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Spinatgrün
Spinatgrün
Es ist spät am Abend und ich überlege gerade, ob ich nicht langsam schlafen gehen sollte. Im Fernsehen kommt nichts Gescheites mehr, Musik hören kann ich nicht, weil meine Boxen den Geist aufgegeben haben, und Bücher kann ich im Augenblick nicht mehr sehen.
Einen Moment lang überlege ich, ob die Garantie für die Lautsprecher schon abgelaufen ist. Es könnte sein, dass ich Glück habe. Morgen im Büro kann ich das überprüfen, dort steht der Ordner mit den Rechnungen.
Ich gebe mir einen Ruck und schlurfe zum Bad, doch bevor ich dort ankomme, klingelt mein Handy. Einen unfreundlichen Fluch auf den Lippen laufe ich zurück ins Wohnzimmer.
Oh nein: Anita.
Wenn Anita um diese Zeit anruft, bin ich versucht, das Gespräch nicht anzunehmen. Anita neigt zu Katastrophen, die nicht gerade den Weltfrieden in Gefahr bringen, aber mich bis tief in die Nacht vom Schlaf abhalten, und morgen habe ich einen anstrengenden Tag vor mir, der einiges von mir abfordern wird.
Ich starre das Handy in meiner Hand an, als könne ich es beschwören. „Los, sei endlich still!“, raune ich ihm in Gedanken zu. Und tatsächlich verstummt es. Ich atme auf und lege es an seinen Platz zurück.
Bevor ich die Wohnzimmertür schließen kann, klingelt es erneut. Es scheint dringender zu sein, als ich dachte. Auf jeden Fall wird sie keine Ruhe geben, bis ich das Gespräch annehme.
„Ja?“ Zu mehr Gesprächigkeit bin ich gerade nicht aufgelegt.
„Evchen?“ Ich kenne Anita seit meiner Kindheit. Sie war die Enkeltochter unserer Nachbarn. Aus einem Grund, der sich mir nie erschloss, hängte sie sich an mich und ließ nicht mehr locker und ich brachte es nicht übers Herz, sie abzuwimmeln.
Anita ist wie ein Hundewelpe, der erst noch lernen muss, seinen Weg im Leben zu finden. Gemessen daran, dass Anita – wie ich – über Vierzig ist, ist es bemerkenswert, dass sie sich diesen Wesenszug bis heute behalten hat.
Andere würden Ihr kurzerhand die Fähigkeit zu reflektieren und Schlüsse zu ziehen absprechen und über sie lachen, mich aber bekommt sie mit ihren unterschiedlichen Stimmlagen dran.
Anitas Stimme ist wie ein Regenbogen: Sie birgt so viele Klangfarben in sich, dass sie für jede Situation eine passende findet: Dunkellila für Schmerz, helles Blau für Unbesonnenheit, gelb für ihre Wutanfälle, die sie manchmal bekommt, meistens dann, wenn es gar nicht angebracht ist.
Das, was ich heute aus dem einen Wort heraushöre, ist Rot und bedeutet Panik.
„Anita“, seufze ich, und frage: „Was ist passiert?“
„Spi…“, sie schluchzt. „Spinat..“, wieder stockt sie. „Evchen…“ Die Stimme verliert sich zwischen uns, Stille kehrt ein.
„Nun erzähl schon“, rede ich ihr zu. „So schlimm kann es doch nicht sein.“
„Sie sind spinatgrün!“, bricht es endlich aus ihr heraus, und sie fängt an zu weinen.
Ich bin verwirrt. Bisher kann ich nicht erkennen, was der Anlass für die Tränen ist, und es scheint so, als würde es noch dauern, bis Anita in der Lage sein würde, mich darüber aufzuklären.
Ich lasse sie weinen, bis ich sicher bin, dass sie sich so weit im Griff hat um mir zu antworten.
Ich wage einen erneuten Vorstoß. „Anita?“
„Ja?“ Noch ein Schluchzer. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie bald einen Schluckauf bekommen.
„Sag mir bitte: Was ist spinatgrün?“
Ein Aufheulen dringt durch den Hörer an mein Ohr und ich überlege, ob bei Anita ein Krankenwagen vorbeifährt. Weit gefehlt; als Anita wieder verständliche Worte von sich gibt, bricht das Geräusch ab.
„Du musst herkommen, sofort!“
Und schon hat sie aufgelegt.
Klick.
Ohne ein weiteres Wort.
In einer Mischung aus Verblüffung und Ärger schaue ich meine Hand an, in der das Handy das Freizeichen von sich gibt. Im ersten Moment bin ich versucht, ins Bad zurückzugehen. Es folgen zwei Gedanken:
1. Was ist, wenn es wirklich etwas so Schlimmes ist, dass sie meine Hilfe braucht?
Diesen Gedanken verwerfe ich sofort. Egal, was bei ihr eine spinatgrüne Farbe angenommen hat, es kann bis morgen warten. Eine falsche Farbe ist nichts, was lebensbedrohlich ist.
2. Sie wird wieder anrufen, wenn es sein muss, auch auf dem Festnetz. So lange, bis ich kapituliere und zu ihr fahre.
Das lässt sich nicht von der Hand weisen. Bevor ich mich weitere Stunden vom Telefon terrorisieren lasse, schnappe ich mir den Autoschlüssel und meine Jacke und mache mich auf den Weg zu Anita und ihrem neuesten Problem.
Nach gut einer Viertelstunde Fahrt, einer weiteren Viertelstunde Parkplatzsuche und einem zehnminütigen Spaziergang vom Wagen bis zu Anitas Wohnung stehe ich vor ihrer Haustüre und klingele. Bevor ich ein zweites Mal auf die Klingel drücken kann, reißt sie die die Tür auf.
Im ersten Moment möchte ich laut loslachen, weil ihr Aufzug befremdlich wirkt. Die Rosa- und Pinktöne ihres Schlafanzugs beißen sich mit dem Braun ihres Morgenmantels, und zu allem Überfluss hat sie sich eine feuerrote Mütze aufgesetzt.
Wären ihre Augen nicht vom Weinen so geschwollen, dass man kaum noch die Augenfarbe erkennen kann, hätte ich darüber gespottet.
„Ist heute das Farbenfest und du hast nicht gewusst, was du anziehen sollst?“
So ungefähr ist meine Art Humor und ich lasse ihn gnadenlos an ihr aus. Aber ich sehe ihr an, dass ihr für Sticheleien die Gelassenheit fehlt. Also bemühe ich vorerst darum, die Stimmung auf halbexplosiv zu entschärfen. Für Witze ist später noch Zeit.
„Magst du mich nicht hereinbitten?“ frage ich, und ohne ein Wort tritt sie zur Seite. Gerade eben bin ich im Hausflur, als sie auch schon in Windeseile die Türe hinter sich zuschlägt und sich davor stellt, als sei auf der anderen Seite eine Meute von Meuchelmördern, die sich ihrer annehmen wollen.
Ich übersehe diese Reaktion um nicht noch mehr Dramatik zuzulassen, gehe ins Wohnzimmer und schaue mich um.
Dann frage ich in neutralem Ton: „Und? Was ist denn jetzt so grün wie Omis Blubb?“
Wenn Blicke töten könnten, könnte ich jetzt beim Pfarrer anrufen und ein Begräbnis für mich ordern.
„Komm schon, Anita. Was auch immer es ist, die Welt geht nicht deswegen unter. Zeig es schon.“
Sie zupft an der Mütze und wirft mir Blicke zu, die an ein Kind erinnern, das sich nicht traut, zum ersten Mal vor der Klasse ein Gedicht aufzusagen. Überhaupt befremdet mich der Umstand, dass sie bisher noch keinen Laut von sich gegeben hat.
„Anita. Ich möchte nicht die ganze Nacht hier in deinem Wohnzimmer stehen und raten. Warum zeigst du mir nicht einfach, was so schrecklich grün wurde?“
Meine Freundin beißt sich auf die Lippe, die Hände senken sich, ihr Blick flattert. Ich merke ihr die Unentschlossenheit an. Sie will es mir zeigen, aber sie traut sich nicht.
„Na?“
Und nun gibt sie sich einen Ruck, greift wieder zu der Mütze und reißt sie sich vom Kopf.
Mir fällt die Kinnlade herunter.
Schnell suche ich alles zusammen, was ich noch an Fassung übrighabe, damit ich sie nicht in ihrem Elend bestärke. „Hm… schön ist das nicht, aber…“
Weiter komme ich nicht. Sie schluchzt erneut auf, wirbelt herum und rennt aus dem Zimmer. Ich höre, wie die Schlafzimmertüre aufgerissen wird.
Peng! Nun ist sie zu, die Tür, und es kehrt Stille ein.
Ich nutze den Moment um meine Gelassenheit wiederzufinden. Von Anita bin ich eine Menge gewöhnt. Sie hat unzählige Katastrophen vom Zaun gebrochen; das Chaos, das sie dabei anrichtet, ist legendär.
Nichts aber gleicht dem, was sie sich nun eingebrockt hat: In dem Moment, als sie die Mütze vom Kopf zog, offenbarte sich mir ihr üblicherweise seidiges, blondes Haar in gesundem Spinatgrün. Dass dies für Anita eine Katastrophe ist, kann ich mir gut vorstellen, und ich wollte in einer ähnlichen Situation ebenfalls nicht alleine sein.
In aller Kürze überlege ich mir ein paar Worte, die sie beruhigen können und lege mir einen Schlachtplan zurecht, dann folge ich Anita und setze mich zu ihr auf die Bettkante.
Wie ein Häufchen Elend liegt sie da, hat sich zusammengerollt wie ein Baby im Mutterleib. Sie hat Die Arme um ihr Kopfkissen geschlungen und presst es an sich, den Kopf darin versteckt. Die grünen Haare fallen mit einem Misston auf das helle Betttuch.
„Ach Liebes, das kriegen wir schon wieder hin“, murmele ich ihr zu und streiche sanft über ihren Rücken. Ich weiß, sie ist nicht meine Lieblingsfreundin, eigentlich habe ich sie nie als Freundin gewollt. Aber in einem solchen Moment könnte ich noch nicht einmal meine ärgste Feindin im Stich lassen.
„Es sieht so scheußlich aus“, jammert sie durch das Kissen, und ihre Schultern zucken, weisen darauf hin, dass sie wieder weint.
„Wie ist das denn überhaupt passiert? Du bist doch Profi im Haare färben?“ Anitas Gesicht taucht über dem Kissen vor.
Sie fasst sich und beginnt stockend zu berichten. „Ich weiß es nicht. Ich habe die gleiche Farbe wie immer gekauft. Naja, eigentlich eine andere Marke, die war billiger und der Farbton sah nur geringfügig anders aus als bei der, die ich sonst nehme.“ Sie schnieft, und ich reiche ihr eine Schachtel Papiertücher.
Bei Frauen stehen überall Papiertücher herum. Wir brauchen diese Dinger wie Männer das Bier beim Fußball: Egal ob es zum Tränen trocknen, Nase putzen, Lippenstift abwischen, Brille reinigen oder eine kleine Lache wegwischen ist, diese Tücher vermögen all das und noch eine Menge mehr.
Anita setzt sich auf und putzt sich die Nase. „Zuhause habe ich dann alles wie immer gemacht: Die Flasche geöffnet, den Inhalt der Farbtube hineingedrückt und das alles dann so schnell wie möglich auf dem Haar verteilt.“ Sie hält kurz inne, überlegt. „Es war ein bisschen seltsam, die Konsistenz war ganz anders als ich es von allen anderen Produkten kenne. So klebrig. Ich habe mich fast ein bisschen geekelt.“
Sie drückt mir die Tücher in die Hand und fährt fort. „Naja, als die Zeit dann um war und ich alles ausspülte, war das schon komisch: Alles war dunkel, das durfte eigentlich nicht sein, weil ich ja blonde Haare haben wollte. Als ich dann in den Spiegel sah, wusste ich schon, dass etwas falsch war, ganz falsch.“ Ihre Stimme zittert erneut, und sie sieht mich mit großen Augen an.
„Ich hab sie dann ganz schnell trocken geföhnt, und je trockener sie wurden, desto grüner wurden sie…“ Der folgende Tränenstrom kommt nicht unerwartet, und ich stöhne innerlich auf.
Dieses Mal braucht Anita wirklich meine Hilfe: Mit grünen Haaren ist der Weg durch den Alltag ein Spießrutenlauf.
„Was soll ich denn jetzt nur machen?“ Ihre Stimme wirkt auf mich, als meine Freundin um zwanzig Zentimeter geschrumpft und würde aus einer großen Entfernung zu mir sprechen. Ich lege meinen Arm um sie und drücke sie kurz an mich.
„Das kriegen wir schon wieder hin“, muntere ich sie auf. „So schlimm ist das gar nicht. Ich rufe morgen Deinen Chef an und sage, dass Du über Nacht krank geworden bist. Dann machen wir ein paar Fotos von den Haaren und rufen meinen Anwalt an. Zu guter Letzt -“
„Nein! Keine Fotos!“ Das Entsetzen in ihrer Stimme ist enorm, fast könnte man es greifen.
„Aber Anita, damit können wir dann Schwenkel verklagen, die Farbe war nicht in Ordnung!“
Irgendetwas stimmt nicht. Das sehe ich ihr an. Sie druckst herum, blickt zu Boden, der Oberkörper ruckt ein winziges Stück vor, dann zurück, mehrmals. Schließlich schaut sie mich an, und diese verdammte Treuherzigkeit in ihren Augen sagt mir alles.
„Es war nicht ganz so“, rückt sie mit der Sprache heraus, „schon auch ein bisschen meine Schuld. Ich wollte mal was anderes ausprobieren, und weil die Agnes vom Büro nebenan immer so tolle schwarze Haare hat, nahm ich eben schwarz statt blond.“
Ich starre sie an. „Nicht dein ernst!“
„Doch…“, ich sehe, dass sie das nicht gerne zugibt. „Das Schwarz sah aber so hart aus, ich fand das überhaupt nicht gut, und dann bin ich nochmal hingegangen und habe…“
„Blond übergefärbt“, ergänze ich, und mir wird klar, wie diese Farbe zustande kam.
„Liebes. Hat man dich noch nie darüber aufgeklärt, dass man so etwas auf keinen Fall macht?“
Das Schuldbewusstsein steht ihr ins Gesicht geschrieben, und ich schüttele nur noch mit dem Kopf.
Mein Sinn für Pragmatismus verbündet sich mit meinem Galgenhumor. „Gut, dann können wir uns die Zeit beim Anwalt sparen und sind schneller fertig.“
„Was hast du denn vor?“ Diese Kleinmädchenstimme, argh… Mit dieser Stimme bekommt sie mich immer wieder herum und dann helfe ich ihr aus dem größten Schlamassel heraus, egal ob sie es verdient hat oder nicht.
„Ich bring dich zu Luigis Haarklinik, der rasiert alles ab.“ Ich habe mich entschlossen, ihr einen kleinen Denkzettel zu verpassen. „Dann kann es wieder in seiner gewohnten Farbe nachwachsen.“
Das Entsetzen tut mir gut. Die Wärme, die sich gerade in meinem Bauch ausbreitet, habe ich mir verdient.
Natürlich ist Luigi niemand, der gnadenlos Haare vom Kopf schert. Ich kenne ihn länger, seit der Zeit, in der mir selbst so ein eklatanter Fehler unterlaufen ist. Damals brachte mich meine Mutter zu ihm, und ich weiß, was auf Anita zukommen wird: Er wird sich den Schaden ansehen, den sie verursacht hat, ihr eine Strafpredigt halten und anschließend das Beste, was man noch aus diesen Haaren machen kann, herausholen.
Aber das weiß sie noch nicht, und ich erfreue mich an ihrer Unsicherheit, als ich sie dränge schlafen zu gehen und mich auf der Wohnzimmercouch für die Nacht einrichte.
„Evchen?“ Die Stimme kommt aus dem Korridor.
„Hm?“ Ich gebe vor schon fast eingeschlafen zu sein.
„Muss wirklich, wirklich alles ab?“
Ich grinse in die Kissen und kämpfe mit Mitgefühl und Schadenfreude. Plötzlich fällt mir ein, dass auch ich morgen meinen Tag noch umwerfen muss, damit ich meiner Freundin aus der Patsche helfen kann.
Ich denke, ich werde sie noch ein bisschen zappeln lassen.
Ruhestörung
Es ist noch früh am Morgen und der Tag verspricht schön zu werden. Ich habe gut geschlafen, endlich mal wieder, und mein Sohn hat die Wohnung vor wenigen Minuten verlassen; er sitzt sicherlich schon im Bus und fährt zur Schule.
Ich genieße meinen Kaffee, das Schweigen, lese in meiner Zeitung.
Ich mag das: Keine Verpflichtungen, auf nichts achten müssen. Ein bisschen die Seele baumeln lassen, bevor ich mich in die Hektik des Alltags stürzen muss. Alleine in der Stille langsam richtig wach werden.
Nur der Geruch von Kaffee und das leise Rauschen des Windes in den Bäumen, von gelegentlichem Läuten der Kirchenglocken unterbrochen, umgeben mich, hüllen mich ein in eine dezente Kulisse der Ruhe und des Friedens.
Es ist fast so, als habe jemand die Welt angehalten, und sie würde sich erst weiterdrehen, wenn die Turmuhr zur neunten Stunde läutet.
Doch heute wird diese Ruhe gestört.
Ich höre im Hausflur eine Tür zuschlagen. Es folgt wildes Kreischen: eine hohe Stimme, die zu kippen droht. Worte verstehe ich nicht, will ich auch nicht.
Ich erkenne sofort, um wen es sich handelt.
Vor ein paar Monaten zogen sie bei uns ein, eine Familie mit zwei Kindern. Freundliche Menschen, stets höflich, hilfsbereit. Einer der beiden Jungen hat mir des Öfteren angeboten, meine Einkäufe in den zweiten Stock zu tragen. Er hält mir die Tür auf, grüßt freundlich, kurz: Ein wohlerzogener Teenager, fast schon eine Seltenheit.
Von dem anderen Jungen hörte ich lange Zeit nur immer wieder diese hohe, überbordende Stimme.
Die Klangfarbe seiner Stimme ordne ich für meine Ohren bei einem grellen Gelb ein: Aufdringlich, in den Ohren stechend, die Gedanken blendend, Abwehr auslösend. Ein hoher, anklagender Ton, der sich bei mir festsetzte als das Heulen eines unzufriedenen, verzogenen Kindes. Anfangs war das sehr störend, da der Junge meist den ganzen Mittag über zu hören war.
Dann erfuhr ich die Hintergründe für dieses alltäglich wiederkehrende Theater: Der Junge ist Autist. Zurzeit verträgt er die Medikamente nicht mehr und soll umgestellt werden. Dass so eine Umstellung eine langwierige Sache sein kann, weiß ich, und so übe ich mich in Geduld.
Mit der Zeit gelang mir das auch immer besser, und ich höre kaum noch hin, wenn von den Nachbarn noch Lärm zu mir nach oben dringt.
Heute aber ist irgendetwas anders.
Noch nie habe ich den Jungen im Hausflur kreischen hören, noch nie rannte er ohne seine Mutter aus dem Haus. Jetzt aber höre ich ihn schon vor der Tür, und er randaliert. Er wirft die Mülltonnen um, brüllt laut und aggressiv – sein Tonfall klingt verzweifelt.
Nun folgt die Mutter. Sie ruft ihm hinterher, fragend. Die Stimme des Jungen ist nun von der Straße zu hören, man versteht immer noch keine Worte, es bleibt unverständliches Geschrei.
Ich gehe zum Fenster und schaue nach, ob ich helfen kann. Zeigen mag ich mich nicht, ich kann mir denken, dass die Situation an sich bereits schlimm genug für die Mutter ist.
Oft genug hat sie sich schon bei den Nachbarn entschuldigt, händeringend um Verständnis gebeten. Dabei müsste sie das nicht tun, denn Kinderlärm ist in einem Mietshaus unumgänglich und kein Grund zur Beschwerde.
Und dennoch hat eine Mitbewohnerin es tatsächlich gebracht und bei unserem Hausverwalter eine Abmahnung für die Familie gefordert; der Familie selbst hat sie mit einer Anzeige wegen Lärmbelästigung gedroht.
Gut, diese bestimmte Mieterin ist eine egoistische, herzlose Megäre, die sich bei jedem unbeliebt macht, und der Rest der Mietergemeinschaft hat sich auf die Seite der Familie gestellt.
Aber ich kann mir denken, dass eine solche Androhung nicht gerade geringfügig belastend wirkt. Also bleibe ich lieber im Hintergrund und schaue nur nach, ob Hilfe benötigt wird.
Wird es nicht, nicht akut. Sie läuft ihrem Sohn hinterher, seine Mütze in der Hand. Er steht auf dem Bürgersteig, die Hände zu Fäusten geballt, so als wolle er gleich seine Mutter boxen, und brüllt seine ganze Wut und seine Verzweiflung heraus.
Schlimm klingt das, und es tut beinahe weh, ihm zuzuhören. Nur beinahe?
Sie spricht auf ihn ein, nimmt seine Hand – und auf einmal lässt er sich widerstandslos mitziehen. Einen Moment lang schaue ich den beiden hinterher, sie erreichen das Ende der Straße ohne weiteren Zwischenfall.
Nun herrscht wieder Ruhe.
Nachdenklich streife ich mir eine Jacke über und ziehe meine Schuhe an. Zumindest kann ich die Mülltonnen aufrichten, damit unsere Ego-Mieterin keinen Anlass findet, erneut beim Hausverwalter zu insistieren.
Wie mag sich ein solches Kind fühlen? In seiner Welt eingeschlossen, abgekappt von den Gefühlswelten anderer zu leben. Nicht in der Lage zu sein, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, nicht zu wissen, was andere fühlen. Wie mag das sein, wenn es einem nicht möglich ist, die eigenen Gefühle zu äußern? Was für eine Frustration muss das mit sich bringen, welche Angst?
Ich fühle in diesem Moment eine Art Kummer in mir. Eine Traurigkeit, die mich von innen heraus aushöhlt. Ich möchte die Luft anhalten, damit diese Leere sich nicht ausweiten kann.
Schließlich bleibt mir nichts anderes übrig: Ich muss atmen, also hole ich tief Luft und schlucke hart.
Ja, mir tut es weh, mir das vorzustellen.
Während ich den Müll einsammle, der sich auf dem Weg verbreitet hat, denke ich weiter darüber nach, und mich überkommt eine Dankbarkeit von unbeschreiblichem Ausmaß. Meine Kinder sind gesund. Natürlich haben sie ihre Probleme, und sie mussten sehr schwierige Zeiten hinter sich bringen. Dankenswerterweise sind diese schlimmen Zeiten vorbei.
Vorerst.
Es gibt keine Garantie für Glück und Zufriedenheit, für Gesundheit.
Und während meine Hände gerade eine mit klebrigen, undefinierbaren Resten eingeschmierte Spinatpackung aufnehmen, freue ich mich. Über meine Kinder. Mein Glück.
Und darüber, dass ich Handschuhe angezogen habe.