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Mama forscht

Kennt Ihr diese Tintenroller, bei denen man das Geschriebene wieder ausradieren kann?
Nicht mit dem Tintenkiller, nein: Man benutzt einfach den am Ende des Tintenrollers angebrachten Radierer und reibt damit über die Stelle, die man auslöschen will.

Eine fantastische Erfindung, dachte ich mir und holte gleich ein Megapack für mich und meinen Filius. Wir beide sind nicht immer sehr konzentriert bei der Sache, und dann schleichen sich immer wieder Fehler beim Schreiben ein.

Seit der Anschaffung dieser Tintenroller habe ich oft genug schon meine Fehler ganz elegant wieder verschwinden lassen. Der Vorteil gegenüber Tinte und Killer:

  • Nur ein Stift für Schreiben, Ausradieren und Überschreiben.
  • Keine Chemie (was besonders von den ökologisch bewussten Lehrerinnen geschätzt wird).
  • Kein Warten, bis die Flüssigkeit des Tintenkillers auf dem Blatt getrocknet ist.
  • Keine ausgefransten Buchstaben, wenn man doch mal zu kurz gewartet hat; statt dessen die strahlende Schönheit eines fehlerfreien, sauberen Textes.

Mein Sohn und ich sind uns also endlich einmal in einer Sache einig: Dieser Stift ist genial.

Nun steckt bekanntlich der Teufel im Detail, und ich bin ein sehr detailverliebter Mensch. Sprich: Ich hinterfrage nicht nur, wohin die Schmetterlinge verschwinden, wenn es regnet, sondern auch, warum man diese Tinte radieren kann. Eine erklärende Antwort darauf erhielt ich nie – bis gestern Nachmittag.

Es gibt eine Situation in unserem doch ziemlich friedlichen Zusammenlebens, in der mein Sohn und ich uns liebend gerne gegenseitig ertränken, vierteilen oder auf irgendeine andere sadistische Art und Weise ums Leben bringen würden: Hausaufgaben.

Nun geht der Junge dankenswerterweise auf eine Ganztagsschule, so dass sich die Aufgaben, die daheim gelöst werden müssen, weitestgehend auf die Korrektur von Klassenarbeiten und auf das Lernen von Vokabeln beschränken. Wie der Zufall es so wollte, stand gestern gleich beides auf dem Plan: Er musste zwei DinA4-Blätter Vokabeln schreiben und auswendig lernen und eine vierseitige Klassenarbeit in Mathematik korrigieren.

Mir war klar, ihm ebenfalls, dass das in einer Katastrophe enden musste. Wir hatten eh gerade einen sehr verletzlichen Burgfrieden geschlossen, weil ich ihm etliche seiner Handyspiele verboten hatte. USK 16 ist eben nicht für einen Elfjährigen gedacht, auch wenn diesem die Einsicht dafür fehlt. Mit Wut im Bauch und überhaupt keiner Lust zu arbeiten ging der junge Mann dann also ans Werk.

Es kam, wie es kommen musste: Er verschrieb sich ständig, radierte, wurde immer wütender und zerknüllte schließlich das fast fertige Blatt derart, dass es eigentlich nicht mehr zu gebrauchen war. Nun gebe ich zu: Gerade, was das Schreiben betrifft, werde ich schnell weich. Mein Sohn hat eine angeborene Handgelenkschwäche, die ihm große Schreibarbeiten schnell zur Qual werden lassen. Nach einem halben Blatt muss er bereits eine Pause einlegen, weil er nicht weiterschreiben kann. Da ich dieses Problem selbst habe und erst seit Erfindung des PCs größere Schreibmengen bewältigen kann, weiß ich, dass der kleine Racker nicht flunkert und kann sein Problem durchaus nachvollziehen.

Was also tun? Neu schreiben lassen? Das wäre vermutlich pädagogisch wertvoll, wenn es die Probleme mit dem Handgelenk nicht geben würde. Verzweifelt genug war der Junge eh schon, und ich spürte genau, dass wir an dem Punkt waren, an dem seine ganze Wut in ihrer Pracht und Herrlichkeit in einem zerstörerischen Anfall ausbrechen würde. Mein kleiner Hitzkopf hatte schon öfter einen solchen Anfall, und manchmal fielen seiner Wut auch Gegenstände zum Opfer, die ich dann im Anschluss reparieren musste.

Mir fiel ein, was ich in meiner Schulzeit gemacht hatte, wenn meine Hefte oder Blätter zu arg gelitten hatten. Also: Bügeleisen herausgeholt, Blatt zwischen ein Küchentuch gesteckt, mit dem heißen Eisen drüber gefahren – sollte klappen. Das Schlimmste, was mir hier mal passiert ist, war ein sehr dunkel gewordenes Blatt, das durch die Hitze derart brüchig geworden war, dass es auseinanderfiel.

Gut, dachte ich mir. Das sollte also eigentlich hinhauen, wenn ich das Blatt nur ganz kurz bügele.

Gesagt, getan. Nur war das Ergebnis nun überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte.

Ich hatte ja wirklich mit allem gerechnet: Mit vergilbtem Papier; damit, dass die Falten immer noch drin sind. Aber: Das Blatt war glatt und –

Weiß. Komplett Weiß. Alles Geschriebene weg, unsichtbar! So, als habe nie jemand etwas auf dieses Blatt geschrieben. Nur, wenn man das Blatt ein wenig im Licht hin und her drehte, konnte man erkennen, dass da mal was stand.

Bei “normaler Tinte” passiert das nicht, daher konnte ich nur davon ausgehen, dass es an der Thermotinte lag.

Das aber löste nun überhaupt nicht mein Problem, das ja eigentlich darin bestand, den Jungen zu entlasten und ihm nicht doch die Aufgabe neu schreiben zu lassen.

Seufzend setzte ich mich also an den Tisch und schrieb der Lehrerin einen Entschuldigungsbrief, in dem ich ihr das Problem erklärte.

Während ich schrieb, zählte ich Eins und Eins zusammen und kam endlich dahinter, wie diese speziellen Tintenroller funktionieren:

Da die Hitze die Tinte entfernt, wird die Hitze, die durch die Reibung während des “Radierens” entsteht, die Tinte löschen. Es ist also anders als beim üblichen Radiergummi und anders als bei der üblichen Tinte, die nur durch chemischen Einsatz verschwindet.

Auch das erklärte ich in diesem Entschuldigungsbrief und endete dann mit den Worten:

„Diesmal hieß es ausnahmsweise nicht „Jugend“, sondern „Mama forscht“.

Geburtstage und andere Quälereien

Ich hasse backen.

Ja wirklich: Während den meisten Frauen zu Recht eine gewisse Affinität hausfraulichen Tätigkeiten gegenüber unterstellt wird, begrenzt sich meine Lust zu backen auf gelegentliche weihnachtliche Backorgien mit meinen Kindern und auf die obligatorische Torte zum Geburtstag. Und diese Torte besteht aus einer Fertigpackung Tortenboden, Quark, Sahne, Zitrone und eine Packung Schaumküsse. Daraus lässt sich in kürzester Zeit eine schmackhafte Torte zusammenpanschen, die selbst Backignoranten wie mir gut gelingen.

Jetzt aber stecke ich wirklich in der Bredouille: Meine Jüngste hat sich in den Kopf gesetzt Ärztin zu werden. Entsprechend will sie eine Ärztinnentorte.

Eine Ärztinnentorte. Ich hasse Kinder.

Der Entwurf war schnell gemacht: Mintgrün solle sie sein, denn sie will nicht nur eine „normale“ Ärztin werden, nein. Sie will Chirurgin werden und mit diesen feingeschliffenen kleinen Messern an wehrlosen Menschen herumschnippeln. Obenauf soll ein Äskulapstab prangen. Wie bitte macht man mintgrüne Sahne?

„Du brauchst keine Sahne“, belehrt sie mich großzügig mit ihren fast acht Jahren, als ich, bei meinem hinterlistigen Versuch die Produktion dieser Peinlichkeit zu hintertreiben, darauf hinweise, dass ich mit Lebensmittelfarben nur grüne und keine mintgrüne Sahne herstellen kann. „Mach doch einfach einen Rührkuchen, den hab ich schon in der Kochgruppe in der Schule gemacht. Ist ganz einfach. Und dann kaufst du diese Marzipanmatten, die gibt es in allen Farben, Mama. In allen, wirklich allen Farben! Ich hab mich schon erkundigt.“

Na klasse. Rührkuchen. Das heißt, ich muss doch backen. Erwähnte ich schon, dass ich Kinder hasse?

Mein Göttergatte bricht vor Rührung fast in Tränen aus. Sein Goldstück will Ärztin werden! Diese Lamoryanzattacken häufen sich seit der Einschulungsfeier dieses kleinen Miststücks. „Sie ist schon so erwachsen“, schluchzt er abends ins Kissen. „Welches Kind weiß in diesem Alter schon so genau, was es werden will?“

„Wenn sie das schon so genau weiß, soll sie doch ausziehen und ihre blöde Torte selbst backen“, grummele ich leise vor mich hin. Leider war ich nicht so leise, dass ihm das entgangen wäre. Okay. Das bedeutet: Kein Sex heute Nacht. Und morgen vermutlich auch nicht. Und übermorgen. Wahrscheinlicher ist, dass ich bis zum Wochenende auf dem Sofa schlafen darf.

Ich sehe, wie er tief Luft holt und komme ihm zuvor, indem ich mir mein Kissen und meine Decke schnappe und ergeben ins Wohnzimmer auswandere.

Ja, bei uns ist das alles ein wenig anders. Seit der Geburt von Charlotte, sollte ich vermutlich noch anmerken.

Ich war ja schon immer diejenige, die arbeiten ging und sich nebenher noch um die wichtigen Dinge in unserer Familie kümmerte. Horst, mein Göttergatte, ist seines Zeichens freischaffender Künstler. Sprich: Immer dann, wenn es etwas zu tun gibt, überkommt ihn eine Inspiration und er muss arbeiten. Und ich arbeite im Schichtdienst in diesem bescheuerten Callcenter und kümmere mich in den anderen Zeiten um Kinder, Haushalt und was sonst noch so anfällt.

Natürlich fällt da immer eine Menge an; besonders, wenn man ein Haus mit fünf Kindern und einem Ehemann am Hals hat. Unter anderem zählt dazu die Ausrichtung von Kindergeburtstagen.

Jungs sind da ja einfacher. Man fährt in den Wald und macht irgendwelche Spielchen, bei denen sie sich austoben können. Bei schlechtem Wetter gibt es da noch Indoorspielplätze, Laserdomes, Kletterhallen, Schwimmen und so weiter. Torte? Wollen die gar nicht. Da reichen Chips, Cola und zum Abendessen Pizza oder Pommes.

Mit vier älteren Jungs und mir als Mutter hatte ich ja die Hoffnung, dass Charlotte eine kleine Wilde würde, die in die höchsten Baumwipfel klettert und als Herrscherin der Wälder die Elfen in den Krieg führt.

Aber weit gefehlt: Sie will Kleidchen tragen, mit Barbies spielen, besteht auf ihrer Hello-Kitty-Bettwäsche und verlangt Pyjamapartys oder Kostümfeste mit dem Thema entsprechenden Spielen, und mein Mann, der sich bei den Jungs nie für solche Dinge interessierte, stärkt ihr darin jedes Mal den Rücken.

Jetzt frage ich mich, was man auf einer Chirurginnenfeier für Kinderspiele spielen kann? Etwa:

Frösche sezieren: Die erste, die die Froschschenkel küchenfertig ausgelöst hat, bekommt ein Skalpell als Siegerpreis?

Oder

Anatomiepuzzle: Wir zerbrechen zwei Skelette und teilen die Kinder in Teams auf, die die Dinger wieder zusammensetzen müssen. Die Siegergruppe darf das Skelett dann dem anderen Team nachts ins Bett legen?

Mir würde ja

Rezepte für einen coolen Abend: Ich verschreibe jedem ein Schlafmittel und wecke sie nach der Frühstückszeit wieder auf.

vorschweben, aber das lehnte mein lieber Mann ebenfalls ab.

Gut, also werde ich seine Deckenfluter aus dem Atelier für diesen Abend enteignen und unser Esszimmer zum OP umfunktionieren.

Aber wen sollten wir operieren?

Daniels Ratte kommt mir in den Sinn. Ich finde sie ekelig, aber ein fünfzehnjähriger, zwischen Grunge und Emo schwankender Pubertierender würde das vermutlich als Willkür ansehen und etwas von Kindesmisshandlung schreien.

Komisch. Wenn es um klare Anweisungen und Grenzen geht, sind diese Kröten zu erwachsen um so etwas noch anerkennen zu wollen. Geht es hart auf hart, sind sie wieder Kinder.

Mein Ältester weiß die rettende Lösung. Auch er wollte einmal Arzt werden und hatte seinerzeit von einem Künstlerfreund meines Noch-Ehemannes (warten wir den Kindergeburtstag mal ab, dann sehen wir wegen der Ehe weiter!) eine Puppe mit herausnehmbaren Innereien geschenkt bekommen. Horst steuert noch einen Kinderarztkoffer bei und will bei seinem Schönheitschirurgen nachfragen, ob dieser ihm ein paar OP-Hauben und -Masken überlassen kann. Diese blauen Schürzen, die wir bei dem Oktoberfest auf Hannes Schule beim Kellnern trugen, machen das standesgemäße Chirurgenoutfit komplett.

Fehlt nur noch die Torte.

Aber: Auch da habe ich eine Lösung.

Mit einem Ehegatten, der sich einen Schönheitschirurg leisten kann, kann ich auch bei Feinkost Kelm ordern. Morgen rufe ich da an.

Eine Chirurgenfete.

Eigentlich sind sie ja süß, diese Gören.

torte

Der Verrat der Stille

Es gibt Zeiten, in denen jedes Wort zuviel ist.
Selbst das gedachte Wort kann eines sein, das Katastrophen auslöst.
In solchen Zeiten hilft es, seine Gedanken abstrakt zu strukturieren. Man spielt die Konzentration fördernde Spielchen, malt Bilder ohne Motiv, man sieht anderen Leuten beim Leben zu und versucht dies in Einklang mit seinem Weltbild zu setzen.

Irgendwann taucht man aus der Tiefe des Schweigens auf, in der Hoffnung, etwas gelernt zu haben. Es steigen Worte auf. Worte, die die abstrakten Gedanken zu einem Gebilde formen, das die besagte Lehre verdeutlichen soll. Manchmal lebt man dann mit diesem Gebilde einige Zeit; sicher, endlich einen Weg gefunden zu haben. Das geht so lange gut, bis das Gebilde anfängt zu zerfallen. Das kann am Alter des Gebildes liegen. Erosion, Erruption, ein Sturm – was auch immer – kann dazu führen, dass das Gebilde brüchig wird und langsam oder auch blitzschnell in sich zusammenfällt.

Die Twintowers waren ein solches Gebilde. Gebaut nicht unbedingt für die Ewigkeit, aber zumindest für unzählige Epochen. Ein Tag, also ein winziger Bruchteil der Ewigkeit reichte, um sie zu Fall zu bringen.

Aber sie standen lang genug, um sie in das Gedächtnis der Welt einzubrennen. Die Menschheit wird sich an sie erinnern. Einerseits aufgrund ihrer Beliebtheit und ihres ursprünglichen Symbolcharakters. Andererseits aber auch durch den Tag, die Ereignisse, die zu ihrem Untergang führten.

Solche Momente bleiben uns auch oft länger im Gedächtnis als das, was unser Weltbild, unser Konstrukt, das wir aus den Tiefen unseres Schweigens mitbrachten. Die Ereignisse, die zu dem führten, was unsere Zuversicht, unsere Sicherheit, was uns kleinkriegte.

~

Lucy war noch immer gefangen. Gefangen in dem Kokon, der die Erkenntnisse aus den Ereignissen der letzten Jahre von ihrer Seele fernhalten sollte. Ein Schutz, einer Mauer gleich. Einer Mauer, die über der Erde hoch bis in die Himmel ragte, unterhalb bis in die Tiefen der Hölle reichte. Niemand würde diese Mauer überwinden können, und da der Kokon fester als die Hülle eines Panzers war, konnte ihn auch niemand durchdringen.

Schutz ist gut und gesund, dann vor allem, wenn Gefahr droht. Man kennt das genug aus Kriminalromanen: Zeugen zum Beispiel, die in wichtigen Fällen aussagen sollen, werden in Schutzhaft genommen. Prominente, Politiker, Wirtschaftsgrößen, all diese Menschen haben Leibwächter, die sie schützen.

Aber auch Menschen, die ungebetene Gäste von sich fern halten wollen, beauftragen Wachmänner, errichten Mauern und Zäune, die andere fernhalten sollen. Patienten mit enormer Immunschwäche müssen ihr Leben in isolierten Räumen oder Zelten verbringen.

All diese Vorsichtsmaßnahmen erfordern Kraft, Kraft, die für das eigentliche Leben wesentlich notwendiger wäre, und sie isolieren.

Zwei Faktoren, die deutlich dazu beitragen, die Vulnerabilitätsgrenze deutlich zu senken, sprich: Sie tragen dazu bei, Menschen verletzbar zu machen. Also wirkt die Schutzmauer, mit der man sich umgibt, wie eine Art Virus: Sie hält Faktoren ab, die uns helfen können, mit Verletzungen umzugehen, und sie trägt dazu bei, dass die Einsamkeit uns krank macht.

Lucy allerdings sah das nicht. Oder sagen wir besser: Lucy wusste es, aber sie empfand es nicht so.

All diese Verletzungen, die ihr in ihrem Leben zugefügt wurden, hatten sie gelehrt, dass Vertrauen und Offenheit, Nähe und Zuneigung Ausgangsfaktoren für furchtbare Verletzungen sind. Reden und Zuhören führte zu Vertrauen und Nähe, also schwieg sie. Und sie hörte nicht zu.

Seit der Schießerei in dieser Diskothek, bei der sie eigentlich mit einem Schrecken davongekommen war, war Lucy taub. Sie sah die Menschen reden, aber sie hörte nichts. Von Zeichensprache oder Lippenlesen wollte sie nichts wissen und die meisten Notizen warf sie ungelesen weg.

Sie saß in ihrem Zimmer in dem Pflegeheim, in dem sie seither wohnte, sah auf den Fernseher und schaute Serien. Eine Serie nach der anderen. Die Untertitel reichten ja, um zu verstehen, was diese Menschen von sich gaben. Pfleger holten sie zum Essen, brachten sie zu ihrer Therapiestunde, begleiteten sie in den Park, wenn sie an die frische Luft sollte. All das ließ sie zu. Schweigsam, regungslos, unbeteiligt.

Nur nachts, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, weinte sie leise in ihre Kissen.
Der Schmerz der letzten Verletzung war zu groß um nicht zu weinen.

Niemand wusste davon, und niemand würde je erfahren, dass der Mann, der diesen Anschlag auf die Diskothek ausgeübt hatte, dort durch sie Zutritt erhalten hatte. Die einzigen Zeugen hierfür waren tot, und sie hatte nur überlebt, weil sie sich im Küchenhof des Etablissements in einem Müllcontainer versteckt hatte.
Als die Schießerei begann, war sie gerade in der Damentoilette und war von dort aus in die Küche gekrochen, auf allen Vieren.

Die Tür zum Hof stand offen. Es war dunkel dort, dunkel wie in einer Neumondnacht. Die einzigen Lichtquellen stammten aus dem Flur hinter ihr und von einem laternenartigen Außenlicht, das schon bessere Nächte gesehen hatte. Der Boden war von Nässe durchtränkt, es stank nach Müll und Urin. Der Koch und die Küchenhilfen nutzten den Hof scheinbar auch als Austritt.

„Sie waschen sich nicht die Hände“, schoss es Lucy durch den Kopf, während sie weiter in die Mitte kroch. Ekel stieg in ihr auf, sie musste würgen. “Sie pinkeln in den Hof und waschen sich danach nicht die Hände, die Schweine.”

Die Küchenmannschaft stand in einer Ecke zusammengedrängt und starrte sie an, als wäre sie einem Horrorfilm entstiegen. In gewisser Weise war sie das ja auch. Auf diese Leute musste sie so wirken, ein Alien oder ein Todesengel, der ihnen nun den Tod ankündigte. Sie überbrachte das Todesurteil jenen, die andere Menschen durch ihre Unreinheit mit Krankheiten infizierten.

„Du denkst unlogisch“, dachte sie weiter und bemühte sich darum, den Ekel und die Wut auf diese Leute zu vergessen, denn die ungewaschenen Hände des Küchenpersonals war zurzeit das geringste Problem.
„Merks dir und melde es dem Gesundheitsamt, wenn du hier heil wieder herauskommst“, befahl sie sich. „Jetzt brauchst du erst einmal ein Versteck um zu überleben.“

Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Einen Ausgang hatte dieser Hof wohl nicht; zumindest war keiner zu entdecken, und wäre dort einer, dann hätte das Personal ihn sicher schon als Fluchtweg benutzt. Es gab nur diese dunkle Ecke, in der die Küchencrew stand und die Müllcontainer, die an einer der Seitenwände aufgereiht waren. Wieder schüttelte sie der Ekel, aber sie sah keinen anderen Ausweg: Schnell stand sie auf, lief zu der Seitenwand, kletterte in den ersten Container und zog den Deckel über sich zu.
Hier roch es noch grauenvoller und sie hatte das Gefühl, dass sie nicht atmen konnte.
Sie wollte sich übergeben, aber sie hatte Angst, dass die Würgegeräusche auf sie aufmerksam machen würden.
Vielleicht würde der Mörder ja gar nicht auf den Hof gehen? Vielleicht würde er sich mit den Opfern in den Gasträumen begnügen?

Sie hörte die Sirenen. Ein Klang der Hoffnung, und vorsichtig zog sie den Deckel ihres Verstecks einen winzigen Spalt breit auf, um hindurchzuspähen.

Sie sah… nichts.

Aber sie hörte kreischende Bremsen, die darauf hinwiesen, dass etliche Autos sich dem Etablissement in hoher Geschwindigkeit genähert hatten. Eine Stimme rief etwas durch ein Megaphon, eine Nachricht für den Täter?

Da! Ein Geräusch hinter ihr ließ sie erstarren. Wer war das? Ein rauschendes Knarzen erklang, eine gedämpfte Stimme antwortete.

„Habe Stellung bezogen. Hier kann der Kerl nicht raus.“

Eine Pause, wieder dieses Knarzen. Die Antwort des Einsatzleiters? Noch einmal vernahm sie die leise Stimme: „Verstanden. Over und out.“

Dann: Stille. Wo das Küchenpersonal abgeblieben war, konnte sie nicht erkennen, nicht von diesem Standort aus.

Wie eine ungebetene Antwort auf diese Frage hörte sie leises Wimmern, darauf eine zischende Stimme: „Was machen sie da? Los, verstecken sie sich hinter den Containern! Schnell!“

Eilige Schritte trampelten über den Hof, von der Stimme begleitet: „Chef, das Küchenpersonal ist hier im Hof, keine gute Idee, die Täter hierher zu scheuchen, Aktion abbrechen, schn…“

Schüsse.

Von der Küche aus ertönten Schüsse, begleitet von Schreien, Schreien vor Entsetzen und Schmerz. Hinter ihr antworteten weitere Schüsse, unzählige, schnell hintereinander.
Lucy zog sich zurück, ganz tief in den Container, so tief, dass sie nichts mehr hören und sehen konnte.

Die Stille blieb, als man den Container öffnete und sie daraus befreite: Sie war nun ihr steter Begleiter.

Niemand wusste, dass dieser Mann, der all diese Menschen für seinen kleinen Privatkrieg geopfert hatte, mit ihr gemeinsam die Diskothek betreten hatte. Dass dieser Mann ihr Avancen gemacht, sie zu einem Date eingeladen hatte. Dass er durch sie in diese Diskothek Zutritt erhalten hatte, zu der nur Eingeweihte Zutritt bekamen. Eingeweihte wie sie, denn sie ging regelmäßig dort zum Tanzen hin.

Sie würde nie wieder tanzen.

Nein, das lag nicht daran, dass sie taub war. Sie konnte ja die Bässe noch hören und spüren, das also wäre nicht der Hinderungsgrund. Aber bei jedem Tanzschritt hörte sie die Schüsse. Die Schüsse und die Schreie, und sie wurden von einem ganz besonderen Lied begleitet: Ihr Lieblingslied, das, zu dem sie immer so gerne getanzt hatte, nur hatte dieses Lied einen anderen Text: Die Worte des Mannes, der ihr so sehr geschmeichelt hatte, dort in der Bibliothek. Der ihr so sehr geschmeichtelt hatte, dass sie Vertrauen zu ihm fasste.
Sie hatten sich ein paar Mal dort gesehen, und irgendwann standen sie beide am gleichen Regal, griffen nach dem gleichen Buch. Eine Berührung, die sie ein bisschen elektrisierte.

Sie unterhielten sich, öfter. Er sei Hobbyzauberer, auf der Suche nach neuen Inspirationen für seine Geschichten rund um die Kunststückchen. Sie erzählte ihm, dass sie einfach gerne las, weil sie viel allein lebte und nicht besonders begeistert vom Fernsehprogramm war. Warum sie allein sei, wollte er wissen, und sie erklärte es ihm zögernd. Sie war eben ein bisschen schüchtern, nicht gut darin, Bekanntschaften zu schließen.

Er verstand das nicht. Die Männer müssten sich doch um sie reißen, denn sie habe etwas Magisches an sich, hatte er gesagt. So etwas Magisches, dass er sie – entgegen seiner Gewohnheiten – sogar an einer Supermarktkasse angesprochen hätte.

Als man sie befragte, zeigte man ihr ein Foto von dem Attentäter. Er war tot, von mehreren Kugeln durchsiebt. Dieses Wissen ließ sie endgültig in der Stille verschwinden. Nun brauchte sie all diese Magie für sich selbst. Mit dieser Magie hielt sie allen Einflüsterungen stand. Sie hörte einfach nicht mehr zu. Nicht den Pflegern, nicht den Therapeuten, nicht den Arbeitskollegen. Niemandem. Seit fast einem Jahr nun lebte sie in ihrer selbstgewählten Stille, wob ihren Kokon immer dichter um sich, stieg immer tiefer hinab, auf den Grund ihres Seins.

Sie hatten lange um sie gekämpft, versucht, diesen Wall zu durchbrechen. Sie sprachen zu ihr, laut, leise. Sie sangen, spielten Musik, lasen ihr vor. Sie legten ihr Bücher auf den Tisch, die sie sorgsam vor ihrer Zimmertür ablegte, ungelesen. Nichts erreichte sie, weder Bewegungstherapie, noch Gestalttherapie, Berührungen – gar nichts. Schlimmstenfalls wehrte sie sich mit Gewalt, bestenfalls blieb sie einfach unberührt.

Irgendwann hatten sie aufgegeben. Sie schlief, wusch sich, ging essen, saß zwei Mal in der Woche die 50 Minuten ihrer Therapiestunde ab und schaute ansonsten von morgens bis abends Fernsehen.

Nachrichten sah sie nicht, Dokumentationen ebenfalls nicht; gegen Kinofilme hegte sie Aversionen. Statt dessen sah sie sich Soaps an, begleitete aufmerksam jeweils eine Serie von Anfang bis zum Ende, und fing erst dann eine neue Serie an.
Es schien, als suche sie dort etwas, etwas, was niemand ihr zeigen, niemand ihr geben konnte.
Und so verbrachte sie ein ganzes Jahr dort. Vier Jahreszeiten gingen an ihr vorbei, ohne dass sie ihnen Aufmerksamkeit schenkte, ohne dass sich etwas änderte.

Und nun war sie wieder im Park und absolvierte ihre tägliche Runde, die sie bei trockenen Wetter stoisch hinter sich brachte.

Der Frühling begann soeben, lag noch im Widerstreit mit dem Winter. An manchen Tagen war es glatt auf den Wegen, so wie auch heute, und Mark, ihr Bewegungstherapeut, nahm sie an den Arm, um sie zu stützen, damit sie nicht fiel. Heftig zog sie ihren Arm weg und sah ihn finster an.

„Lucy. Ich will nur Halt geben, denn hier ist es stellenweise sehr glatt“, tadelte er ihre Reaktion und griff erneut nach ihrem Arm. Ihre Gegenwehr fiel noch stärker aus, sie riss ihm den Arm richtiggehend aus der Hand. Mark aber verstärkte reflexartig seinen Griff, gerade zu dem Zeitpunkt, als sie über nasse, halb gefrorene Blätter liefen. Das Unvermeidliche geschah: Sie verloren beide das Gleichgewicht und fielen übereinander.

Entsetzt kroch Lucy unter Mark hervor, Panik stand in ihren Augen. Sie rappelte sich auf, verzog vor Schmerzen das Gesicht und fiel wieder hin: Irgendetwas war mit ihrem Bein. Sie konnte nicht aufstehen. Sie sah zu Mark. Er lag regungslos am Boden, aber die Kälte ließ seinen Atem wie kleine Dampfwolken in die Luft steigen.

Lucys Panik ebbte ab: Er lebte. Er lebte, und es war still. Keine Sirenen. Kein Blut. Aber es war kalt, und es war nicht seine Schuld, dass sie hier war, das wusste sie. Also kroch sie zu ihm und versuchte ihn zu wecken. Sie rüttelte an seiner Schulter. Keine Reaktion. Lucy boxte ihn in die Seite, aber auch das half nicht. Schließlich zog sie ihn zu sich, um ihn wenigstens ein wenig wärmen zu können, und wartete.

Das konnte sie gut. Seit sie stundenlang in diesem Container gesessen hatte, ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde, konnte sie verdammt gut warten und still halten.

Sie konnte sich nicht melden. Nicht melden, nicht rühren, nicht hören, nichts. Sie war stumm, taub, gelähmt vor Schreck. Sie spürte die Bewegungen um sich, um den Container herum. Schritte. Schweres Gerät, das auf dem Boden abgestellt wurde. Die Container wurden hin und hergeschoben. Aber Lucy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie auf sich aufmerksam machen konnte. Sie spürte, wie jemand gegen den Container schlug, einmal, zweimal. Sie sah, wie jemand den Decke aufriss, sah die Hand, die auf sie zeigte. Aber sie konnte sich nicht rühren, nicht reden, nicht hören.

„Zumindest bin ich nicht blind“, dachte sie und ließ zu, dass sie aus dem Container gehoben wurde. „Und riechen kann ich noch.“
Der Gestank blieb, selbst als man sie gewaschen und neu eingekleidet hatte.
Der Gestank und die Stille.

„Azarro“, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Rasierwasser, das sie schon seit gefühlten Ewigkeiten kannte. Sie hatte es irgendwann einmal ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt, und er trug seither kein anderes mehr. Ob das nun auch noch so war? Nachdem sie ihn, ihre ganze Familie verlassen hatte? Sie wusste es nicht. Wollte es nicht wissen. Ihr Vater war auch nur so ein Worthülsenmensch. Warum erinnerte sie sich jetzt an den Geruch?

Wo war der Gestank geblieben?

Lucy sog den Atem tief durch die Nase ein. Der Duft des Rasierwassers blieb, es kam von Mark. Also keine Erinnerung, ein Geruch. Ihre Nase reagierte wieder.

Wieder stieg Panik in Lucy auf. Das war nicht richtig! Es war ihre Schuld, dass diese Menschen gestorben waren! Warum sollte sie Gutes riechen dürfen, wenn der Gestank sie gerettet hatte, aber sonst niemanden? Selbst die Küchencrew hatte es letztendlich erwischt, weil sie auf dem Weg hinter den Müllcontainer vom Mörder abgeknallt worden waren, wie die Enten in einer Kirmesbude, einer nach dem anderen.
Nur sie hatte überlebt, im Müll. Im Gestank. Sie, die das Monster eingeschmuggelt hatte. Was für eine Ironie, dass sie genau dort überlebt hatte, wo sie eigentlich hingehörte. Ausschussware. Müll. Dreck. Abschaum.

Sie verbot ihrer Nase den Geruch des Rasierwassers, und die Rückkehr des Müllgestanks war beinahe tröstend für sie.

Magie. Mit dieser Magie konnte sie den Gestank bei sich behalten, und sie konnte ihre Stille erzwingen.

Aber ihr Therapeut, Mark, der musste dringend Hilfe bekommen, das wusste Lucy. Vorsichtig tastete sie in den Taschen seines Kittels und fand sein Handy. Sie wählte die Notrufnummer, die Nummer, die die Pfleger und Therapeuten wählen sollten, wenn die Irren ausrasteten, so wie Lucy das im Stillen bei sich nannte.

„Hallo, Mark? Was ist passiert?“ Die Stimme klang sachlich und auffordernd, so dass jeder, selbst in einer hektischen Situation oder in Panik wieder einen klaren Kopf bekommen konnte. „Mark, was ist los? Wo sind sie?“ Die Stimme wurde energischer, forderte eine Antwort. Aber Lucy konnte ja nicht hören und reden.

Warum hörte sie dann diese Stimme?

Nein… nein… das durfte nicht sein! Sie durfte nicht hören können! Sie war taub! Wo war die Stille?

Hektisch lauschte Lucy in sich hinein.

Schüsse! Schreie! Das Lied mit seinen Worten! Nichts davon war da! Statt dessen hörte sie diese Stimme aus der Notfallzentrale, und die eines Vogels, der auf einem Baum saß und eine muntere Melodie zwitscherte.

~

Minuten später erreichten Sanitäter die Unfallstelle im Park. Einen Moment lang standen sie wie erstarrt, kaum in der Lage das zu erfassen, was sie vor sich sahen:
Mark lag regungslos auf dem Boden. Blut sickerte aus einer Wunde an seinem Hinterkopf. Ein Stück weiter weg kroch seine Patientin auf allen Vieren von ihm fort und schrie ihre Qual hinaus in die Frühlingswelt.

Doch es war totenstill, bis auf das Lied des Vogels, hoch über ihr.

 

 

Verrat der Stille

Kate Havnevik ~ Grace

Rechtschreibung kann Leben retten

“Ein Buchstabenverwechsler kann den ganzen Satz urinieren.”
Wer diesen Satz entwickelte, hat deutlichst bewiesen, wie wichtig es ist, immer auf die korrekte Schreibweise zu achten. Natürlich kann man sich mal vertun, und meistens geht das auch glimpflich aus. Je nach dem kann das aber zu einer solchen Verwirrung führen, dass man jegliche Kontrolle über das Geschehen verliert.
So auch ging es mir, obwohl noch nicht einmal mir der Fehler unterlief, sondern dieser dämlichen Kuh bei der Anzeigenannahme. Keine Ausrede, wirklich! Ich habe den Beweis bei mir daheim, denn ich hatte den Text selbst geschrieben und von dem Beleg extra eine Kopie gemacht, bevor ich ihn einreichte.
Leider hilft mir das gerade überhaupt nichts, denn nun sitze ich hier in dieser Zelle und warte darauf, dass mein Anwalt endlich eintrifft und mir dabei hilft, das Chaos zu beseitigen, das diese Dilettantin angerichtet hat.
Aber gut, Sie wissen ja noch gar nicht, worum es geht, verehrter Leser. Wo soll ich anfangen? An dem Punkt, als ich die Anzeige aufgab, oder erst, nachdem die Polizei mich inhaftierte? Oder noch eher, um zu erklären, warum die Annonce überhaupt von mir in Auftrag gegeben werden sollte? Nun, das wäre vermutlich das Beste, in diesem Fall.
“Du solltest Dich mit Männern treffen.” Der entschiedene Ton meiner Freundin machte mich unsicher. Deswegen reagierte ich erst einmal mit Trotz.
“Kommt gar nicht in Frage!”, versetzte ich und kippte den Rest meines Drinks auf einmal hinunter.
Wir saßen zusammen an der Bar dieses neuen Tanzlokals, das versprach, dass niemand, der es nicht absolut will, alleine nach Hause fahren würde. “ONS”, nannten sie sich, total offensiv. Darunter stand in kleineren Buchstaben “One Nice Salsa”, aber entweder hatte der Name das Lokal geprägt oder aber die Erklärung der Abkürzung war von Beginn an nur ein Alibi: Hier wurde mehr oder weniger offen gebaggert, so dass man sich eher wie in einem Sexclub als in einer Salsa-Disco vorkam. Aber gut, mein Problem sollte das nicht sein, denn ich bevorzugte deutlich meine Zuteilung in die Kategorie jener Gäste, die alleine nach Hause gehen wollten.

Zumindest wusste ich nun, was Nina dazu geritten hatte, sich ausgerechnet hier mit mir treffen zu wollen: Sie war auf dem Kupplertrip. ‘Hätte ich mir denken können’, schoss es mir durch den Kopf, aber irgendwie hegte ich immer noch die Hoffnung, dass sie endlich einsah, dass Männer für mich nicht die Lösung, sondern das Problem darstellten.

“Doch, ernsthaft!” Nina bestellte beim Barkeeper zwei neue Tequila Sunrise, und ich argwöhnte, dass diese dazu führen würden, dass Nina im Laufe des Abends noch dafür sorgen würde, dass ich mit irgendeiner dieser Männer auf dem Hinterhof landen würde: Den Rock hochgeschlagen, mit den Händen an der Mauer abstützend, damit seine Leidenschaft nicht umwerfend sein würde. Und am nächsten Morgen hätte ich dann ein noch elenderes Gefühl als durch den Kater, den mir dieses Gesöff bereits bescherte.
Nein, ich musste anders mit meinem Liebeskummer umgehen, entschied ich und lehnte einen dritten Drink ab und ging zu Wasser über. Seit Frank mich verlassen hatte war ich wie paralysiert. Ich glaube, ein einfaches Ende, mit Streit, Handgreiflichkeiten, Gerichtsterminen um unseren Hausraut auseinanderzudividieren, ja: Selbst mit Stalking hätte ich zurechtkommen können.

Aber Frank verschwand einfach. Morgens noch gab er mir einen liebevollen Kuss – und dann fand man sein Auto am Flughafen in Köln, nicht allzuweit von uns entfernt. Ich kam mir so dumm vor, hatte ich schließlich eine Vermisstenanzeige aufgegeben und damit die gesamte Polizei in NRW närrisch gemacht. Es musste was passiert sein, unkte ich. Ein Unfall, Raubüberfall, Mord, was auch immer. Aber der Wagen wies keinerlei Spuren von Gewalt auf, andere DNA-Spuren als die von Frank, mir, und ein paar Menschen aus unserem Bekanntenkreis gab es auch nicht. Es gab auch kein Flugticket auf seinen Namen, das stellten die Kripobeamten fest, und so blieb Franks Verschwinden ein ungelöstes Rätsel, das aber eher auf ein geplantes Verschwinden hindeutete; zumal sich schnell herausstellte, dass er sein gesamtes Geld und das von etlichen Kunden an sich gebracht hatte. Auch meine Ersparnisse waren fort.

Das sollte dann wohl der endgültige Beweis dafür sein, dass ich einem Betrüger aufgesessen war.
“Ich könnte ihn umbringen”, knurrte ich, ganz in meinen Erinnerungen gefangen und merkte spätestens daran, dass ich zuviel getrunken hatte. Das war einfach nicht meine Art. Gewalt war für mich nur ein Zeichen dafür, dass man versagt hatte, weil man kein anderes Mittel mehr fand. Nun, eigentlich war es ja auch so, überlegte ich weiter. Aber Ninas Stimme brachte mich zurück in die Realität.
“Wenn du so guckst, wirst du höchstens von der Polizei verhaftet, nicht von einem potentiellen Lover”, frotzelte sie und setzte hinzu: “Po … tenz… iell. Po, Potenz, Potentiell, haha!” Sie hatte  eine so ansteckende Art zu lachen, dass bald schon ein paar der Herren auf uns aufmerksam wurden. Schon waren wir umringt von Männern, die nur zu gerne ihre Potenz unter Beweis gestellt hätten. Das aber war das Signal für mich aufzubrechen.

 

“Das ist einfach nichts für mich, Nina.” Entnervt sah ich auf den Monitor, während wir skypten. Natürlich warf sie mir vor, wieviele Chancen ich mir hatte entgehen lassen. “Mindestens die Hälfte der Kerle hätte dir nur zu gerne sämtliche Gefühle für Frank aus dem Leib gevögelt, Süße!” Damit hatte sie gleich losgelegt, als ich den Anruf von ihr annahm. Meine Entschuldigung klang ziemlich lahm, aber letztendlich war es doch so. Sie mochte es, sich ihr Vergnügen bei jedem verfügbaren Mann zu suchen, und auch die Öffentlichkeit spielt eher eine luststeigernde Rolle als dass es ihr um Diskretion ging.

Mir hingegen waren solche Momente zwar nicht fremd, aber ich hatte festgestellt, dass es mir nach einem One Night Stand eher schlechter als besser ging. “Du weißt genau, dass ich nicht ohne entsprechende Gefühle mit einem Mann ins Bett gehen kann. Und meine Gefühle gehören immer noch Frank”, erinnerte ich sie und setzte dann leise hinzu: “Er hat sie einfach mitgenommen.”
Nina schnaubte. “Nun, dann musst du etwas unternehmen. Damit du dich wieder verlieben kannst. So sauertöpfisch, wie du zurzeit unterwegs bist, ist das kein Vergnügen, meine Liebe. Kein Wunder, dass nur noch ich zu dir halte.”
Damit traf meine beste Freundin einen Punkt, der mir selbst ebenfalls zu schaffen machte. Seit dieser Trennung war ich unausstehlich geworden: Entweder aggressiv und unfair oder aber voller Trübsal und mit den Gedanken nicht bei der Sache. Einzig mein Beruf gab mir noch ein wenig Ablenkung, aber in der Freizeit mied mich inzwischen fast mein gesamter Freundes- und Bekanntenkreis. Es musste sich etwas ändern.

Also gab ich nach und wir entwickelten einen Plan, wie ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle bekommen sollte: Eine Kontaktanzeige sollte die Lösung sein. “Aber nicht in einem dieser Käseblättchen”, bestimmte meine Freundin. “Ich weiß auch schon wo. Die machen das ganz großartig, mit Foto und so.”
Und so schritten wir dann zur Tat: Nina lieh mir ein aufreizend geschnittenes, rotes Latex-Kleid und schleppte mich zu einem ihr bekannten Fotografen, der speziell für erotische Bilder bekannt war. Besonders sittsam fielen die Bilder daher auch nicht aus, die er von mir machte. Männermordend, eher. Ein weißer Hintergrund, vor den eine Art Spinnennetz gespannt war, in dem ich mich festhielt und räkelte. Zu dem hautengen Latexkleid trug ich schwarze Handschuhe und Overknees in der gleichen Farbe. Das sah schon ziemlich heiß aus. Das Foto aber, das Nina letztendlich aussuchte, war allerdings der absolute Hammer: Mit einem Grafikprogramm hatte mir der Fotograf einfach ein weiteres Paar Arme hinzugemogelt, so dass ich nun noch mehr einer Spinne glich; und da einer dieser Arme eine schwarz-rot-geflochtene Peitsche in der Hand hielt, wirkte das Bild schon fast bedrohlich, wenngleich auch unglaublich erotisch.

Da ich ziemlich unerfahren war, was Kontaktanzeigen anging, überließ ich das alles meiner Freundin, besonders deswegen, weil sie mich bezüglich meiner Bedenken auslachte.
“Liebes, hier geht es darum, die Männerwelt anzusprechen. Die brauchen keine langen Texte. Die brauchen Bilder und einen einschlägigen Slogan, und den werden wir ihnen liefern.”
“Aber das alles wirkt eher nach einer Domse auf der Suche nach One Night Stands, und das ist es ja überhaupt nicht, was ich will”, maulte ich.

Nina aber winkte ab. “Von mir aus können wir ja in den Text schreiben, dass Du nach einer großen Enttäuschung jemanden suchst, der Dich mit seiner Liebe und Anständigkeit den anderen Mann vergessen macht und bla bla bla. Nur erst einmal müssen sie doch hingucken, und das machen sie nicht, wenn Du ein Foto von Dir bei der Kuchenausgabe vom Kirchenfest abbilden lässt.”
Ich zog eine Grimasse, schwieg dann aber, als sie mir auf die Schulter klopfte und zu mir in einem Ton sprach, als sei ich minderbemittelt und leicht zu erzürnen. “Lass mich mal machen, Süße. Innerhalb von ein, zwei Wochen weinst du Franke keine Träne mehr nach.”

Das tat ich tatsächlich nicht. Vor genau zwei Wochen nämlich fand dieses Gespräch statt, und inzwischen habe ich nur noch einen einzigen Mann im Sinn: Meinen Anwalt.

Endlich werde ich in eine Besucherzelle geführt, denn eben jener Mann, um den sich nun nur noch meine Gedanken drehen, ist eingetroffen. Er sieht mich schockiert und ein bisschen misstrauisch an, was mich ein wenig wundert. Schließlich ist dies nicht das erste Mal, dass er mich aus der Untersuchunghaft holen muss. Kleine Drogendelikte, fragwürdige politische Aktionen. Nichts Wildes und eigentlich waren ihm meine Eskapaden immer sympathisch gewesen.
Allerdings bin ich noch nie wegen der Planung eines Mordes inhaftiert worden, und die Art und Weise, wie ich vorgegangen sein soll, irritiert ihn sicherlich zutiefst. Das alles passt ganz und gar nicht zu mir, aber schließlich war es ja auch Ninas Idee. Als er mich in meinem üblichen langweiligen Outfit erblickt, schaut er sehr erleichtert aus und ist, wenn auch zögerlich, bereit, sich meinem Problem zu widmen: Von der schwarzen Witwe auf der Kontaktanzeige ist natürlich nichts übrig geblieben.

Ich bin gleich nach dem Shooting wieder zu meinen braven, biederen, grauen Kostümen zurückgekehrt und habe auch nicht vor, mich noch einmal in einen männermordenden Vamp zu verwandeln. Vor allem nicht nach dieser Annonce. Nicht, nachdem dem Büromäuschen dieser Zeitung dieser eklatante Buchstabenwechsler unterlaufen war, den ich nun meinem Anwalt erklärte. Dieser Buchstabenwechsler, den den ermittelnden Kommissar auf die Idee brachte, dass ich mir über solche Kontaktanzeigen Männer suche, die ich morden und zermetzeln kann.
“Ich kann das beweisen, Herr Dr. Wollgarten. Ehrlich. Nina ist schon auf dem Weg in meine Wohnung und holt den Ordner, in den ich meine Kopie der Kontaktanzeige abgeheftet habe. Die haben da aus einem “ie” ein “ei” gemacht!” Verzweifelt blicke ich ihn an und erkenne an dem Grinsen, das sich in seinem Gesicht ausbreitet, dass er mir glaubt.
Es ist aber auch zu aberwitzig. Wer bitte schön würde in einer seriösen, wenn auch der Erotik nahen Zeitschrift eine Kontaktanzeige aufgeben und diese folgendermaßen betiteln:

“Suche neuen Mann zum Entleiben!”

Schöne Bescherung

“Nein! Nicht! Das ist alles ganz anders als es aussieht!”

Am ganzen Körper zitternd wachte er auf. Hatte er das alles nur geträumt, oder waren es tatsächlich Erinnerungen, die sich in seinen Traum geschlichen hatten?  Einerseits noch schlaftrunken, andererseits hellwach konnte er Traum und Wirklichkeit nicht mehr voneinander trennen. Möglicherweise war es beides, vermischt zu dem, was ihn nun hatte wach werden lassen. Zitternd, aber nicht vor Angst, nicht vor Kälte. Es war die Erinnerung an diese spezielle Nacht, die ihn vor Leidenschaft ganze Armeen von Gänsehäuten über seinen Körper marschieren ließen.

Dabei hatte alles so harmlos angefangen, eher schon pragmatisch. Um einem Drama auszuweichen, das jedes Jahr so kurz vor dem Fest seine Bühne fand, stolperte er in eines, das sicherlich noch in drei Jahrzehnten seinesgleichen suchen würde.

„Ich werde nicht zusehen, wie wir auch in diesem Jahr diesen fürchterlichen Plastikbaum aufstellen, auf keinen Fall!“ Tatjanas Stimme klang schrill und drohte zu kippen. Er kannte das gut genug, schließlich war sie seine Frau. Immer dann, wenn Tatti, wie ihre Freundinnen sie liebevoll nannten, ihren Willen nicht bekam, verlief der Rest der Auseinandersetzung im gleichen Schema. Erst wurde sie kühl, distanziert. Dann stellte sich eine leichte Pikiertheit ein, die dann schnell in Ärger umschlug. Half das nicht, folgte ein Wutanfall, der dann in einem Tränenausbruch endete. Und das bedeutete, dass die nächsten Tage gelaufen waren.

Keine Unterhaltung, keine Zärtlichkeiten, kein Sex. Das war Tattis Art, ihn sich gefügig zu machen, und er hatte nie ein probates Mittel gefunden um sich zur Wehr zu setzen.

Tatti. Wie konnte man so einen albernen Spitznamen auch noch genießen. Er selbst fand ihn einer Sechzehnjährigen würdig, nicht aber einer fast vierzigjährigen Frau. Deswegen hatte er diesen Namen immer gemieden, obwohl er wusste, dass sie es gerne von ihm gehört hätte. „Das klingt so jung“, sagte sie stets und versuchte sich dann an ihrem Backfischlächeln, das allerdings durch die vielen kleinen Fältchen ad absurdum geführt wurde.

Uh. Er wusste, dass er gerade eben ziemlich gemein war. Letztendlich tat es ihm gut, und so ließ er auch weiterhin seine bösartigen Gedanken zu. ‚Wenn sie doch einmal nur den  Mund  halten würde. Wenn ich irgendwas tun könnte, damit ihr Mund offen stehen bleibt und sie nicht in der Lage ist weiter zu nörgeln‘. Doch wie immer fiel ihm nichts ein. Nur der Wunsch zu gehen tauchte immer wieder auf. Einfach so. Vielleicht sollte er das tun.

An diesem Punkt fielen ihm immer wieder die unzähligen Jahre ein, die sie gemeinsam verbracht hatten. Es war ja nicht nur schlecht mit ihr. Und sie hatte kein leichtes Leben, wahrlich nicht. Gehen wollte er dennoch, also überlegte er weiter, was er tun könnte.

Und dann hatte er diese Idee, die ihn in reinstes Chaos stürzen würde.

Robert stand auf und ging zur Tür.

Einen Moment lang war es still im Zimmer. Tatjana war aus dem Konzept geraten. ‚Ja!‘, dachte er sich und freute sich wie ein kleiner Junge, der an die Keksdose oben auf dem Schrank gelangt war. Mutig schritt er weiter, durch die Diele und setzte gerade den Fuß auf die erste Stufe der Kellertreppe, als ihre Stimme ihn einholte.

„Wo willst du hin?“ Schneidend war der Tonfall. Sie war nicht einverstanden mit dem, was er da tat. „Du kannst mich doch nicht einfach so im Gespräch sitzen lassen!“
Ohne anzuhalten rief er ihr über die Schulter gewandt zu: „In den Keller, eine Axt holen.“
„Eine Axt? Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“ Er konnte an ihrem Tonfall hören, dass die Krise noch nicht überstanden war.
„Nein, Liebes.“ Liebes fand er definitiv schöner als Kosename als Tatti. Auch wenn er sich gerade so verhielt, dass er vermutlich den Rest des Jahres an eben jenem Ort verbringen konnte, zu dem er gerade auf dem Weg war: Sie Tatti zu nennen würde er nicht über die Lippen bringen, auch nicht um sie zu beruhigen.
„Ich werde Dir jetzt einen Baum holen. Aus dem Wald. Damit es in diesem Jahr ein echter Baum wird.“ Noch während er sprach, ging er weiter herunter, hin zum Werkzeugkeller. Er würde den Kellerausgang nehmen, um allen weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen.

Natürlich würde sie einwenden, dass er den Baum beim Händler kaufen könnte. Und er würde erwidern, dass es am 23. Dezember keine vernünftigen Bäume mehr zu kaufen gab, woraufhin sie mit spitzer Zunge darauf hinweisen würde, dass er den Baum ja schon eher hätte kaufen können. Entweder sparte er sich dann die Andeutung, dass sie bis gestern Abend noch den Standpunkt vertreten hatte, dass sie der Umwelt zuliebe auch in diesem Jahr auf einen echten Weihnachtsbaum verzichten würden, oder er provozierte Streit über die Feiertage. Und zwar einen der Art, die nur noch verbrannte Erde hinterlassen würde.

Robert schnappte sich die Axt, ein paar Stricke, mit denen er den Baum vertäuen wollte, nahm seine Gartenjoppe und die Schneestiefel mit der anderen Hand und eilte aus dem Haus. Als er endlich das Auto aus der Ausfahrt steuerte, fing er vor Erleichterung an zu summen. Diesmal war es ihm geglückt, der Katastrophe zu entkommen. Wenigstens dieses eine Mal.

Die Nachtluft machte deutlich, dass er geschwitzt hatte. In der Tat klebte der Schlafanzug an seinem Rücken. Die Feuchtigkeit in der Lendengegend war allerdings kein Schweiß. Es war wirklich ein aufregender Traum gewesen. Nur ein Traum?  Richtig war, dass er diesen Streit mit Tatjana hatte. Richtig war auch, dass er das Haus verlassen hatte, mit einer Axt in der Hand, um einen echten Tannenbaum zu fällen. Er wusste auch noch, dass er auf der Fahrt überlegt hatte, welcher Wald geeignet für sein Vorhaben war. Schließlich musste er fernab der Zivilisation und von allen Forsthäusern sein. Er musste seinen Wagen tarnen können, damit niemand auf ihn aufmerksam wurde. Und er durfte sich nicht allzu weit von seinem Parkplatz entfernen, denn sonst würde er den Baum schwerlich bis zum Auto transportieren können.

‚Hinten, am Übungsgelände der Bundeswehr, das dürfte ganz gut sein.‘, dachte er. ‚Da ist im Dezember keiner, höchstens mal eine Wache von den Soldaten, und die wollen lieber ihre Ruhe haben und werden sich nicht über einen Baumräuber aufregen‘. Während er in Richtung des Truppenübungsgeländes fuhr, kam ihm ein anderer Gedanke, der weitaus naheliegender war. Dieser Wald wäre auch sicherer, denn um diese Zeit würde dort niemand sein. Also änderte er noch einmal seine Richtung und fuhr weiter hinaus, zum Rotfelssee. Der See war ein beliebtes Bade- und Ferienparadies. Unzählige Blockhütten standen dort und luden zu Wochenend- und Ferienaufenthalten ein. Jetzt aber, im Winter, war es viel zu kalt in den Häuschen, und da der See aus irgendeinem Grund nie zufror, gab es auch keine Schlittschuhläufer oder andere Wintersportler, die die Gegend unsicher machen würden. Er wäre ganz allein dort.

Der See lag inmitten eines Waldgebietes, das nur zu Fuß durchquerbar war. Aber Robert kannte einen kleinen Pfad, abseits der üblichen Wege, an dessen Ausgang auch sein Wagen genug Platz zum Parken hatte. Hier würde niemand ein Auto vermuten. Hier würde auch niemand zufällig vorbeischauen.

Während der Fahrt zu diesem Waldstück überkamen ihn unzählige Erinnerungen, die er mit dem Badesee, mit dem Wald und auch mit diesem Pfand in Verbindung brachte. An diesem See hatte er Lisa kennengelernt. Seine erste große Liebe. Oft hatten sie sich von den Eltern davongeschlichen und waren durch den Wald gestreift. Auf einer dieser Entdeckungstouren waren sie auf den Pfad gestoßen, den Robert  nun suchte. Mehr ein Wildwechsel als ein Pfad, abgeschirmt durch Bäume und Sträucher. Oh, diese Sträucher hatten heiße Küsse gesehen, und gegen den einen oder anderen Stamm hatte er Lisa gedrückt und sie im Stehen genommen. Nicht nur Lisa, später auch andere Mädchen. Manchmal gab es auch heißere Spielchen, und Robert  spürte, wie die seine Hose im Schritt eine Beule beachtlichen Ausmaßes bekam. Ja, das waren gute Zeiten gewesen. Er lächelte still vor sich hin und bog auf den kleinen Feldweg ab, der ihn zu dem Trampelpfad bringen würde.

Das Klappen der Autotür klang in der Stille wie ein Pistolenschuss, und er zuckte zusammen. Dann entspannte er sich wieder. Er musste sich keine Sorgen machen, niemand würde ihn hören. Also zog er die Schneestiefel an, zog den Reißverschluss der Jacke hoch, nahm die Axt in die Hand und machte sich auf den Weg. Direkt unten am See standen ein paar richtig gut gewachsene Tannen, daran erinnerte er sich noch gut. Er hatte sie in diesem Sommer angesehen und darüber nachgesonnen, ob sie deswegen so gut aussahen, weil sie nicht so nah beieinander standen, also genug Licht und auch genug Platz hatten, um frei zu wachsen.

Während er durch den Schnee stapfte, die Axt über die Schulter, grinste er vor sich hin, weil er sich wie Freddy Kruger in Weihnachtsstimmung vorkam. Aber er fing tatsächlich nach kurzer Zeit an, ein Lied zu summen. „Little Drummer Boy“. Er mochte es sehr, eines seiner Lieblingslieder im Advent. Leider wusste Tatjana das auch und spielte es so oft, dass es ihm dann zu Weihnachten zum Hals raushing. ‚Und wieder nichts gesagt‘, brummte er vor sich hin, unzufrieden mit sich selbst. Warum nur konnte er ihr nicht einfach sagen, dass er das Lied zwar gerne hörte, aber vier Wochen lang jeden Tag, und dann noch mehrfach! Aber nein, die Furcht vor der Auseinandersetzung hielt ihn zurück. „Wie immer“, stieß er hervor, und er spürte, wie eine leise Wut ihn packte. Wut auf sich selbst, weil er so feige war. Ärgerlich stieb er mit dem Fuß in eine Schneewehe – und schrie auf.

Noch bevor er richtig realisiert hatte, was passiert war, lag er schon der Länge nach im Schnee. Den Kopf hatte er sich angeschlagen, das verriet ihm der stechende Schmerz am Hinterkopf. Irgendetwas hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, dachte er noch, bevor er das Bewusstsein verlor.

Bis dahin konnte Robert sich mit Sicherheit erinnern, bis dahin war alles genauso passiert. Müde schlurfte er zur Küche. Er hatte Durst. Und ein bisschen Hunger. Bei einem Orgasmus verliert der Mann 1.000 Kalorien, erzählte Tatjana immer. Sie regte sich dann darüber auf, dass die Herren der Schöpfung, die ja auch noch dick und fett eine Frau abbekämen, so leicht abnehmen könnten, während Frauen, die ja bereits bei ein paar Pfund Übergewicht so attraktiv wie eine Schnecke im Blattsalat wirkten, dabei nur 300 Kalorien verlieren würden. Wie oft schon hatte er insgeheim gedacht, dass er ihr mal eine Herrenüberschussparty empfehlen würde. Da bekäme sie nur Eiweiß zum Abendbrot und hätte sicherlich mindestens genauso einen Kalorienverlust wie jeder einzelne Mann dort. ‘Und sie hätte das Maul gestopft. Was für ein herrlicher Gedanke.‘, schoss ihm durch den Kopf, und er grinste breit.

Nun, er würde Milch trinken. Das sättigt und stillt den Durst in einem und er müsste die Küche nicht auf den Kopf stellen. Vermeidbare Arbeit, das hatte er im letzten Jahr gelernt. ‘Am besten warm, das macht müde’, dachte er und zog einen Topf aus dem Schrank.

Als er wach wurde, fühlte er sich benommen. Er fror erbärmlich und hatte das Gefühl, auf Brettern statt auf Schnee zu liegen. Aber das konnte ja nicht sein. Wo aber war seine Jacke? Er blinzelte mehrmals, um klare Sicht zu bekommen. Tatsächlich. Er lag nicht mehr im Schnee, sondern auf einem harten Brett! Wie war er nur hierhin gekommen? Ruckartig setzte er sich auf, legte sich dann aber ganz schnell wieder hin. Schwindelig war ihm. Und der Schmerz am Hinterkopf war wieder präsent.

„So, Du bist also endlich wach“, ertönte eine Stimme hinter ihm. „Ich dachte schon, Du willst hier einen Winterschlaf halten.“

Vorsichtiger als zuvor versuchte er ein weiteres Mal sich aufzusetzen, und diesmal gelang es ihm, wenngleich er noch völlig benommen war. Ein Schatten fiel auf seine Beine, wurde größer und verschwand. Dafür trat die Inhaberin der Stimme in seinen Blickwinkel. Kleiner als erwartet, besonders bei dieser vollen, warmen Stimme, in einen langen Parka gehüllt, der ihre Konturen verdeckte, war ihre Erscheinung für ihn eher ein surreales Bild. Ein paar widerspenstige Locken lugten unter der Kapuze hervor. Dunkel waren sie, aber die Farbe konnte er im Dämmerlicht nicht wirklich bestimmen. Dämmerlicht. Hieß das, dass er…

„Wie… wie spät ist es?“ Seine Stimme klang rau und er musste sich räuspern, bevor er halb verständlich klang. Sie hockte sich zu ihm und antwortete gelassen: „Ich denke, es wird so ungefähr halb acht sein. Du hast dich nicht wecken lassen, nicht einmal, als ich dich hierher transportierte.“

„Aber wie…“ Irgendwie war er immer noch benommen, konnte keine klaren Gedanken fassen. Seltsamerweise verstand sie ihn trotzdem. „Schlitten. Du liegst noch drauf.“ Dann grinste sie ihn an, und ihr Gesicht glich dem eines Kobolds, der am Küchenfenster einen Kuchen entdeckt hatte. „Oder besser gesagt sitzt du ja nun.“ Dann aber wurde sie sachlich und schaute ihn prüfend an. „Wie geht es dir? Ich hab einen ganz schönen Schrecken bekommen, als ich dich da im Schnee liegen sah, bewusstlos und völlig durchnässt.“ Sie wies mit dem Kopf in eine unbestimmte Richtung. Die Jacke habe ich dort drüben in der Hütte zum Trocknen aufgehängt. Den Rest solltest du auch unbedingt ausziehen, sonst wirst du ernsthaft krank. Sollen wir hineingehen? Komm, ich helfe Dir beim Aufstehen.“

Fürsorglich legte sie ihm den Arm um die Schultern und stützte Robert, während er sich langsam aufrichtete. Ihre Umarmung war fest und ein bisschen tröstlich, gerade in diesem Moment, in dem er noch nicht ganz verstand, was eigentlich passiert war. Die Wärme, die sie ausstrahlte, ging weniger von ihrem Körper aus, denn ihr Parka war von der Winterluft mit Kälte durchtränkt. Es war mehr die Art, wie sie mit ihm umging, und er genoss es ein bisschen.

Ein bisschen zu sehr, wie ihm auffiel. Schon hatte er fast vergessen, warum er überhaupt hier gelandet war, dass er verheiratet war und dass er schon seit Stunden unterwegs war, was sicherlich noch weiteres Öl in das Feuer von Tatjanas Wut gießen würde. „Ich muss dringend anrufen“, hörte er sich sagen, aber ein kurzes Auflachen von ihrer Seite machte ihm klar, dass dies ein dämlicher Gedanke war. „Funkloch“, sagte sie lakonisch, und richtig: In dem Moment, als sie es aussprach, dämmerte es ihm selbst. Auch im Sommer hatte es hier keinen Empfang, weswegen gerade die jüngeren Leute lieber in die Freibäder fuhren. Ein paar Stunden ohne Internet, ohne WhatsApp? „Möglich, aber völlig daneben“, hatte ihm seine Nichte einmal lachend erklärt. „Da bist Du schneller im gesellschaftlichen Aus gelandet als wenn Du nur in Unterhosen über den Marktplatz läufst und schmutzige Lieder singst.“

„Verdammt. Dann muss ich sofort nach Hause. Tatti… sie wird sich Sorgen machen.“ Hatte er seine Frau tatsächlich gerade Tatti genannt? Er musste wirklich verwirrt sein. Noch während er darüber nachdachte, hörte er sie amüsiert lachen.
„Wie willst du nach Hause kommen? Laufen? Du schaffst es ja kaum bis in die Hütte, und das mit meiner Hilfe.“ Er sparte sich eine Erwiderung. Wie recht sie doch hatte. Diese Frau hatte ein enormes Standvermögen, denn er stützte sich schwer auf sie, während sie gemeinsam, Schritt für Schritt, im Schneckentempo die Tür des Blockhauses erreichten.

Während sie die Türe aufschloss, lehnte er sich gegen die Wand und wartete mit wackeligen Beinen darauf, dass sie endlich ins Warme kamen. Wenngleich warm erheblich übertrieben war. Gut, Wind und Niederschlag hielt die Hütte fern, allerdings brannte kein Feuer im Kamin und auch sonst gab es keine Wärmequelle, die für eine erträgliche Temperatur sorgte. Es war kalt, zu kalt um sich hier ohne Jacke aufzuhalten, geschweige denn mit nassen Hosen. Ohne Hosen wäre es allerdings auch nicht besser, ganz davon abgesehen, dass er sich im unbekleideten Zustand garantiert nicht mit einer ihm Fremden in einer einsamen Blockhütte aufhalten würde. Und genau das teilte er ihr nun mit.

Sie zog die Augenbrauen hoch und sah ihn durchdringend an. „So. Du willst also lieber das nasse Zeug am Körper lassen und dir eine Lungenentzündung holen. Und warum? Weil du dich genierst? Das ist bemerkenswert unvernünftig.“
Und wieder hatte sie Recht, und er verhielt sich zum wiederholten Male an diesem Tag unsinnig.  Dennoch hielt er ihr fast trotzig entgegen, dass die Kälte in diesem Raum auch im extremen Maße gesundheitsschädigend sein würde, so dass es keinen Unterschied machte, ob er seine Beinkleider nun anließ oder nicht.

Ihr Gesicht nahm einen leicht irritierten Gesichtsausdruck an. „Naja“, meinte sie schließlich. „Eigentlich dachte ich, dass du sie ja eh gleich loswerden wolltest. Schließlich war das Treffen hier mit dir ja deine Idee, und nach all den Mühen und Vorbereitungen, die du dafür auf dich genommen hast, ging ich nicht davon aus, dass du noch einen Rückzieher machen würdest.“ Suchend sah sie sich um. „Als ich dich fand, habe ich übrigens nach dem Holz gesucht, das Du angekündigt hattest. Deswegen ist es hier noch so kalt. Wo hast Du es eigentlich abgeladen? Ich hab schon die…“

Ihre Worte verloren sich, als er verzweifelt versuchte zu begreifen, was hier eigentlich los war. Ein Treffen, mit dieser Frau, einen Tag vor Weihnachten. In einem Sommerhaus, das sich gerade mal als Windschutz eignete. Wovon zum Teufel redete sie da? Warum sollte er sich mit dieser Frau überhaupt treffen sollen?

Ein energisches Rütteln an der Schulter riss ihn aus seinen Gedanken, und völlig überfragt blickte er sie an. „Es tut mir wirklich leid, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie da reden. Ich habe mich mit niemandem verabredet.“

Das erste Mal, seit er sie sah, war sie sprachlos. Nun, er kannte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr lange, aber irgendwie schien das bezeichnend zu sein. Die ganze Zeit über war sie die Souveränität in Person gewesen, und nun entgleisten ihre Gesichtszüge, brach die ganze Selbstsicherheit in sich zusammen und ließ eine verwirrte, an ihrer Unterlippe kauende Frau zurück, die mit einer Situation konfrontiert war, die sie offensichtlich überforderte.

Er räusperte sich. „Nun, wen haben Sie denn überhaupt erwartet?“ Dankbar ließ er sich auf den Stuhl sinken, der vor dem kalten Kamin stand. Der Widerstreit in ihr war ganz offen zu erkennen: Sollte sie diesem fremden Mann anvertrauen, was sie hier, in dieser Einöde, vorgehabt hatte? Der Impuls, ihn pampig mit einem „Das geht Sie gar nichts an“ abzufertigen, war auf jeden Fall deutlich erkennbar durch ihre Gedanken gehuscht. Dann aber seufzte sie ergeben und erklärte ihm mit gesenktem Blick ihre Situation.

„Kennen Sie blind-date, dieses Internetportal? Dort kann man Menschen kennenlernen, aber ohne sie zu sehen. Man tauscht sich aus, die Angaben über die Grunddaten werden von der Seite geprüft, so dass nicht statt eines Zweimetermannes ein kleiner dicker Zwerg auftaucht, wenn man sich dann treffen will. Die Treffen kann man dort auch anmelden, so dass eine Art Schutz besteht. Professionelles Covering nennen sie das da. Man gibt an, mit wem man sich wann und wo trifft, der bestätigt das, und dann ist man auf der sicheren Seite. Denn wenn man sich nicht am Tag darauf meldet und bestätigt, dass alles in Ordnung war, geht sofort eine Meldung an die Polizei heraus.“ Aus den Augenwinkeln heraus sah sie zu ihm herüber und versuchte abzuschätzen, wie er auf diese Informationen reagierte. Da er aber völlig neutral blieb, erzählte sie dann weiter.
„Klar, wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt schlechte Bewertungen und dann will keiner mehr mit dem User daten. Und wer sich nicht am nächsten Tag zurückmeldet, der kann mit saftigen Kosten rechnen, denn all die Kosten, die der Plattform und auch der Polizei dadurch entstehen, muss dann der User übernehmen, der sich nicht gemeldet hat.“ Unsicher zuckte sie mit den Schultern. „Das ganze hat was von Abenteuer ohne allzu großes Risiko. Und…“ hier stockte sie kurz, fuhr dann aber stoisch ergeben fort. „Naja. Ich habe mich eben mit einem Mann verabredet. Wir wollten hier das Weihnachtsfest zusammen verbringen, und, wenn die Chemie passt, auch durchaus ein Schlafzimmer teilen.“
Sie ließ ihm Zeit, das alles erst einmal zu verarbeiten. Dann sagte sie, schon wieder etwas energischer: „Der Beschreibung nach hätten Sie das sein können.“

„Bin ich aber nicht.“, wandte er ein. „Das weiß ich jetzt auch!“, fuhr sie ihn an und setzte fast trotzig hinterher: „Und er schrieb, dass hier um diese Zeit niemand sei.“
Er hob die Augenbrauen.
„Niemand!“ schob sie noch einmal bekräftigend nach.
Er grinste. „Okay, meine Frau denkt von mir, dass ich ein Niemand bin. Aber dass ich hier bin, ist eher ein Zufall.“
Sie schnaubte, stand auf und ging in den Nebenraum, der vermutlich das Schlafzimmer war. Und richtig: Kurze Zeit später kehrte sie wieder und reichte ihm eine Decke. „Hier. Das wird möglicherweise Ihre Schamhaftigkeit zufriedenstellen.“

Robert dankte ihr mit einem knappen Nicken und wickelte die Decke um sich, bevor er versuchte, sich aus der klammen Jeans zu schälen. Sie seufzte theatralisch und kehrte ihm demonstrativ den Rücken zu. Okay, so würde er die Decke beiseitelegen können, was ihm das Ausziehen definitiv erleichterte.
„Wenn ich mich recht entsinne, müsste hinter der Blockhütte mit den roten Türen und Fenstern ein kleiner Unterstand sein, der noch gut mit Holz gefüllt ist“, sagte er leichthin. „Ich habe es im Herbst noch selbst dort aufgestapelt.“
„Oh, fein“, sie freute sich tatsächlich und lief zur Tür. „Dann haben wir es ja gleich wenigstens warm.“ Dann verschwand sie, und mit einem leisen Klappen fiel die Tür ins Schloss. Dann öffnete sie sich noch einmal einen Spalt, und der Kopf der Unbekannten linste noch einmal durch die Tür. “Ich  bin übrigens Carina. Nur für den Fall, dass Sie das interessiert.”
“Robert”. Er nickte ihr zu, und nun schloss sie endgültig die Tür. Für einen Moment lang war er allein.
Mühsam versuchte er sich aus den feuchten Kleidern zu schälen. Seine Finger fühlten sich taub an, was dieses Unterfangen noch zusätzlich erschwerte. Fluchend nestelte er an dem Hosenknopf. War das Knopfloch durch die Nässe eingelaufen oder warum bekam er den Knopf nicht durch das Loch gedrückt? Er zerrte am Reißverschluss. Vielleicht ließ sich der Knopf leichter öffnen, wenn er von oben und unten Zugang hatte. Doch kaum hatte er den Reißverschluss offen, merkte er, dass dies keine so gute Idee gewesen war. Das, was die Hose wesentlich enger gemacht und somit das Ausziehen wesentlich erschwert hatte, drückte sich nun durch den Hosenschlitz. “Wenn sie nun reinkommt, sieht sie sofort, dass ich einen Steifen habe”, schoss ihm durch den Kopf. So schnell es ging, drehte er sich mit dem Rücken zur Tür. Die Vorstellung, nur mit Decken bekleidet in der Nähe dieser Frau zu sein, hatte ihm mehr zugesetzt als er gedacht hatte. Er rieb über den Hosenstoff und stöhnte leise, als sein Körper reagierte. Dann riss er sich zusammen. Wenn sie seine Erektion sehen würde, wäre das schon peinlich genug. Würde sie ihn beim Onanieren erwischen, wer weiß, was dann passierte. Schlimmstenfalls schmiss sie ihn raus. Und bestenfalls…
“Grüne Wiese, weißes Pferd. Grüne Wiese, weißes Pferd. Grüne Wiese, weißes Pferd. Grüne”

“Was für undenkbare Horrorgeschichten haben Sie sich denn ausgedacht, wenn Sie schon zu solchen Mitteln greifen müssen um sie zu vertreiben?” Die Stimme an der Tür klang deutlich amüsiert, wechselte dann aber in einen leicht angestrengten Ton, “Wenn Sie allerdings noch länger brauchen um sich Ihrer Kleidung zu entledigen, erfriere ich mit dem Holz draußen vor der Tür.”, und dann eindeutig spöttisch zu werden: “Wie überaus schade. Dem rettenden Kamin so nahe, starb sie an der Schamhaftigkeit eines erwachsenen Mannes.”

Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, bevor er ihr antwortete. “Einen Moment noch. Das ist gar nicht so leicht, eine nasse Hose auszuziehen. Der Knopf will nicht aufgehen.”
Mit wenigen Schritten war sie bei ihm und drehte ihn zu sich. “Moment mal, das haben wir – Oh.”  Offenbar war sein erregter Zustand nicht zu übersehen, und sie brauchte einen Moment, bis sie ihre Fassung wieder erlangte.
“Wenn ich…” Sie brach ab, schluckte, versuchte es noch einmal. “Ich würde ja nun…” Wieder kam kein sinnvoller Satz zustande.
Zustande. “Wie sensibel doch der Verstand in solchen Situationen auf Wortspiele reagiert.”, dachte Robert und versuchte ein Lachen zu unterdrücken. Sie hätte sicherlich nicht verstanden, warum er lachte. Für irre würde sie ihn halten und vor die Tür jagen, bevor er auch nur zur Erklärung hätte ansetzen können.
Abrupt drehte er sich weg. “Ich mach das schon”, brummte er unwirsch und versuchte gleichzeitig seine Contenance zu wahren. Der Kampf mit dem Knopf half ihm dabei, denn die Konzentration auf diesen Kleinkrieg ließ jeden erotischen Gedanken in den Hintergrund treten. Krieg… Knöpfe… Endlich ist die Hose auf, und gleichzeitig bricht er in schallendes Gelächter aus.

“Krieg… der… Knöpfe…”, schnaufte er, als er endlich wieder zu Atem gekommen war. “Der Kampf mit dem Hosenknopf. Und Pergauds ‘Krieg der Knöpfe’. Ein Wortspiel…” Wenn man einen Witz erklären will, kommt er einem am Ende doch ziemlich lahm vor, und Robert verstummte mitten im Satz.

Sie hatte ihn damals nicht verstanden, aber letztendlich war es gleich gewesen. Seine Nestelei an der Hose als Krieg der Knöpfe zu bezeichnen fand sie charmant, aber abwegig, hatte sie gesagt. Er schob den Milchtopf von der heißen Platte und hinderte die Milch damit am Überkochen. Vieles war damals übergekocht, und eine ganze Menge davon war am Ende nicht mehr zu retten gewesen. Gedankenverloren suchte er nach dem Honig, entschied sich dann aber doch für den Kakao. Während er ihn in die Milch rührte, überkam ihn ein unglaublich starker Wunsch nach einem guten Glas Whisky. Spontan goss er den Kakao in den Ausguss und lief in sein Wohnzimmer hinüber. Dort, in dem kleinen Schrank neben der Couch, stand eine Flasche Laophraigh, den er sich zu besonderen Momenten gönnte. Dies war ein solcher, fand er. Eine Erinnerung an den Tag, an dem der Zufall ihm ein besonderes Weihnachtsgeschenk machte.
Einen Moment lang hielt er inne. “Tatjana hätte das Wortspiel verstanden”. Woher dieser Gedanke auf einmal kam, war ihm unklar, und er wusste genauso gut, dass dies völlig irrelevant war, denn es hob nichts auf, nichts von all dem, was geschehen war, vor und nach dieser Nacht. Es war nur eine Art Nachruf, auf etwas, was hätte sein können und nie geschehen war.  Der Abgesang eines traurigen Kapitels, das eigentlich so glorreich hätte sein sollen.
Robert zuckte die Schultern und goss sich endlich seinen Single Malt ein.  “Besser ein Ende mit Schrecken…”. Er führte den Gedanken nicht weiter aus und ging lieber wieder zurück zu dem, was ihn geweckt hatte: Die Erinnerung an das Weihnachtsfest des vergangenen Jahres.

Sie hatten lange überlegt, wie sie am Besten durch die Nacht kämen. “Das Holz reicht nur für einen Kamin”, stellte er mit Bedauern fest. “Wenn wir zwei anmachen, fangen wir in der Nacht an zu frieren.”
“Was ist, wenn wir warten?”, überlegte Karina.”Solange wir wach sind, können wir uns Bewegung verschaffen und so warm bleiben.”
“An was für Bewegung hatten Sie da so gedacht?” Der Unterton in seiner Stimme ließ sie zu ihm herüberschauen. Sogleich erkannte sie, was er meinte und sprang entrüstet auf.
“Oh nein, so haben wir nicht gewettet! Nur weil ich ein Blind Date hier haben sollte, gehe ich doch nicht mit jedem in die Kiste, der grad verfügbar ist!”
“Beruhigen Sie sich, Lady.”, erwiderte er trocken. “Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass ich persönlich nicht viel Bewegungsfreiheit habe. Auch wenn ich gerade einen anderen Eindruck auf Sie gemacht haben muss, bin ich durchaus wählerischer als Sie annehmen.”
“Autsch”. Seine Antwort hatte gesessen, und das wusste er.
“Nehmen Sie es nicht persönlich”, grinste er sie an. “Ich bin verheiratet.”
“Was macht ein verheirateter Mann an einem solchen Abend im Wald? Sollten Sie nicht daheim sein und den Weihnachtsmann spielen?”
Robert zog eine Grimasse. Eigentlich wollte er jetzt gar nicht an daheim denken. Daheim… War es denn überhaupt noch ein Heim? Ständig gegängelt, kontrolliert, kritisiert, und nur, wenn er dann mit der Faust auf den Tisch haute, das stammelnde, schluchzende Eingeständnis: “Aber… Aber… ich liebe dich doch…” Seine Grimasse verflog, ebenso seine Heiterkeit.
“Ja, das sollte er wohl.”  Ruckartig wechselte er das Thema. “Was machen wir nun? Es ist noch nicht spät, und die Nacht wird lange andauern. Frieren? Oder…”
Vorsichtig sah er sie an, ließ die Möglichkeiten im Raum schweben. Warum auch immer, war sie es nun, die schamhaft wirkte.
Sie wirkte so verletzlich, als sie da saß, die Lippen schürzte und dabei an der Unterlippe kaute. Die Stirn in Falten gelegt blickte sie ihn nicht an, als sie leise mit einem weiteren Problem herausrückte. “Das ist eh die einzige Decke hier. Wir wollten ja… ich hab nur…” Wieder brach sie ab, und ihnen beiden war klar, was sie in dieser Nacht vorgehabt hatte. Nur eben nicht mit ihm.
“Wenn das die einzige Decke ist, sollten wir auf jeden Fall in einem Raum bleiben. Mit ein bisschen Glück ist meine Jeans schneller wieder trocken als zu erwarten ist, und dann können Sie Ihre Decke zurückbekommen.” Er bemühte sich um Sachlichkeit, als er weitersprach. “Wenn Sie in Ihren Mantel gewickelt sind und ich in diese Decke, müsste es möglich sein, dass wir die Wärme ausnutzen. Ich schlafe natürlich auf dem Boden”, setzte er schnell nach, als er ihren zweifelnden Blick sah.
“Nein, das geht auf keinen Fall.” Entschieden schüttelte sie mit dem Kopf. “Wir sind erwachsen. Es sollte uns möglich sein, uns so weit zu beherrschen, dass weder ich über Sie noch Sie über mich herfallen. Wir schlafen auf dem Bett und…” Weiter hörte er nicht mehr, denn wieder schaltete sich sein Kopfkino ungebeten ein. Wenn sie über ihn herfallen würde… Er roch schon fast die Leidenschaft, die seinen Vorstellungen entsprang, und erschrocken überlegte er, ob der Geruch tatsächlich nur seiner Einbildung entsprang. Der Gedanke ernüchterte ihn schlagartig, und so bekam er noch mit, wie sie weiter Pläne schmiedete.
“… und dann verlustieren wir uns an dem Abendessen, das ich mitgebracht habe.” Sie schnaubte kurz und blickte zur Tür. ” Ich hatte an fast alles gedacht. Nur nicht daran, dass mein Blind Date noch blinder sein würde als erwartet.”

Lange hielt es Robert nicht auf seiner Couch, und er ging auf die Dachterrasse. Von hier bot sich ein fantastischer Blick über die Stadt, und er genoss diesen Anblick so oft es ging. Heiß genug war es, so dass er auch genauso gut hier seinen Erinnerungen nachhängen konnte. Er setzte sich auf den Liegestuhl, froh über das bisschen Wind, das der Abendhimmel zu ihm her sandte. Ein leichter Schauer huschte über seine Haut, an den Stellen, an denen der Schweiß noch nicht ganz getrocknet war. Kühl. Wunderbar. Damals hatte er die Kühle nicht so toll gefunden.
Sie musste den Hauptanteil des Umzugs erledigen, da es seinem Kopf immer noch nicht wirklich gut ging. Der Schwindel war zwar weg, aber jedwede Anstrengung ließ den Schmerz mit Stahlhämmern in seinem Kopf wüten, und so war er das erste Mal in seinem ganzen Erwachsenenleben zu nichts nutze. Wenigstens das Feuer im Kamin konnte er anzünden, darin war er Experte.

Dichte Rauchschwaden zogen durch das Zimmer, und Carina stolperte hustend zum Fenster. Der Schornstein war scheinbar verstopft. Robert fluchte. “Mit ein bisschen Glück ist es nur Schnee”, meinte Carina, und er hoffte inständig, dass sie Recht hatte, denn sonst würden sie ernsthafte Probleme bekommen. Ersticken oder erfrieren? Die Auswahl war nicht besonders zufriedenstellend.   Besorgt starrten sie beide zum Kamin, sie am Fenster stehend, er erschöpft, verrußt, kniete derweil am Kamin auf dem Boden. Tropfen fielen herab, das Feuer gab fauchende Zischlaute von sich, und Robert warf schnell noch eine Ladung Grillanzünder dazu, die er neben dem Kamin gefunden hatte. Schließlich aber war der Schnee im Rauchabzug geschmolzen und gab so den Weg frei für den Qualm. Erleichtert lächelten sie sich an, und Robert kam mühsam wieder auf die Beine.

Auch jetzt stand Robert auf, denn er wusste, was nun folgte: Sie veranstalteten eine Art Festschmaus, bei dem sie all das, was Carina für ihren tollen Abend mitgebracht hatte, verspeisten und austranken. Viel war es nicht, denn ihr Date hatte den Hauptgang mitbringen sollen. So blieben gerade mal Käse und Obst, und zwei Flaschen Wein. Wein wollte er nun nicht gerade, nicht nach dem Whisky, aber ein paar Weintrauben und ein bisschen Käse wären vermutlich noch vertretbar. Es intensivierte seine Erinnerungen, obgleich er den Eindruck hatte, dass da nichts intensiver sein konnte, hatte er doch wirklich noch jeden kleinen Moment vor Augen.

Er erzählte ihr dann doch den Grund dafür, warum er am Heiligabend durch den Wald gegeistert war. “Die Axt ist fort”, endete er, “aber dafür habe ich nun die Bekanntschaft einer attraktiven Frau gemacht. Ein fairer Tausch, wie ich finde.” Oha. Offensichtlich hatte der Wein seine Zunge gelockert, denn das wollte er eigentlich nur denken, nicht aussprechen. Aber nun war es gesagt, und zurückholen konnte er seine Worte nicht.
Carina lachte leichthin und überspielte ihre Verlegenheit. “Na, danke für das Kompliment. Kann ich nur zurückgeben.” Dann stand sie abrupt auf und begann das Bett zu machen. “Wir können natürlich gemeinsam vor dem Kamin schlafen, jeder in seiner Ecke”, grinste sie ihn an. “Oder aber wir machen es uns beide bequem auf dem Bett. Etwas anderes lasse ich nicht zu.”

Er gab sich geschlagen und legte sich auf das Bett. Den ganzen Abend über war dies Thema gewesen. Er wollte auf dem Boden schlafen, sie bestand darauf, dass sie beide im Bett nächtigten. “Ein ganz pragmatischer Grund spricht dafür”, hatte sie ihm erklärt. “Was, wenn das Feuer ausgeht? Bevor wir das merken, sind wir beide schon erfroren.”

Ein letzter Versuch seinerseits brachte allerdings ein ganz anderes Ergebnis als erhofft. “Wenn wir auf dem Bett liegen, wärmen wir uns nicht automatisch. So viel Hitze strahlen weder Du noch ich aus.”

“Okay. Gut. Also werden wir uns die Bettdecke teilen.” Völlig ungezwungen legte sie ihre Kleidung ab und kroch zu ihm unter die Decke. Das Ganze ging so schnell, dass er sie noch immer verblüfft anstarrte, als sie sich bereits schaudernd an ihn drängte. “Es ist wirklich eiskalt. Vielleicht sollten wir doch die Matratze vor den Kamin schieben und dort schlafen.”

Wieder sprang sie auf, noch bevor er etwas einwenden konnte, zerrte die Decke mit und forderte ihn auf, ihr zu helfen. Der Schwall kalter Luft, der ihm entgegenkam, enthob ihm jedweden Gefühls der Scham. ‘Bei der Kälte ist es bestimmt minus 11 cm’, dachte er gereizt, half ihr aber dabei, die Matratze auf den Boden zu hieven. Ächzend ließ er sich darauf fallen, während sie aus ihrem Mantel eine Art Kissen baute, auf dem sie beide ihre Köpfe legen konnten. Nun, am wärmenden Kamin, war die Decke schon fast zu viel, ihre Nähe war es auf jeden Fall.  Hatte sie dem Wein so zugesprochen, dass sie nicht merkte, was sie hier tat? Oder wollte sie ihn provozieren?

Er wusste es nicht. Was er wusste, war, dass er sich am Besten zur Seite drehen würde, denn sonst wüsste sie so oder so, dass zumindest seine Libido sich durchaus provoziert fühlte.  Steif wie ein Stock lag er da, Tatjana kam ihm in den Sinn. Er war verheiratet, und nun lag er mit dieser Frau zusammen auf einer Matratze, vor einem Kamin, der inzwischen so viel Hitze abstrahlte, dass Robert versucht war die Decke beiseite zu schieben. Carina versuchte immer noch eine gute Schlafposition zu erreichen, was nicht gerade dazu beitrug, seine Gedanken bei seiner Ehe zu halten. “So geht das nicht”, brach es schließlich aus ihm heraus, und er drehte sich zu ihr. “Gut, dass Du das einsiehst”, nuschelte sie. “Ich hasse es im Löffelchen hinten zu liegen.” Sprachs, drehte sich um und rückte mit ihrer Rückseite näher an ihn heran.
Kurze Zeit später überzeugte ihr ruhiger Atem ihn, dass sie tatsächlich eingeschlafen war.

Hatte sie seine Erektion gar nicht bemerkt oder war sie darüber genauso hinweg gegangen wie vorhin? Robert fühlte das Blut in seinen Lenden pochen, und völlig ratlos, wie er mit dieser Situation umgehen sollte, lag er da, stocksteif (“Bis ins letzte Glied”, dachte er sarkastisch) und traute sich kaum, sich zu regen. “Es regt sich bei mir schon genug”, grummelte er vor sich hin, natürlich still und ohne Laut, denn er wollte sie nicht wecken.

Ihre Haut war so weich. Sie duftete nach irgendeiner dieser unnützen Lotionen, die auch seine Frau so gerne in Unmengen einkaufte und dann doch nie benutzte, angeblich, weil die alle nichts taugten und nicht in die Haut einzogen.
Warum fiel es ihm so schwer, in Gedanken bei seiner Frau zu bleiben?
Und das Haar… es roch so herrlich nach Kräutern und kitzelte auf seiner Haut. Vorsichtig streifte er es zurück und legte damit ihren Nacken frei. Ihn überfiel der heftige Wunsch, sie genau dort zu liebkosen, ihr sanfte Küsse aufzudrücken und den Haaransatz zu streicheln. Sein Begehren wurde immer heftiger, und er konnte sich nicht zurückhalten: Ganz sachte zog er die Decke ein Stück zurück, legte ihre Brüste frei. Carina murmelte etwas unverständliches und rückte noch näher an ihn heran. Er sog scharf die Luft ein, aber sie wachte nicht auf, und er lag dort hinter ihr, mit all seiner unerfüllten Lust.

Sollte er sie wecken? Und was dann? “Sorry, aber ich bin so scharf auf Dich, lass uns ficken”? Er schüttelte selbst den Kopf über sich. Er sollte sich beherrschen.
Dennoch konnte er nicht aufhören. Ganz vorsichtig legte er den Arm um sie, streichelte mit den Fingerspitzen über ihren Brustansatz, bis er sah, dass sich ihre Brustwarzen langsam aufrichteten. Welcher Teufel ihn da ritt, wusste er nicht, aber es war ihm auch egal. Er zupfte leicht an ihnen, spürte, wie sie härter wurden.  Seine Hand glitt tiefer, bis zu ihrem Schoß, und er streichelte die glatte Haut, die sich ihm entgegenstreckte.

Moment mal… sie streckte sich ihm entgegen, das bildete er sich nicht nur ein! Sie war eindeutig wach. Und sie hatte ihn provoziert! Entschlossen drehte er sie zu sich um und sah in verhangene Augen, in denen Lust und Verlangen standen.

Der Gedanke an das, was folgte, ließ Robert auch in dieser Nacht nicht kalt. Immer, wenn er daran dachte, überkam es ihn, und er hegte den Wunsch, dass er sie wiederfinden würde. Doch noch immer war sie wie vom Erdboden verschluckt.
Als er am Morgen wach geworden war, lag dort nur ein Zettel mit einem Gruß.

“Wer auch immer mein Blind Date war”, stand dort, “kann sich meiner Dankbarkeit gewiss sein. Denn hätte er sich nicht gedrückt, wäre ich nie in den Genuss dieser wundervollen Nacht gekommen. Ich danke Dir, verheirateter Robert. C. ”

Mehr stand dort nicht. Keine Anschrift, keine Telefonnummer, nichts.

Bis heute wusste er nicht wirklich, wie er nach Hause gekommen war. Bis heute wusste er noch nicht sicher, wie er den Streit mit Tatjana überstanden hatte. Irgendwann war er aufgestanden und gegangen. Und ihrem “Tu das nicht schon wieder!”, das sie ihm hinterherkreischte, setzte er ein müdes “Nur noch dieses Mal, Liebes” entgegen. Dann hatte er seinen Koffer vom Speicher geholt, die wichtigsten Sachen eingepackt und hatte bei seinem Bruder angeklingelt. Peter hatte ihn schweigend angesehen und dann etwas gebrummt, was sich wie “na endlich” angehört hatte.

Danach ging alles seinen Weg. Tatjana behielt alles, auch den Plastiktannenbaum. Robert wollte nichts davon haben, und so ging die Scheidung schnell und still über die Bühne.

Noch am gleichen Abend hatte er damit begonnen Carina zu suchen. Aber gefunden hatte er sie nie.

Irgendwann begannen die Träume. Er, in seinem Bett, angespannt vor lauter zitternder Erwartung. Carina kam herein, nackt, Leidenschaft verheißend. Dann fiel ihr Blick neben ihn und wandelte sich erst in Ungläubigkeit, dann in Enttäuschung, und er sah, was sie dort sah. Neben ihm lag Tatjana auf zerwühlten Kissen, das verführerische Negligé halb aufgeknöpft.

Verzweifelt rief Robert Carina hinterher, die langsam aus der Wohnung ging:

“Nein! Nicht! Das ist alles ganz anders als es aussieht!”

An diesem Punkt wachte er immer wieder auf. Schweißgebadet, einen Hauch dieser Verzweiflung noch in sich tragend.

Robert ging ins Schlafzimmer zurück und holte den Zettel aus seiner Brieftasche. Er trug ihn immer bei sich, wie einen Talisman. Wieder einmal starrte er die Zeilen an, so als würden sie irgendein Geheimnis in sich tragen, das er nicht ergründen konnte.

Schließlich faltete er ihn sorgsam wieder zusammen und legte ihn zurück.  Es war nicht mehr lang bis zum Dezember. Und er wusste, dass er sein Weihnachtsfest in dieser Hütte verbringen würde, in der Hoffnung darauf, dass sie wiederkehren würde.

Mikos Fest

Der Schnee fiel leise in dicken Flocken vom Himmel und bedeckte den Boden mit einer weißen Schicht, die sämtliche Konturen weicher machte, bis zur Unkenntlichkeit verformte. Kalt war es, und er war heilfroh, dass er den Schutzanzug auf diese Reise mitgenommen hatte. Dicke Handschuhe und nicht minder dicke Stiefel schützten seine Extremitäten nicht nur vor der Kälte, die für ihn völlig ungewohnt war. Überhaupt war hier alles fremd für ihn und er fühlte sich das erste Mal in seinem Leben völlig verunsichert.
Statt der berstenden Fülle in den Städten seiner Heimat waren hier wenige Menschen unterwegs, und wenn sie ihm begegneten, nickten sie ihm freundlich zu.
“Komisch”, dachte er, “dass sie mich überhaupt wahrnehmen. Eigentlich sollten sie doch viel zu viel zu tun haben, in dieser Zeit des Jahres.” Zuhause war es um diese Zeit immer hektisch. Alle seine Freunde und Bekannten waren wie in einem Rausch, kauften Weihnachtsdekorationen, unnütze Geschenke, planten Essen, von dem der Großteil doch im Müll landen würde. Überall plärrten Weihnachtslieder, bei denen es um Geschenke, Liebe, verlorene Liebe ging, nicht aber um das, weswegen man ja eigentlich dieses Fest feierte.
“Adventszeit”, spann er seine Gedanken weiter, “Zeit der Ankunft. Nur, wo kommen wir denn an? Im Geschenkehimmel?” Er war froh, dass er diesem ganzen Irrsinn entkommen war.

Es war so verdammt dämlicher Moment gewesen: In der Agentur hatten sie jemanden gesucht, der eine Kirchenorgel spielen kann. Niemand hatte sich gemeldet, und je näher der Termin rückte, um so verzweifelter suchte der Chef eine Möglichkeit, diesen Auftrag doch noch bedienen zu können. Der Agentur ging es nicht besonders gut, und in den vergangenen Wochen und Monaten hatten Miko und die anderen immer seltener Aufträge bekommen.

“Mikhalkin!”, brüllte Wenzel über den Flur. Ein Zeichen dafür, dass Miko zum Chef kommen sollte. Das war immer so: Der Chef kam aus dem Büro, brüllte einen Namen, und der Angesprochene wusste Bescheid, nein: Alle wussten Bescheid. In diesen Tagen hieß das: Rausschmiss. “Ich kriege einfach keine Aufträge mehr für dich rein, Junge”, sagte Wenzel dann und klopfte mit dem Kugelschreiber auf der Schreibunterlage.

Klick-Klick, Klick-Klack.
Klick-Klick, Klick-Klack.
Klick-Klick, Klick-Klack.

Bei jedem Klick-Klick fuhr die Mine des Kugelschreibers aus dem Gehäuse heraus, bei jedem Klick-Klack fuhr sie wieder hinein. Wenn dann einer dort saß, der nicht begreifen konnte, was gerade geschah, wurde das Klicken schneller, fester. Ungeduldiger.

Klick-Klack-Klick-Klack-Klick-Klack-Klick-Klack-Klick-Klack-Klick-Klack-Klick-Klack-Klick-Klack-Klick-Klack-Klick-Klack.

Miko wusste, dass er den Chef nicht warten lassen sollte, aber dann fehlte ihm doch der Mut. Rausschmiss. Es ist die eine Sache, ständig damit zu rechnen, dass die Reihe an einen selbst kommt. Wenn es aber dann tatsächlich soweit ist, sieht es wieder ganz anders aus.
“Mikhalkin!” Der Ton war lauter geworden, ungeduldiger. Wenzel würde nicht mehr lange warten. Dann käme er aus seinem Büro geschossen und würde Miko die Papiere im Flur in die Hand drücken, in der Öffentlichkeit. Unter den Augen unzähliger mitleidiger Kollegen, deren Blicke er garantiert nicht ertragen könnte. Also raffte er sich auf und schlich zur Büro des Chefs.
Die Tür stand offen; Wenzel saß schon wieder auf seinem Stuhl. Ein großes Büro war das, luxuriös eingerichtet. Fast schon ein bisschen protzig, hatte Miko immer gedacht, wenn er zum Chef zitiert wurde. In Anbetracht seines Rausschmisses kam ihm die Ausstattung nahezu dekadent vor.

Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick-Klick.

Der Ton des Kugelschreibers verriet, dass Wenzel fast vor einer Attacke stand. Was für eine, wollte Miko gar nicht erfahren. Ihm war es ziemlich gleich, ob es Panik, Wut oder ein Herzinfarkt war, womit sich sein Chef herumschlug. Nichts davon wäre angenehm, hautnah mitzuerleben, also rasselte er schnell eine Entschuldigung herunter und setzte ein dienstbeflissenes Gesicht auf.
“Ach, lassen sie das, Mikhalkin!” Miko hatte sein Verslein noch gar nicht ganz aufgesagt, als der Wenzel ihm schon ungeduldig ins Wort fiel. “Kommen wir lieber zur Sache, damit das endlich vom Tisch ist!”
Miko lächelte bitter. Jetzt war es schon so weit, dass Wenzel sich seine heuchlerische Rede sparte. Ex und Hopp, raus und außer Spesen nichts gewesen. Ihm begannen die Knie zu zittern.

“Darf ich mich setzen?”, fragte er und wartete die Antwort gar nicht ab. Erstens hatte er Angst, dass ihm die Beine gleich wegknicken würden. Und zweitens war es ja nun eh egal. Wenn er schon flog, hatte er auch nichts mehr zu befürchten.
“Klar doch, Mann”, erwiderte Wenzel. Er schien gar nicht bei der Sache zu sein. Immer wieder wühlte er in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch herum, blickte ab und an zu Miko, bevor er wieder eitersuchte. Miko beschloss einfach abzuwarten. Sonst saß er um diese Zeit im Aufenthaltsraum fror wie ein Schneider. Freitag abends war die “heiße Phase”, wie sie hier immer sagten. Es war die Zeit, in der er darauf wartete, ob nicht doch noch irgendeiner Band auf den letzten Drücker ein Saxophonist oder ein Organist fehlte und somit seine drohende Kündigung aufgeschoben wurde. Nun, hier war es wärmer, der Stuhl war bequemer, und zuhause wartete nur das klapprige Feldbett, das er im Sozialkaufhaus für 15 Euro ergattert hatte.

Igor war ein Flüchtling. Schon vor Jahren war er aus Russland abgehauen und in Deutschland untergetaucht, weil er als Schwuler und als politischer Aktivist in seinem Land Gefahr lief, deportiert zu werden.

Igor, sein bester Freund, hatte damals gelacht und gesagt: “Junge. In Russland hast du als schwuler Musiker nur eine Möglichkeit. Du musst gegen das System kämpfen.” Er schleppte Miko zu jeder Veranstaltung mit, beauftragte ihn mit kleinen Aktionen, bis er verhaftet wurde. Miko erfuhr, dass auch er auf der Liste stand und setzte sich in den Westen ab.
Und eigentlich ging es dann auch richtig gut. Er hatte “den Groove”, wie Wenzel ihm damals schulterklopfend attestierte, und lange Zeit hastete er von einem Auftritt zum anderen und immer wieder fragten Bands speziell nach ihm. Bis Wenzel auf einmal die Agentur dicht machte und verschwand. Niemand wusste, wo er hin war, und die Gerüchteküche brodelte. Steuerschulden wurden vermutet, ebenso wie ein Auftragsmord, weil Wenzel auch noch nebenher mit Koks gedealt hatte. Wusste jeder, war ein offenes Geheimnis. Und so wurden alle misstrauisch angeguckt, die ausländisch wirkten und in Wenzels Umfeld gewesen waren. Auch Miko. Sein Akzent und sein Aussehen verrieten ihn eindeutig: Russe.
Miko fand keine neue Agentur, die ihn aufnehmen wollte. “Warte noch, bis mehr Gras über die Sache gewachsen ist”, hörte er immer wieder. “Jetzt bist du nicht vermittelbar.” All seine Ersparnisse musste er aufbrauchen, so wollte es das Gesetz hier. Erst dann bekam er Unterstützung. Freiberufler. Die zahlen nicht in die Arbeitslosenkasse, also bekommen sie auch nichts raus.
Doch bevor er gezwungen war tatsächlich beim Jobcenter vorzusprechen, tauchte Wenzel wieder auf. Noch dürrer, noch tiefer liegende Augen, noch ungeduldiger. Damals fing auch der Tick mit dem Kugelschreiber an. Wenzel nahm seine Schützlinge wieder auf, aber in der Zwischenzeit waren andere Agenturen an der Spitze, und Wenzel bekam kein Bein mehr an den Boden. Die meisten guten Musiker gingen zuerst, weil sie woanders einen Job fanden. Die mittelmäßigen blieben, die schlechteren auch, bis Wenzel anfing, einen nach dem anderen zu feuern.

Bis zu diesem Tag hatte Miko immer gedacht, dass er einer der wenigen sein würde, die bleiben konnten. Er war gut, verdammt gut, und Wenzel versäumte nicht einen Tag lang, ihm das auch zu sagen. Jetzt hatten sich scheinbar die Vorzeichen geändert.

“Ha!”, Wenzels Ausruf holte Miko von seinem Ausflug in die Vergangenheit zurück. “Hier ist es. Du kannst Orgel spielen, steht hier.” Miko nickte verwirrt. Der Chef wusste doch, dass er das konnte. “Und hier steht nichts davon, was für eine Orgel das ist”, fuhr dieser fort. “Also fährst du in dieses Kaff und übernimmst die Christmesse. Drei Tage, jeweils drei Messen. Fahrtkosten übernehme ich, Kost und Logis bekommst du vor Ort. Das bringt einen Batzen Geld rein, Junge!”
Mikos entsetztes Gesicht musste Bände gesprochen haben, denn Wenzel setzte sofort nach. “Okay, du bekommst einen Feiertagszuschlag. Aber Familie hast du ja nicht hier, also ist es doch egal wo du Weihnachten verbringst.”
“Darum geht es nicht”, wandte Miko ein. “Ich kann zwar Orgel spielen, aber keine Kirchenorgel. Das ist ein himmelweiter Unterschied!”
“Ach was.” Wenzel winkte ab. “Du schaffst das schon. Junge, das sind nur Weihnachtsmessen. Da geht sowieso keiner hin. Die drei Omis, die sich das antun, sind bestimmt schon so taub, dass sie nichts mitbekommen, und die Hauptsache ist, dass der Job verdammt viel Kohle einbringt!”
Gleich was Miko einwendete, der Chef ließ es nicht gelten. Am Ende drohte er sogar mit der gefürchteten Kündigung, und so gab Miko doch noch nach.

Und nun war er hier, in dieser kleinen Stadt, weit von Berlin entfernt. Lindal. Was für ein seltsamer Name für eine Stadt. “Und wie hässlich hier alles ist!”, hatte Miko gedacht, als er am Vortag ankam. Grau, schmutzig. Kaum Bäume, kaum Wiesen. Er musste selbst über sich lachen. Als Berliner bejammerte er den Mangel an Grünflächen? Aber wer einmal in Berlin gewesen ist, wird bestätigen können, dass es dort viele Parks und andere Flecken gibt, wo die Natur sich noch ausbreiten kann. Allein an der Spree war es doch immer wieder so schön. Es gab so viele Flussarme, und jeder hatte seine Eckchen, an denen man glauben konnte, dass man irgendwo fernab jeder Zivilisation säße. In diesem Wesel war das nicht so. Da wirkte selbst die Kirche, in der er spielen sollte, grotesk. Eingequetscht zwischen Hochhäusern, die ihm den Raum zum atmen nahmen, der Vorplatz vor dem Eingang durch Straßen abgeschnitten, ein Monument, das selten fehl am Platze wirkte.

Und doch. Heute morgen war alles ganz weiß gewesen, als er aufstand und aus dem Fenster schaute. All der Schmutz, all das Grau und diese schrecklichen Häuser und Straßen: Alles war mit einer Schneedecke überworfen worden, so wie man eilig die Tücher über die Möbel zieht, wenn man für längere Zeit verreist.
Und plötzlich war er froh, dass er das Weihnachtsfest in dieser seltsamen kleinen Stadt verbringen würde. Er genoss das Frühstück im Hotel – ein riesiger Bau, der pompöser als die Kirche wirkte und auch wesentlich mehr Platz zur Entfaltung hatte – und spazierte im Anschluss gemächlich in Richtung Innenstadt, um den Organisten vor Ort zu treffen.
Auf dem Weg dorthin beobachtete er die Menschen, wie freundlich und entspannt sie miteinander umgingen. Ein Kind rutschte aus und fiel hin, und eine Frau hob es auf, tröstete es und gab es dann der Mutter in die Arme, die sich lächelnd bedankte. Fremde Menschen nickten ihm freundlich zu, manche grüßten sogar. In allen Fenstern hing Weihnachtsschmuck, meistens sah er aus, als sei er selbst gebastelt worden, Schneemänner mit Karottennasen zierten die Vorgärten und Kinder tobten sich bei Schneeballschlachten aus.
Er genoss diesen krassen Kontrast zu der Großstadt, in der er sonst am liebsten vor diesem unseligen Fest geflüchtet war.
Bis ihm wieder einfiel, warum er hier war. Da holte ihn sein schlechtes Gewissen wieder ein, und er war sich nicht sicher, wie er diese drei Weihnachtstage überstehen sollte.

Seine Schritte verlangsamten sich und er dachte nach, was er nun tun könnte. Er wollte diese Menschen nicht enttäuschen. “Von wegen ‘Es kommen nur drei Omis in die Kirche'”, dachte Miko. Die Empfangsdame im Hotel hatte ihm berichtet, dass die Weihnachtsmessen in Lindal immer gut gefüllt seien. “Das sind neun Messen an den Feiertagen, so dass alle Familien Zeit und Platz haben, um der Messe beizuwohnen”, erklärte sie ihm. “Früher gab es nur zwei, die morgens und die am Abend. Aber das hatte nicht gereicht. Die Leute haben sich um die Sitzplätze gestritten und es war immer sehr unruhig während des Gottesdienstes. Also hat der Pfarrer kurzerhand eine weitere Messe anberaumt.” Einzig die erste, am Nachmittag des Heiligen Abends, sei nicht so gut besucht. “Da nehmen die meisten am großen Weihnachtsspiel teil. Hinten am Drühner Wald treffen sich alle und gehen ein bis zwei Stunden wandern. Ziel sind dann die Drühner Anhöhen, denn dort gibt es einen großen Platz, auf dem ein Feuer angezündet wurde. Die Familien setzen sich dort alle zusammen, singen Weihnachtslieder und verzehren selbstgebackene Plätzchen und heiße Getränke.”
Ausführlich beschrieb die Dame das ganze Ritual, und ihre leuchtenden Augen verrieten Miko, dass sie selbst gerne an diesem Spektakel teilnahm. “Im Anschluss an das Lagerfeuer gehen alle dann mit Laternen oder Taschenlampen durch den Wald zurück zum Treffpunkt. Dort gibt es meist noch ein großes Hallo, bis sich alle voneinander verabschiedet haben.”
“Aber das kostet doch eine Menge Zeit”, wandte Miko ein. “Brauchen die Leute diese denn nicht um ihre eigene Feier vorzubereiten?” Er nahm seine Hände zu Hilfe und zählte auf: “Das Haus muss geputzt werden, der Baum aufgestellt und geschmückt. Weihnachtsdekoration muss überall verteilt werden. Dann hat man meistens noch irgendwas oder irgendwen vergessen und muss nochmal einkaufen gehen. Das Essen, wer bereitet denn das Essen zu, wenn alle im Wald umherspazieren?”
Die Empfangsdame hatte herzlich gelacht. “Aber deswegen haben wir doch schon am Heiligabend alle Geschäfte geschlossen. Es war ein ziemlicher Kampf, weil gerade die großen Geschäfte dagegen gewehrt haben. Ein halber Tag Umsatzeinbuße, das konnten sie sich nicht vorstellen.”
Miko erfuhr, dass sich aber der Großteil der Bürger für diese Maßnahme ausgesprochen hatte und bereit gewesen waren, diese notfalls mit Streiks und Ladenboykotte durchzusetzen. Man einigte sich darauf, es einmal zu versuchen, und die Verkaufszahlen stiegen in den Tagen vor Weihnachten, so dass es sich ausglich. “Die Leute haben also am Heiligabend alle Zeit der Welt”, stellte Miko fest.
Ihr Nicken und Lächeln bestätigte seine Überlegung. “Wir leben hier die Adventszeit anders als in den großen Metropolen. Hier wird weniger gekauft und geschenkt. Dafür legen wir hier sehr viel Wert auf ein Miteinander. An jedem Adventssonntag gibt es hier die Möglichkeit, in der Gemeinschaft zu singen und zu basteln, zu backen oder aber auch einfach nur beisammen zu sitzen und zu erzählen. Viele Familien legen darauf wert und beteiligen sich. Die Adventszeit ist bei uns tatsächlich eine Zeit der Besinnung.”

Nachdenklich stapfte Miko weiter durch den Schnee. Der Schnee gab unter seinen Schritten nach; man konnte ein leises Knirschen vernehmen, wenn man genau hinhörte. Schnee dämpfte einerseits die Geräuschkulisse, er wirkte wie eine gute Schallisolierung. Andererseits verursachte er selbst wiederum neue, ganz andere Geräusche, die meist in der Hektik des Alltags untergingen. “Oder im Verkehrslärm”, dachte sich der Musiker.
“Musiker. Ha!” Wieder einmal dachte Miko daran, dass er nun diese armen Leute alle um ein schönes Weihnachtskonzert bringen würde. Weil Wenzel ihn einfach als Virtuose auf der Kirchenorgel angepriesen hatte. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu diesem Punkt zurück. Wütend trat er gegen einen Schneehaufen und ging weiter.

Irgendetwas musste er sich einfallen lassen.

“Ich könnte es tun.” Miko und Herr Klein, der Organist, fuhren herum. Dort stand ein Jüngelchen, ungefähr 16 Jahre alt. Schmalbrüstig, mit blassem Gesicht, die schwarzen Haare hingen ihm bis zum Kinn, schlugen gleichsam auf den hochgestellten Kragen eines langen Ledermantels auf. “Deutschlands Antwort auf Matrix”, schoss es Miko durch den Kopf, während er seinen Blick zu den – ebenfalls schwarzen – Motorradstiefeln wandern ließ. Natürlich waren Hemd und Lederhose in der gleichen Farbe, so dass man wirklich glauben konnte, dass ein pubertierender Neo reinkarniert sei. Nur die Pickel passten nicht wirklich zum restlichen, so edle Outfit.
“Wir sprachen schon darüber”, wehrte Herr Klein ab. “Das Weihnachtskonzert ist kein Übungsabend für einen Jugendlichen, dessen Eltern noch nicht einmal wissen, dass ihr Kind eine Leidenschaft für die Kirchenorgel entwickelt hat.”
“Aber es ist auch ein zu wichtiger Abend, als dass er von einem Klavierstümper kaputt gemacht werden kann”, wandte das Jüngelchen ein und warf einen abschätzigen Blick zu Miko herüber.
“Da hat er recht”, bekräftigte dieser und sah den Organisten fragend an. “Wie lange spielt der Junge schon?”
“Lange genug um zu wissen, dass eine Orgel kein Klavier ist”, fauchte der junge Kerl, und wandte seine Aufmerksamkeit dem älteren Mann an Mikos Seite zu. “Bitte, Onkel Hans. Du weißt, dass ich es kann. Meine Eltern interessiert ja eh nicht, was ich an Heiligabend mache. Die feiern doch kein Weihnachten.”
Der flehende Ton rührte Miko und er versuchte zu vermitteln. “Lassen Sie den Jungen doch spielen. Zur Probe, jetzt. Dann wissen wir doch, ob er das hinbekommt. Eine andere Lösung sehe ich nun nicht”, meinte er und wies bedeutsam auf den Gipsverband an der Hand des Organisten.

Wie Miko erfahren hatte, kam sein Engagement nur zustande, weil der Organist durch einen Bruch des Handgelenks an der Ausübung seiner “Pflicht, wie auch Freude”, so wie er sich ausgedrückt hatte, verhindert war. Die Gemeinde war gezwungen gewesen zu entscheiden: Das Konzert absagen oder aber einen Musiker von auswärts engagieren. Die Wahl fiel auf Miko, weil Wenzel behauptet hatte, er sei ein Virtuose an der Orgel. Nun, so ganz unrecht hatte sein Agent nicht – er hatte nur tunlichst das Wort Kirchenorgel vermieden.
Zögernd nickte Herr Klein, jeglicher anderer Möglichkeiten beraubt. “Also gut. Dann zeig mal, wie weit du bist.”

Der Junge eilte zur Orgel und machte sich an ihr zu schaffen. Was er dort alles anstellte, konnte Miko weder sehen noch hätte er es verstanden. So wandte er den seine Aufmerksamkeit dem Organisten zu, der dem Ganzen mit zweifelnder Miene zusah. “Ein Teenager, der freiwillig Klassik spielt, und das auch noch in der Kirche?”
Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. “Irgendwann tauchte Michael hier auf. Jeden Sonntag schlich er sich hoch zu mir und schaute aufmerksam zu, was ich da mache. Noch bevor der Gottesdienst vorbei war, verschwand er wieder. Irgendwann erwischte ich ihn dann, als er auf dieser Bank hier saß.” Er nickte mit dem Kinn zu der kleinen Bank, die vor der großen Orgel aufgestellt war. “Erschrocken war er, und fast hätte ich ihn nicht erwischt. Ein flinker Bursche ist er.” Anerkennung schwang in der Stimme des älteren Mannes mit. “Als er merkte, dass er nicht auskommen konnte, verlegte er sich aufs Betteln. Orgel spielen wolle er. Ich solle ihm das beibringen.” Klein lachte auf und schüttelte mit dem Kopf, in Gedanken in der Erinnerung an jenen lang vergangenen Tag verloren. Eine Zeit lang schwieg er, nickte nur ein wenig versonnen mit dem Kopf, bevor er schließlich auffuhr und seine Erzählung fortsetzte.
“Natürlich habe ich nein gesagt. Aber das hielt ihn nicht ab. Einmal erwischt, kam er nun häufiger. Putzte die Tastatur, legte die Noten zurecht. Und er begann auf den Pfarrer einzureden. Ich bräuchte eine Vertretung, einen Nachfolger. Bis dahin könne er doch von mir lernen.”
Er gluckste vor Vergnügen, als erzählte, dass der kleine Mann sogar Messdiener werden wollte, nur um seinem Ziel näher zu kommen. Aus irgendeinem Grund dachte er, dass dies helfen würde.
“Nur ging das leider nicht. Michaels Eltern sind überzeugte Atheisten, sie haben den Jungen nicht taufen lassen. Also konnte er auch kein Messdiener werden, und im Zweifelsfall vertreten kann er mich auch nicht.” Klein beugte sich vor und raunte dem gespannt lauschenden Miko zu: “Der kann das Konzert, werden Sie gleich sehen. Aber er ist kein Christ. Also…” Nun verdrehte er die Augen: “Die Regeln, sie wissen schon.”

Ja, Miko wusste schon. Er überlegte kurz, bevor er zu sprechen begann. “Vielleicht…”
Weiter kam er nicht, denn nun erschollen mächtige Klänge die Kirche, und Miko wurde in den Bann der Musik gezogen. “Wie feinsinnig und virtuos der Junge spielt”, dachte er noch, bevor er sich ganz dem Zauber der Musik ergab.

Als die letzten Töne verklungen waren, blieb es noch lange still in der Kirche. Keiner bemerkte die Blicke Michaels, der bange zu den beiden Männern sah, von einem zum anderen und wieder zurück. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
“Ich hab mir das genau überlegt, Herr Klein. Ich bin alt genug, ich darf doch selbst entscheiden, ob ich Christ sein will oder nicht. Ich geh nachher zum Pfarrer und dann soll der mich taufen, und schon kann ich die Orgel spielen!”, brach es aus ihm heraus. “Bitte, Herr Klein… die Weihnachtsmesse braucht eine gute Musik…”

Der Organist winkte ab. “Du glaubst doch gar nicht an Gott. Darüber haben wir oft genug schon geredet. Und dein Vater verprügelt dich, wenn er dich nur in der Nähe der Kirche findet.”
“Ja, na und?” Der Trotz in der Stimme des Jungen war kaum zu überhören. “Es geht doch nur um die Musik! Und um die Messe, die muss doch stattfinden!”
Miko starrte Michael an. “Das würdest du tun, nur um dieses Konzert spielen zu können?”, fragte er erstaunt, und der Junge sah ihn ruhig und bestimmt an.
“Ja.”
Mehr sagte er nicht, und mehr bedurfte es auch nicht. Und in Mikos Kopf begann ein Plan zu reifen. Er zog den älteren Mann zur Seite und sprach leise zu ihm, erläuterte ihm das, was ihm durch den Kopf ging. Herr Klein nickte bedächtig, stellte ein paar Fragen, nickte wieder. Schließlich waren sie sich einig.

An allen drei Weihnachtstagen saß Miko in der Kirche, oben auf der Chorempore, auf der Bank ganz an der Wand. Und an allen drei Tagen lauschte er dem Spiel Michaels, von dem jeder glaubte, dass dies sein Spiel war.

An einem dieser Tage würde ganz sicher sein alter Freund Cosmin hier auftauchen und dem Konzert lauschen. “Junge,” hatte er zu Miko gesagt, als dieser ihn anrief und von Michael berichtete. “Wenn einer sagt, es geht nur um die Musik, dann ist er richtig beim alten Onkel Cosmin.”

Und Miko war sich sicher, dass Michael, wenn er das wollte, genau dort richtig sein würde: Im Musikkonservatorium in Prag, unter den Fittichen seines alten Freundes.

Dunkle Zeiten

Als die Tage wieder dunkler wurden, begann für Romi eine schwere Zeit. Sie wusste genau, woran das lag, aber es gab niemanden in ihrer Klasse, mit dem sie darüber hätte reden können. So zog sie sich, je näher das Fest kam, weiter in sich zurück, und am letzten Tag vor den Ferien ging sie nach Haus, ohne auf die guten Wünsche, die ihr zugerufen wurden, zu achten. In sämtlichen Häusern und Wohnungen um sie herum wurde geschmückt, gebacken, gebastelt, wurden Lichter angezündet und Wunschzettel geschrieben. Die Menschen freuten sich auf das Weihnachtsfest, hatten es zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht, im Bewusstsein dessen, dass es in dieser dunklen Zeit ein strahlender Punkt sein würde, der dafür sorgte, dass sie die Zeit bis zum Frühjahr in irgendeiner Form überstanden. Für Romi gab es diese hellen Momente nicht. Weihnachten, das war für sie mit Schmerz, Anspannung, Wut, Trauer, Verzweiflung verbunden. Mit zerbrochenem Geschirr, Blut auf dem Teppich und ausgerissenen Haaren im Mülleimer. Weihnachten war für sie grölende Männer, die betrunkene Frauen auf ihren Schoß zogen, die achtlos ihre sorgsam gebastelten Geschenke auf den Boden warfen und auf sie traten, wenn sie dann im Weg lagen. Weihnachten hatte für sie persönlich ein „h“ zuviel, denn sie konnte es nur mit Weinbrand und brennenden Tränen in Verbindung bringen, so weit sie zurückdenken konnte. Dabei begann es jedes Jahr immer so friedlich…

„Dieses Jahr machen wir alles anders, Romi“ versprach ihre Mutter ihr jedes Jahr, und der Vater schwor Stein und Bein, dass er höchstpersönlich mit ihr den Christbaum aussuchen würde. Am ersten Advent saßen sie stets gemütlich beieinander und schmiedeten Pläne, die sich um Plätzchenbacken, Basteln, Geschichten erzählen, Spaziergänge im Schnee und Adventskalender drehten, und sie schrubbte mit ihrer Mutter die viel zu kleine Wohnung, bis jede Ecke glänzte, als sei sie schon geschmückt. Mit Feuereifer stürzte sie dann in den folgenden Tagen von der Schule nach Hause, bereit, all das auszuführen, von dem ihre Eltern gesprochen hatten. Doch statt des versprochenen Bastelmaterials stand auf der schäbigen Anrichte nur eine Batterie von Flaschen mit ungut riechendem Inhalt, und all die wohlfeilen Pläne wurden von Tag zu Tag weiter nach hinten verschoben. In den Wald ging sie dann allein, sammelte Kiefernzapfen und Tannenzweige, Steine und Moose, Beeren und Mistelzweige, mit denen sie dann begann, die Wohnung so herzurichten, dass es wenigstens etwas nach Vorweihnachtszeit aussah. Sie bespickte Orangen mit Nelken, um den schalen Geruch aus den Zimmern zu treiben, buk die einfachen Plätzchen, wie es die Oma ihr beigebracht hatte, als sie sie noch besuchen durfte, summte leise für sich Weihnachtslieder und bemalte die Rückseite vom Bescheid vom Arbeitsamt mit hübschen Ornamenten, um daraus zumindest ansatzweise einen Wunschzettel zu machen. Wenn es dann so richtig geschneit hatte, schrieb sie in Schönschrift ihren einzigen Wunsch, den sie hatte, auf den vorbereiteten Zettel und versteckte ihn dann in einer Schneelaterne, wie sie es bei „Petterson und Findus“ gelernt hatte. Doch Jahr um Jahr blieb der Zettel zurück, wurde nicht abgeholt, und so begann sie zu zweifeln. Sie fragte sich, ob sie nicht dieses grässliche Fest genau so verdient hatte, wie es Jahr um Jahr stattfand. Es kümmerte sich ja niemand um sie, wenn sie dann still in ihrer Ecke saß und den fremden

Menschen zusah, wie sie aus der Geburtstagsfeier für Jesus ein Besäufnis machten, eher einem Stammtisch würdig als diesem heiligen Anlass, und sie war froh, wenn der Zeitpunkt kam, an dem sie sich von den Anwesenden verabschiedet hatte. Dann ging sie still ins Bad, wusch sich endlos und ewig, bis sie den Alkohol- und Zigarettendunst nicht mehr roch, schlich zu ihrem Zimmerchen und holte den Schlüssel aus ihrer Tasche. Seit einmal dieser Mann in ihrem Zimmer gestanden hatte und sie wie am Spieß loskreischte, hatte ihre Mutter ihr erlaubt, sich am Heiligen Abend einzuschließen. Romi vermutete aber, dass das nichts mit ihrer Sorge um sie zu tun hatte sondern nur mit den unschönen Folgen, die dieser Abend damals hatte. Es gab einen Riesenaufruhr, denn auch unter diesen volltrunkenen Menschen gab es noch ein oder zwei mit einem Fünkchen Anstand, der sie dazu anhielt, diesen widerlichen Menschen von ihr fort zuziehen. Es artete in eine üble Prügelei aus, und die Blutflecken waren bis heute noch nicht ganz raus aus dem Teppich, gleich wie oft sie versuchte, ihn zu reinigen. Immer noch hörte sie die zu einer Groteske verstümmelten Worte der Strafpredigt, mit der ihr Vater sie seinerzeit zulallte, und jedes einzelne Wort saß wie ein Messerstich in ihrem Herz. Romi hatte ihm schweigend zugehört, mit hochrotem Kopf, da er diese Ansprache vor den versammelten Gästen hielt, vor diesem Schwurgericht aus alkoholkranken Tagedieben und liederlichen Weibsbildern, die ihre zerrissenen Kleider kritisch begutachteten und die Röte in ihrem Gesicht als schamvolles Schuldeingeständnis hinnahmen. Schöne Augen hätte sie dem Gast gemacht, den ganzen Abend schon, klagte ihr Vater sie an. Eine Hure hätte er an seinem Busen genährt, keinen Deut besser als die Alte, die er aushalten müsse. An dieser Stelle, erst dann, hatte ihre Mutter zu protestieren begonnen, beschimpfte ihn als Säufer und Taugenichts, der kein Recht hätte über sie – sie!! – zu urteilen. Die Folge waren weitere Streitereien, bei denen zur Krönung der Christbaum umfiel und das Wohnzimmer in Brand steckte. Im darauffolgenden Jahr schloss die Mutter am Heiligabend Romis Zimmer ab und reichte ihr schweigend den Schlüssel – und einen Christbaum gab es nie wieder.

„Dieses Jahr wird alles anders“, versprach ihre Mutter Romi, als sie am ersten Advent beisammen saßen und heißen Kakao tranken. Der Duft der gebackenen Plätzchen vermischte sich mit dem der Nelken, die in ihrem Orangenbett auf der Heizung ruhten. „Ja“, antwortete Romi, wie in jedem Jahr. Aber dann fuhr sie fort. „In den vergangenen Wochen habe ich viel nachgedacht, Erkundigungen eingeholt und mich darum gekümmert, dass es anders wird – Nein, lasst mich bitte dieses eine Mal ausreden.“ Romi hob die Hand, um die Unterbrechungsversuche ihrer Eltern abzuwehren. „Ich werde in zwei Wochen 16 Jahre alt, und hier verfaule ich wie ein Apfel, der sich im Obstkorb an anderen faulen Früchten anlehnt. In jedem Jahr wird es immer schwieriger für mich, euch zu verzeihen, dass ihr eure Versprechen nicht einhaltet. Von Moment zu Moment wird es für mich schwerer, über eure Exzesse hinwegzusehen, sie vor allem vor dem Rest der Welt zu kaschieren. Ich kann es nicht mehr, und ich will es auch gar nicht mehr.“ Sie strich sich mit einer fahrigen Bewegung die Haare aus dem Gesicht, ein Zeichen für dafür, wie schwer ihr das alles fiel. Und dennoch gab sie sich einen Ruck und fuhr fort, entschlossen, für ihre Zukunft zu kämpfen. „Ich war bei der Jugendberatung, Papa, und beim Verein für Kinder alkoholkranker Eltern und habe mich beraten lassen. Es liegt an euch, wie es in Zukunft weitergeht. Ihr könnt für mich betreutes Wohnen beantragen, dort kann ich noch vor Weihnachten einen Wohnplatz bekommen. Oder aber,“ ihre Stimme wurde lauter um den beginnenden Protest zu übertönen,

„ich zeige Euch beim Jugendamt an wegen permanenter Misshandlung und Vernachlässigung, dann wird euch das Sorgerecht von Amts wegen entzogen und ihr werdet euch vor dem Gericht verantworten müssen.“ Schnell sprach sie weiter, voller Angst, dass ihr Vater noch vor dem Ende ihrer immer wieder geprobten Ansprache völlig die Kontrolle über sich verlieren würde. „Ich will euch nicht strafen oder bloßstellen, aber ich will, nein ich muss an meine Zukunft denken, und ich weiß, dass ich hier keine haben werde. All die Jahre habe ich geschwiegen, gehofft, dass ihr eure Versprechen haltet, dass ihr nicht mehr so viel trinkt, dass ihr mir helft, euch Arbeit sucht, dass wir eine richtige Familie werden, aber ich weiß, dass das niemals geschehen wird. Nein, Mama, schau nicht so verletzt. Ich bin diejenige, die jahrelang eure Beschimpfungen hinnehmen musste, die heimlich nachts weinte, weil aus dem versprochenen Tagesausflug zum Meer wieder nichts wurde, die am Monatsende in den Geschäften um ein Brot und eine Handvoll Nudeln betteln musste, damit ich überhaupt etwas zu essen bekam.“ Unwillig wischte Romi die Tränen weg, die ihr ungewollt über die Wangen liefen. „Ich habe all die Jahre heimlich Oma in ihrem Heim besucht, heimlich. Ich musste euch hintergehen, um die einzige Person nicht zu verlieren, der ich wirklich wichtig bin. Ich habe es nie verstanden, warum ich nicht mehr zu ihr durfte, Mama, und ich bin froh, dass ich mich nicht an euer Verbot gehalten habe. Eine Pflegerin dort gab mir die Adressen der Organisationen, an die ich mich wenden kann, und Oma hat mich in diesem Vorhaben bestärkt.“ Während sie weitersprach, sorgsam darauf bedacht, keine allzu lange Pause aufkommen zu lassen, die ihren Eltern die Gelegenheit gegeben hätte, ihr ins Wort zu fallen, holte Romi ein paar Unterlagen aus ihrer Schultasche. „Ich war da, Papa. Und sie gaben mir ein Antragsformular mit, das ihr nur noch unterschreiben müsst.“ Zitternd vor lauter unterdrückten Tränen, vor Aufregung, vor Erstaunen über ihrem eigenen Mut, hielt sie ihrem Vater die Papiere hin. Wortlos starrte er sie an und kurz, nur für den Hauch eines Augenblicks, blitzte widerwilliger Respekt in seinen Augen auf, der bald schon überschattet wurde von dem leeren Blick, der sonst immer in seinen Augen die Kontrolle übernahm. Romi stand auf und hielt ihm die Papiere noch näher hin, fast berührten sie seine Finger, aber er rührte sich nicht. Fragend drehte sie sich zu ihrer Mutter, bat sie mit stummem Blick, den Antrag in ihre Hände zu nehmen, doch der ausweichende Blick verriet Romi, dass sie auch hier keine Unterstützung zu erwarten hatte. So legte sie sanft die Unterlagen auf der Anrichte ab, drehte sich um und ging hinaus. Sie hatte noch viel zu tun, bis die Mühlen des Jugendamtes für sie zu mahlen beginnen würden.

In diesem Jahr würde sie auf keinen Fall mehr bei ihren Eltern Weihnachten feiern, das hatte Romi schon beschlossen. Sie würde die Einladung ihrer Großmutter annehmen, würde Weihnachtsschmuck für das Altenheim anfertigen, ein Gedicht auswendig lernen, ein Geschenk für ihre Oma basteln – und ihren Wunschzettel in die Schneelaterne legen.

In diesem Jahr würde alles anders.

Der erste Schritt war getan.

Klassentreffen

Es ist wieder einmal soweit: Klassentreffen.

Helga hat sich unglaublich viel Mühe gemacht: Zehn Jahre nach dem letzten Treffen sind viele Klassenkameraden umgezogen, haben sich scheiden lassen, neu geheiratet. Namen, Anschriften, all das hat sich geändert, und da natürlich niemand daran dachte, unsere selbsternannte Präsidentin des Festkomitees darüber zu informieren, sind etliche Einladungen wieder zurückgekommen.

Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie sich davon aufhalten ließe. Ein bisschen im Internet recherchieren, die Beziehungen zum Einwohnermeldeamt spielen lassen, andere Ehemalige nerven und ausfragen – und endlich hat sie alle erreicht. Der Termin ist so gelegt, dass eigentlich jeder zusagen kann: Genug Zeit zu planen und einen Abend freizuhalten hat sie klugerweise eingeräumt. Das Treffen findet in einer Pension statt, die moderate Preise bietet, weil Paul, der Inhaber der Pension, der Bruder von Erwin ist und Erwin unser Klassensprecher war. So können auch die, die weit weggezogen sind, ohne desaströse Ausgaben an dem Treffen teilnehmen. Die klassischen Ausreden waren damit bereits im Vorfeld ausgeräumt, so würden lediglich die nicht auftauchen, die immer fehlten.

Unzählige Mails mit Erinnerungen („Nicht vergessen: Am 23. Oktober ist es soweit! Du kommst doch ganz gewiss?“), Anweisungen („Bringt bitte alle das Jahrbuch mit und das T-Shirt mit den ganzen Unterschriften! Wir haben ein Spiel vorbereitet!“), Regeln („Die Partner bleiben bitte daheim, ebenso Kind, Hund, Katze, Maus, haha!“) und sonstigen für Helga so wichtigen Details sind vermutlich bei jedem von uns hereingeschneit; mindestens genauso viele Anrufe erreichten uns, und nein, Leute: Nicht rangehen ist bei einem Anruf von Helga keine Option. Dann folgen weitere Anrufe im Fünf-Minuten-Takt, so wie eine weitere Mailflut, in der um dringenden Rückruf gebeten wird.

Aber gut, alle zehn Jahre kann man mal so eine Zeit mitmachen. Letztendlich lassen wir das alles nun zum dritten Mal über uns ergehen, und es hat sich die beiden vorhergehenden Male gelohnt. Viele nette Gesichter, das Erstaunen auf allen Seiten, was aus uns geworden ist, gute Gespräche und viel Gelächter – auch über Helgas militärische Vorbereitungsweise – machen das locker wieder wett.

Natürlich gibt es auch Leute, die würde man am liebsten gar nicht mehr sehen.

Ludwig zum Beispiel hätte ich beim ersten Klassentreffen am liebsten nicht dabeigehabt. Die Erinnerung daran, dass er auf der Abschlussfeier mit mir Schluss gemacht hat um mit Karina aus der 10c zu knutschen, saß einfach noch wie ein bohrender Nagel in meinem Selbstbewusstsein. Als ich aber dann sah, was aus ihm geworden war, dankte ich allen Göttern und insbesondere Karina dafür, dass sie ihn auf Abwege geführt hatten:

Ich hatte ihn größer in Erinnerung. Größer, mit mehr Haaren auf dem Kopf. Wo waren seine wunderschönen Wuschellocken hin? Da war nur noch ein schütterer Rest, der mehr nach einem verzweifelten Versuch, Haare vorzutäuschen, aussah. Und dann diese Brille! Glasbausteine! Hatte der Mann noch nichts von Kontaktlinsen gehört? Ich muss heute noch grinsen, wenn ich daran denke, wie Andrea und ich zusammenstanden, kichernd zu ihm rüber starrten und all seine schrecklichen Veränderungen aufzählten, die uns auf den ersten Blick auffielen.

Als ich am Ende des Abends Andrea und Ludwig knutschenderweise im Auto sitzen sah, musste ich noch mehr lachen.

Im Jahr darauf traf es mich allerdings noch schlimmer. Ansgar war scheinbar für eine Weile zurück in Deutschland und beehrte uns deswegen mit seiner Anwesenheit. Ansgar war seinerzeit immer der Klassenbeste gewesen und wurde uns Verlierern als leuchtendes Beispiel vorgehalten, was er ganz offen und unheimlich genoss. Nach unserem Abschluss absolvierte er noch das Gymnasium und schloss dort mit Summa Cum Laude ab. Natürlich studierte er. Irgendwas mit Bio oder Chemie, oder mit beidem. Auf dem ersten Klassentreffen fehlte er, und Helga erzählte lang und breit mit dieser bedeutungsschwangeren Stimme, die andeuten sollte, dass nun etwas hochdramatisch Wichtiges ans Licht kommen würde, dass er nun ein Forschungsprojekt in den USA leiten und gerade in einer wichtigen Phase des Projekts stecken würde, was ihn leider daran hindere zum Treffen zu kommen.

Dafür war er dann bei dem zweiten Treffen dabei und sonnte sich in der Bewunderung aller, die ihm Respekt zollten für all das, was er von seinem Lebensstil in den USA erzählte. Seine Lieblingssätze waren: „Das kennt ihr hier natürlich nicht.“, und: „Habt ihr das hier nicht? Ach, ja….“

Dabei setzte er eine derart gönnerhafte Miene auf, dass ich ihm am liebsten sein Flugticket ins Maul gestopft und mit einem Tritt auf den Heimflug befördert hätte. Ohne Flugzeug. Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, auch allen, wirklich allen Leuten ein Gespräch aufzuzwingen, gleich ob man wollte oder nicht, und so stand er tatsächlich irgendwann auch bei uns.

Ich verdrehte die Augen und hörte gar nicht richtig zu, was er da zu erzählen hatte, aber das schien ihn gar nicht zu stören. Er erzählte und erzählte, bis ich mich höflich entschuldigte und in Richtung WC verschwand, um endlich meine Ruhe zu haben.

Nun, vermutlich wird er in diesem Jahr wieder zu beschäftigt sein, also freue ich mich tatsächlich wieder ein bisschen auf das Treffen.

„Hey, schön dass du da bist!“ Helga stürmt auf mich zu, kaum dass ich den Festraum betreten habe und fängt sofort an auf mich einzuschwatzen, als seien wir Busenfreundinnen. Oh Gott. Ich konnte Helga nie ausstehen, weil sie immer alles machen wollte, sich für jeden Mist am schnellsten und am lautesten gemeldet hatte. Ihre Noten waren grottenschlecht, aber die Lehrer mochten sie natürlich, weil sie immer so hilfsbereit war und hievten sie durch jedes Schuljahr. Jeden Sommer betete die halbe Klasse stumm darum, dass sie es ein einziges Mal nicht schaffen würde. „Bitte! Einmal nur! Eine Ehrenrunde schadet doch niemandem!“, bettelten wir bei der Zeugnisvergabe unsere vorhandenen oder eingebildeten Götter an; stumm, um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht. Und jedes Jahr entgleisten uns die Gesichtszüge, wenn sie dann stolz verkündete: „Versetzt in Klasse Xb!“

Wie dem auch sei, ich mied Helga während unserer Schulzeit wie Strickstrumpfhosen im Frühjahr. Auf der weiterführenden Schule galten Strickstrumpfhosen als gesellschaftlicher Tod. Helgas Gesellschaft war eher so, als wäre man an einem Pfahl im Meer angebunden, bei Ebbe bis zur Brust im Wasser, nicht wissend, ob Haie oder die Flut letztendlich für Deinen Tod sorgen würden. Bei strahlender Sonne betetest Du irgendwann um einen Hai, der dann aber sicherlich nicht auftauchen würde.

Und genau diese Helga hakt sich nun bei mir unter und erzählt mir strahlend, wie toll alles geworden sei und dass fast alle zugesagt hätten. Ich nicke abwesend und suche nach einem Grund, mich höflich bedauernd von ihr loseisen zu können, als der Name „Ansgar“ fällt.

„… stell dir vor, und gestern Abend rief er an und erzählte, dass er es doch noch schafft, und so ist er quasi unser Überraschungsgast des heutigen Abends!“ Helga fängt an zu kichern. Ein schulmädchenhaftes Gackern, das mich an jene Zeiten erinnert, in denen ich mit meinen Freundinnen auf Feten zusammengestanden und zu den Jungs rüber gestarrt habe. Aber okay, da waren wir 14 Jahre alt, nicht ein halbes Jahrhundert! Allerdings rückt diese Peinlichkeit in den Hintergrund, als ich ihre nächsten Worte wahrnehme:

„Ich dachte mir, dass ich euch nebeneinander setze. Ihr habt euch das letzte Mal so gut unterhalten, sagte Ansgar.“ Sie zwinkert mir auffällig zu und raunt dann auf derart vertrauliche Weise in mein Ohr, dass ich nicht weiß, was ich schlimmer finden soll: Ihren anzüglichen Ton oder der Inhalt dessen, was sie sagt. „Da geht noch was zwischen euch… Du bist doch immer noch Single, oder?“

Dem Himmel sei Dank wartet sie gar nicht auf meine Antwort sondern löst sich von mir und flattert zu dem nächsten bedauernswerten Gast, der gerade den Weg zu uns gefunden hat.

Ich lasse mich auf den nächsten freien Stuhl sinken und stöhne auf. Kurz überlege ich, ob ich nicht heimlich verschwinden soll, aber da steuert unsere Gastgeberin wieder auf mich zu, den Stargast im Schlepptau. Ansgar sieht mich erfreut an, und ich bemühe mich, zumindest höflich zu sein. Nachdem wir uns die Hände gereicht haben, will er gleich ein Gespräch mit mir anfangen. Ich aber drehe mich um und stürme auf Ludwig und Andrea zu, als seien sie die rettende Oase in der Wüste.

Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich noch, wie Helga der Mund offen stehen bleibt. Sie sucht offensichtlich nach passenden Worten, um die Situation noch zu retten, aber das ist mir egal. Soll sie doch mit ihm fertig werden.

Andrea und Ludwig schauen verkrampft lächelnd durch den Raum. Der Abstand zwischen ihnen und ihre Körperhaltung verrät mir, dass Helga auch hier die Zeichen missdeutet und die beiden Falschen zu einem Paar zusammengefügt hat: Die beiden sind kein Paar geworden, sondern haben nur die Nacht miteinander verbracht.Nun müssen sie schon zum zweiten Mal dafür büßen, dass sie die Finger nicht voneinander lassen konnten.

Beim zweiten Treffen hat Andrea mich an ihre Seite gezogen und mir das ganze Drama erzählt. Am Morgen danach sei sie durch eine keifende Stimme neben ihm aufgewacht und hätte den Schock ihres Lebens bekommen. Offenbar hatte Ludwig ihr verschwiegen, dass er noch bei seiner Mutter wohnte und diese die Angewohnheit hat, ihrem Söhnchen den Kaffee ans Bett zu bringen. Als Mutti nun ihren Ludwig mit einer Frau im Bett erwischte, brach wohl ihr Weltbild zusammen, und das Drama, das folgte, war laut meiner ehemaligen Banknachbarin filmreif: Andrea im Bett, zwischen ihr und ihren Kleidern die in Tränen aufgelöste Mutter; neben ihr ein ertappter Ludwig, der mit den beiden Damen völlig überfordert war. Kein Wunder, dass die beiden die Klassentreffen am liebsten in zwei verschiedenen Städten gefeiert hätten.

Heute revanchiere ich mich und klage Andrea mein Leid: Lautstark lasse ich mich über Helgas unglückliche Hand bei der Wahl der Tischnachbarn aus. Darüber, dass ich neben dem nervigen Streber sitzen muss, der doch eh nur wieder erzählt, was er drüben in den USA für tolle Sachen macht, die uns Hinterwäldlern noch überhaupt nicht bekannt seien. „Mir geht dieses herablassende Getue auf den Nerv. Der tut so, als seien wir bedauernswerte Höhlenmenschen, die Kultur für eine Zahnpasta halten!“

Kurz überlegen wir, ob wir für das Essen nicht die Plätze tauschen können. Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie uns diese Eigenmächtigkeit durchgehen lassen würde. „Oh nein, das geht auf gar keinen Fall!“, tönt sie entsetzt und schaut uns an wie ein getroffener Hund. Nicht umsonst habe ich doch alle so hingesetzt, darauf basiert doch später das ganze Spiel!“

Ich schließe kurz die Augen und überlege, ob ich sie oder mich umbringen soll. „Ich will nicht mit Mister USA-Angeber Ansgar spielen“, tönt es rebellisch durch meinen Kopf. Den schockierten Minen in meinem Umfeld entnehme ich, dass dieser Satz wohl nicht in meinem Kopf geblieben, sondern über meine Lippen hinaus durch den ganzen Raum geschallt ist.

Oh, Mann.

Sowas passiert immer nur mir. Millionen Menschen gehen zu Klassentreffen, haben einen langweiligen bis angenehmen Abend. Die Hälfte davon knutscht im Anschluss mit einem ehemaligen Klassenkameraden und geht fremd. Aber nur ein Mensch unter diesen Millionen von Menschen reißt die Klappe auf und düpiert den Ehrengast mit respektlosen, unfreundlichen Gedanken, die besser nie gesagt werden sollten.

Nun, jetzt sind sie aber raus, und alle stehen da und starren mich an. Wie die Salzsäuren, oder als hätte jemand die Zeit eingefroren.

Was nun?

Leugnen, dass ich das gesagt habe, kann ich nicht. Laut genug war es, das zeigen mir die Gesichter um mich herum.

„Das war nicht so gemeint“ sagen und lahm dabei lächeln? Peinlicher geht’s nicht mehr.

Außerdem habe ich es ja so gemeint, denke ich trotzig. Ich kann solche Menschen nicht ausstehen, die irgendwo hereinplatzen und von anderen Orten, Vereinen und was sonst auch immer schwärmen, die Anwesenden gönnerhaft darüber aufklären, wie zurückgeblieben sie sind und dass es doch woanders wesentlich klügere, bessere, kompetentere Menschen gäbe als dort, wo dieser Mensch es sich gerade eben bequem macht.

„Rot werden, eine Entschuldigung stammeln und flüchtend den Saal verlassen“, flüstert mir mein kleiner Feigling im Ohr zu, und fast wäre ich der Versuchung erlegen. Dann aber besinne ich mich. Wo soll ich denn hin? In mein Zimmer, bis morgen früh, damit ich niemandem mehr über den Weg laufe? Das ist fast so wie Stubenarrest. Und wenn ich zu alt zum Kichern bin, dann bin ich auch ganz sicher aus dem Alter für Stubenarrest hinaus.

Also denke ich mir: „Aufstehen, Krönchen richten, weitermachen“, recke das Kinn und lächele entwaffnend.

Die bewegen sich immer noch nicht. Und keiner sagt etwas. Ob ich mich noch bewegen kann? Ja klar, sonst hätte ich nicht das Kinn recken können. Eigentlich sieht dieser Mensch ja ganz nett aus, wenn er nur nicht so ein überheblicher Angeber wäre. Schweigen die jetzt schon Minuten lang oder kommt mir das nur so lang vor?

Ein Gedanke nach dem anderen jagt durch meinen Kopf, huscht durch die Ecken, wirbelt Staub auf und verschwindet wieder durch das Dachfenster. Soll ich es erklären, warum ich das gesagt habe?

Noch bevor ich diesen Gedanken weit von mir weisen kann, reißt ihn ein einsames schallendes Gelächter von mir fort. Ich starre entgeistert zu Andrea.

Aber nicht Andrea lacht, sondern Ansgar. Herzlich, ehrlich. Der ganze Mann lacht: Er hält sich den Bauch, die Schultern zucken, und mit weit zurückgeworfenem Kopf brüllt er sein lautes, angeberisches Amilachen heraus. Ich starre ihn an, als sei er verrückt geworden. Die anderen auch. Aber dann fallen sie zögernd mit in sein Lachen ein, überrascht und gleichzeitig erleichtert, weil mein Affront nicht den Abend zerstört hat.

Helga jedoch schaut fassungslos von einem zum anderen, den Tränen nahe, und begreift gar nichts.

Mir geht es nicht viel anders., auch wenn ich keinen Grund zum Weinen sehe. Gut, ich habe das nicht sagen wollen, aber er benimmt sich doch wirklich so. So völlig überheblich und unsensibel. Taktlos, ja taktlos, das ist das Wort, das mir fehlte, und während ich es in meinem Kopf ausprobiere, macht mein Bauch einen kleinen Hüpfer und sorgt gnadenlos dafür, dass ich schamrot werde. Denn letztendlich habe ich ihm gerade eben gezeigt, dass Taktlosigkeit nichts ist, was nur die Amis kennen. Das haben wir hier auch.

Ansgar hat sich soeben ein bisschen beruhigt und grinst mich über meinen ratlosen Blick hinweg an.

„Über sich selbst lachen können“, sagt er in einem höllisch breiten texanischen Akzent, den er mal so eben aus dem Hut zaubert. „Kennt Ihr das hier in Deutschland nicht? Ach, ja…“

Heimwärts

Die Leitung gekappt
nichts klappt.
So ist auch ganz klar:
Nichts war
Überhör’n uns im Lärm
ganz gern.
Wir schweigen uns an.
Was dann?

Die Gedanken um uns lassen uns nicht in uns ruh’n,
tragen ab, was bleibt, Schicht um Schicht.
Aus diesem Dunkel zeigt der Weg: Was ist zu tun?
Das Gefühl zieht alles ans Licht.

Ich werde nicht bleiben, nicht halten,
werde mich nicht an uns halten.
Mit Dir: Untergehen, im Nichtverstehen?
Lieber gehen!

Ich will zurück endlich nach Hause – keine Flucht,
lass mich los, trenn mich nun vom Wir.
Mein Herz tanzt kopflos im Rhythmus der Sehnsucht,
es will nur noch heimwärts, nicht zu Dir.

Die Leitung ist tot.
Das Boot
treibt auf hoher See
ich geh
ganz leise vom Kahn.
Nimm an,
dass in Deiner Welt
nichts zählt.

Deine Gefühle und Dein Wollen, auch Dein Sehnen
bringen uns nie mehr zu uns zurück.
Brennt auch Dein Schmerz wie ein Vulkan in Deinen Venen,
etwas fehlt bei Dir zum Gegenstück.

Ich werde nicht bleiben, nicht halten,
werde mich nicht an uns halten.
Mit Dir: Untergehen, im Nichtverstehen?
Lieber gehen!

Ich will zurück endlich nach Hause – keine Flucht,
lass mich los, trenn mich nun vom Wir.
Mein Herz tanzt kopflos im Rhythmus der Sehnsucht,
es will nur noch heimwärts, nicht zu Dir.