!

 

Endlich blieben sie stehen. Alle Kinder drehten sich gleichzeitig zu den Drachen um. So hatten sie es in den vergangenen Tagen immer wieder geübt. Nun war es an den geflügelten Wesen vor ihnen, ihre Auswahl zu treffen.

 

Sie flogen um die Reihe der Kinder herum, stießen immer wieder herunter um ein bestimmtes Schmuckstück näher zu betrachten. Und dann setzte sich der Erste unter den Drachen vor Siopi ins Gras.

 

“Du hast bewiesen, dass du der Freundschaft mit den Drachen würdig bist, Siopi”, dröhnte er und sah auf sie hinunter. “Da deine Kugel von allen Kugeln am hellsten strahlt, bist du die Eine, die sich den Drachen aussuchen darf, der ihre Kugel an den Baum hängt. Alle anderen Kinder werden warten müssen, welcher Drache sie erwählt.”

 

Siopi starrte den Drachen fassungslos an. Sie.. durfte wählen? “Aber… aber… Was ist denn mit der Ehre, von einem Drachen erwählt zu werden? Wird sie mir dadurch verweigert, dass ich besonders gut auf meine Kugel achtete?”

 

Ein ohrenbetäubendes Gelächter schallte über den Abhang: Alle Drachen lachten laut, und auch die Älteren ihres Volkes ließen sich davon anstecken. Siopie wurde über und über rot. Scheinbar hatte sie etwas sehr Dummes gesagt, wenngleich sie nicht wusste was. Fragend sah sie zu dem Drachen auf.

 

Als es wieder still im Tal war, bekam sie die Antwort: “Nun denn, fragen wir doch mal herum. Liebe Drachenbrüder und -Schwestern. Wer möchte Siopis Weihnachtsschmuck an den Baum hängen?”

 

Wie ein Drache machten alle einen Schritt vorwärts und erhoben einen Flügel. Es war ein umwerfendes Bild, das sich allen bot. Alle wollten sie!

 

“Ich verstehe”, entfuhr es Siopi.

 

“Gut. Denn dadurch wird dir die Ehre zuteil, denjenigen zu wählen, der deiner Meinung nach am besten dazu geeignet ist, dein Schmuckstück zu seinem Platz zu tragen.”

 

Zögernd sah Siopi sich um. Wie sie nun feststellte, waren alle zur Auswahl stehenden Drachen jung, etwa in ihrem Alter. Machten sie genau so eine Prüfungszeit durch? “Darf ich noch eine Frage stellen?”

 

Die Heiterkeit war der Antwort des Drachen anzumerken, aber er bewies Geduld und ließ sie ihre Frage stellen.

 

“Wir mussten alle diese Kugel hüten, damit sie heute angebracht werden darf. Was berechtigt diese Drachen zu dieser Ehre, den Baum zu schmücken?”

 

Ein leises Raunen ging durch die Dorfgemeinschaft. Noch nie hatte jemand gewagt, dies den Drachen abzusprechen. Schließlich waren sie groß und konnten fliegen und kamen daher an alle Stellen des Baumes heran, während die Menschen lediglich die unteren Zweige erreichten!

 

“Deine Frage hast Du gut gewählt”, antwortete jedoch der Drache. “Und du sollst eine Antwort erhalten. Jeder dieser Drachen war seit dem Tag, an dem ihr euren Schmuck wähltet, für einen von euch der Beschützer und Begleiter. Sie mussten darauf achten, dass euch nichts passiert, damit ihr in diesem Jahr der Tradition folgend eure Kugeln zum Julbaum tragen konntet.”

 

“Wer war denn für mich verantwortlich?”

 

Ein kleineres Exemplar trat hervor. Nachtblau, so wie ihre Kugel, und gänzlich ohne Stacheln sah es aus, als würde es kein Wässerchen trüben können. Wie es geschafft haben sollte, sie zu beschützen, war Siopi unklar, aber sie erinnerte sich an ein paar heikle Situationen in den früheren Jahren, die für sie hätten ungünstig ausgehen können.

 

Also trat sie zu dem Drachen und sagte feierlich: “Da du mir geholfen hast, meinen Julschmuck zu beschützen, wirst du auch die Ehre haben, ihn am Baum anzubringen.”

 

Stolz schüttelte der Drache seinen Kopf. “Als Dank für deine Wahl möchte ich dich bitten: Steige auf und fliege mit mir zur Spitze, denn dort ist der Platz für deinen Zapfen. Du sollst ihn dort anbringen.”

 

Das überraschte Siopi nun völlig. Sprachlos stieg sie auf den Rücken des Drachenkindes und ließ sich in die Lüfte tragen.

 

“Wie heißt du eigentlich? Ich meine, mein Name ist dir ja bekannt, aber wie soll ich dich nennen? ”

 

Ein sanftes Grollen antwortete ihr. “Ich bin Rejo, meines Zeichens ein Drache der Chamäleoniden. Wir gleichen unsere Farbe der Himmelsfarbe an, und daher wurdest du in meine Obhut gegeben. Niemand sonst hätte der Farbe deiner Kugel entsprechen können, und das ist wichtig bei der Auswahl der Hüter.”

 

“Deshalb habe ich dich vermutlich auch nicht bemerkt, hm?”

 

Rejo lachte. Es klang nach einer kleinen Steinlawine, die in einem Bach gebremst wurde. “Das mag sein. Aber ich habe dich die ganze Zeit bewacht und war sehr froh, dass du mich heute erwählt hast.”

 

“Naja, ich fand es nur fair, dass ich dich gewählt habe. Schließlich hast du mir ja geholfen.” Siopis Verlegenheit wich dem Gefühl der Traurigkeit, als ihr klar wurde, dass nun bald der Moment kommen würde, in dem sie ihren Zapfen an den Baum verlieren würde. Sie schluckte hart und versuchte, sich darauf vorzubereiten. Aber wie bereitet man sich auf einen Verlust vor? Eigentlich hatte sie ja schon Abschied genommen. Doch je näher sie der Baumspitze kamen, desto trauriger und verzweifelter wurde sie.

 

“Ich will es nicht an den Baum verlieren”,  flüsterte sie, “ich will es nicht.”

 

Doch es half alles nichts. Sie konnte, durfte nicht alle anderen enttäuschen.

 

Rejo war inzwischen mit ihr an der Spitze angekommen.  Langsam, fast zu langsam schon streckte Siopi ihre Hände aus und setzte den Zapfen auf. Fast geduckt erwartete den Trennungsschmerz. Doch er kam nicht.  Sie fühlte sich immer noch verbunden – nur nicht mehr mit dem Schmuckstück!

 

Überrascht keuchte sie auf. Ihre Verbundenheit hatte sich auf Rejo übertragen. Was war passiert?

 

Während sie noch darüber nachdachte, flog der Drache wieder ins Tal herab und setzte seine wertvolle Fracht in der Nähe eines Sees ab.

“Nun kennst du das Geheimnis. Durch die Hütezeit werdet ihr darauf vorbereitet, dass sich einer von uns Jungdrachen mit euch verbindet, Siopi. Und die, die das Glück haben, ihren Drachen selbst zu wählen, können unter den besten von allen aussuchen.”

Er schüttelte den Kopf und wieder erscholl ein heiteres Grollen aus seinem Maul. “Du hast eine ungewöhnliche Frage gestellt. Und du hattest das Glück, dass der Älteste der Drachen dir gewogen ist und sie dir beantwortet hat. So konntest du die beste Wahl für dich treffen. Und für mich, und dafür bin ich Dir sehr dankbar.”

 

Zusammen standen sie an dem See und schauten hinaus auf den Mond, der sich in dessen  Oberfläche spiegelte.  Nun verstand sie alles. Und sie war froh, dass sie dem Ritual gefolgt war. Schließlich hatte sie die Verbundenheit nicht verloren und ihr Stern würde den ganzen Winter über an dem Julbaum strahlen.

Who’s gonna drive you home tonight?

ready

Um diese Frage entbrannte eine kleine, aber spannende Diskussion.

“Er” meinte, dass der Mann auf dem Bild ein Freund ihres Vaters sei, der sich verpflichtet fühlen würde, die schon leicht angetrunkene junge Lady sicher und wohlbehalten nach Hause zu bringen. Sie schmollt ein bisschen, weil der Mann sie nicht als begehrenswerte Frau sieht und versucht deswegen, den Abend in die Länge zu ziehen.

Sie war sich sicher, dass die junge Dame gut auf sich selbst aufpassen kann und daher am Ende des Abends gemeinsam mit dem Germanistikstudenten, mit dem sie die ganze Zeit schon flirtet, in dessen klapprigen alten Golf Richtung Heimat fahren würde.

mich amüsierte die unterschiedliche Interpretation des Bildes, dessen Inspiration eindeutig aus dem Titel hervorgeht:

The Cars ~ Who’s gonna drive you home tonight?