Archiv der Kategorie: Ungereimtes

Kurzgeschichten

Von Tapeten und Bällen

Still sein. Still wie ein Mäuschen. Oder besser doch nicht wie ein Mäuschen, denn Mäuse sind in Wohnungen nicht erwünscht. Lieber wie… die Tapete an der Wand, ja, genau! Die Tapete guckt man an und nimmt sie gar nicht mehr wahr, so speckig und alt wie sie schon ist. Die Wand kann zwar auch gehauen werden, oder getreten. Manche schreien auch die Wand an, aber die Tapete ist damit nicht gemeint, die nimmt niemand wahr.

Nele beschließt, dass sie ab sofort eine Tapete ist. Still und unbewegt hockt sie auf ihrem Bett und versucht, mit dem vergilbten Weiß hinter sich zu verschmelzen. Vielleicht würde sie dann nicht hören, wie Kai vor Schmerz brüllt. Vielleicht würde sie dann nicht das Keifen ihrer Mutter hören: „Harald, hör endlich auf damit!“ Vielleicht würde sie dann nicht das Aufjaulen hören, wenn Harald, der Freund ihrer Mutter, dieser „eine langt“, wie er das ausdrückt. Und vielleicht würde er sie dann übersehen, wenn er, weil er ja schon mal dabei ist, ein Exempel zu statuieren, in Neles Zimmer gestapft kommt, um auch ihr eine Tracht Prügel zu verabreichen.

Alles nur, weil Kai kein Toilettenpapier mehr bekommen hat. Und weil sie die letzte Rolle eingelegt und vergessen hatte, Bescheid zu geben. Und weil Harald eben… Harald ist.

Es war schon früher schlimm gewesen, erinnert sie sich. Seit Mama ihn kennenlernte und er bei ihnen einzog. Seither kann Nele keine Freundinnen mit nach Hause nehmen, welche besuchen oder mit ihnen telefonieren. Mittlerweile hat sie gar keine Freunde mehr.

Viel zu klein, zu dünn, ständig müde, weil sie wegen der ganzen Streitereien nachts nicht schlafen kann. Selten ist genug Geld für Essen da, für neue Kleidung eh nicht. Sie muss die abgetragenen Sachen von Kai tragen. Jungenklamotten. Und Kai „darf“ bei der Kleiderkammer vorsprechen, da bezahlt man nur ein, zwei Euro für einen Pulli oder eine Hose, wenn man nachweisen kann, dass man bedürftig ist. Die Sachen von Kai sind ihr zwar immer viel zu groß, aber das ist für Nele eher ein Grund zur Erleichterung, denn so sieht niemand die blauen Flecken, die sie manchmal davonträgt.

Schule, das bedeutet für Nele: Pause von Harald, Pause vor Mama, die Sicherheit, nur ausgelacht, aber nicht gehauen zu werden – und eine warme Mahlzeit. „Schulspeisung“ nennt man das. Für Nele und Kai gibt es das kostenlos, weil ihre Mutter Harzerin ist.  

In der Schule ist Nele eine Außenseiterin, eine von den Losern, aber das ist immer noch besser als das hier.

Seit der Ausgangssperre hocken nun vier Personen in einer Vierzimmerwohnung. Das Wohnzimmer belegt „er“ immer mit Beschlag. Hockt da herum, sieht fern und kommandiert von „seinem“ Sessel aus alle herum.  Verlangt „Fleisch auf dem Teller“, auch wenn dadurch alle anderen nur Nudeln und Sauce bekommen. Salat und Gemüse gibt es nur, wenn bei der Tafel nicht zu viele Leute anstehen.

Aber die Tafeln haben jetzt zu, genauso wie die Schule und Klopapier gibt es eben auch nicht mehr.

Dafür aber Prügel, und das nicht zu knapp.

Sie hört die Schritte, die durch den Flur auf ihr Zimmer zukommen und will sich zusammenrollen. Aber dann ist sie keine Tapete mehr, sondern ein Ball, den man treten darf. Der dann im hohen Bogen davonfliegt. In ihrem Fall nur nicht sehr weit und auch nicht ins Tor, nein. Wenn sie, der Nele-Ball, getreten wird, fliegt sie gegen den Tisch. Oder den Schrank. Oder gegen die Wand, wo sie dann Flecken hinterlässt. So wie „er“ auf ihr Flecken hinterlässt.

Also, nein. Nicht zusammenrollen. Verschmelzen, mit der Tapete. Und hoffen, dass sie davonfliegt, bevor er den Ball treten kann.

„Für manche Kinder ist Schule der einzige sichere Ort“

Susanna Krüger, Geschäftsführerin der Organisation „Save the Children“

Ich doch nicht!

Ich doch nicht.

Neh. Kann ja gar nicht sein.

Ich halte mich doch an die Regeln. Nicht rausgehen. Keine Umarmungen. Abstand halten. Hust- und Niesetikette und all der andere Mist. Mir kann also gar nichts passieren.

Und doch…

Seit heute morgen habe ich einen leichten Schnupfen. Nicht wirklich schlimm, nur eine Nasenhälfte, die andere ist noch völlig frei, wirklich! Und das Kratzen im Hals ist bestimmt nur Raucherhusten. Ich habe mich doch an alle Regeln gehalten, wie also könnte ich mich infiziert haben?

Okay, ich erinnere mich, dass ich in der letzten Woche in diesem Bus gesessen habe. Da musste ich Halteknöpfe drücken. Hatte ich mir danach die Hände gewaschen?

Und am Tag drauf, da war ich unterwegs, habe eingekauft. Da konnte ich nicht immer den Sicherheitsabstand einhalten. An der Kasse ist es viel zu eng dazu.

Ich sitze hier und wäge ab. Leichter Schnupfen. Halskratzen. Eine leichte Abgeschlagenheit. Alles Dinge, die mich nie daran gehindert hätten, meiner Arbeit nachzugehen. Und heute habe ich einen Termin. Einen, der mir sehr wichtig ist.

Soll ich abwarten, es darauf ankommen lassen? Vielleicht ist es ja gar nicht dieser unsägliche Virus.

Aber dann denke ich daran, was die Praxis, zu der ich gehe, anderen Menschen ermöglicht, auch für andere Menschen eine Art Ankerpunkt ist. Einer der letzten Orte, zu denen man hingehen kann, etwas Gutes für sich tun kann.

Und dann denke ich an meinen Coach, den ich morgen treffen sollte. Marja ist eine der Personen, die zu jenen gehören, die man als “gefährdet” betrachten sollte. Asthmakrank.

Wenn ich jetzt also nichts mache, einfach weitermache, als wäre dieser Schnupfen nur ein harmloser Schnupfen, könnte ich dafür verantwortlich sein, dass diese Praxis schließen muss und dass ein Mensch, den ich sehr schätze, an Covid erkrankt. Ich könnte im Bus, den ich heute nutzen müsste, noch weitere Menschen anstecken.

Seufzend greife ich zum Telefon, sage den Termin für heute ab. Dann rufe ich meinen Coach an. Und während wir reden, laufen mir auf einmal Tränen übers Gesicht, denn mit diesen Absagen verschwinden auch für mich zwei wichtige Ankerpunkte.

Ich fühle mich hilflos. Ja, ich weiß, was ich zu tun habe. Abwarten, die Symptome beobachten, mich beim Arzt wegen eines Tests melden. Doch wie soll ich dahin kommen? Und was, wenn ich schlimm erkranke? Was passiert dann mit meinem Sohn?

Was am meisten aber schmerzt, ist die Tatsache, dass ich mich mit diesen Anrufen der letzten Kontakte beraubt habe, die mir so wichtig sind. Stützen meines Alltags. Ankerpunkte, die ich so dringend brauche, um selbst einer sein zu können, für meinen Sohn.

Hier in unserer kleinen Zweisiedelei wird es erst einmal so weitergehen wie bisher, obwohl sich die Anzeichen einer sich auflösenden Tagesstruktur mehren. Die kleineren und größeren Probleme werden wir in den Griff bekommen, das ist kein Thema.

Doch in dem Moment, in dem ich nicht mehr sagen konnte: “Ich doch nicht”, hat sich etwas geändert. Es ist etwas verloren gegangen. Meine Unantastbarkeit. Diese Unbesiegbarkeit der Gesunden. Die Sicherheit, dass mir nie wirklich etwas Schlimmes passieren wird.

Das schafft Raum für Demut.

Jetzt halte ich wirklich inne.

Wenigstens für einen kurzen Moment.

Dann werde ich wohl ins Taschentuch schniefen, meine Hände waschen gehen und dafür sorgen, dass in unserem kleinen Reich die Fahnen hochgehalten werden.

Drachenweihnacht

Es begab sich zu einer Zeit, in der Menschen und Drachen noch freundschaftlichen Umgang miteinander pflegten, dass auch das Julfest von beiden Rassen gemeinsam begangen wurde.

 

Dazu gab es einen ganz besonderen Brauch: Jedem Menschenkind, das am Beginn des neuen Wachstums zehn Winter alt war, wurde eine Julbaumkugel in Obhut gegeben. Sie mussten diese Kugel immer bei sich tragen und auf sie achten, als sei es ihr Augapfel.

 

Bunt waren diese Kugeln, und von unterschiedlicher Gestalt und Farbe. Einige waren rund wie ein kleiner Schneeball, andere hingegen eher wie Zapfen geformt, und wieder andere trugen eine ovale Form. Es gab sie in rot, gelb, grün, blau, silber, gold, orange – ach, es wäre müßig, alle Farben aufzuzählen, denn sie waren so vielfältig wie der Sand am Meeresufer, dort, wo die kleineren Kinder spielten, schwimmen lernten und sich bemühten, die besten ihres Jahrgangs zu werden. Denn: Eine Kugel war immer eine ganz besondere. Nun, es war eigentlich keine Kugel in dem Sinne. Sie war ein Zapfen, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Spitz zulaufend zu beiden Seiten war sie wesentlich breiter als die üblichen Formen dieser Art und dann war sie noch mit goldenen  Stacheln besetzt. So, als sei sie ein Stern, kam es Siopi vor. Jedes Kind wusste, dass dieser Schmuck am Ende die Spitze des Julbaums schmücken würde, und für diese Kugel zu sorgen war die größte Ehre im Volk der Menschen.

 

Siopi stand mit ihren Freundinnen in der Reihe und wartete darauf, dass ihr ihre Kugel überantwortet wurde. Aufgeregt schnatterten die Mädchen durcheinander, stießen sich in die Rippen und überlegten lauthals, welche Kugel sie wohl erhalten würden. Sie hechelten ihre Lieblingsfarben durch und kombinierten sie mit den verschiedensten Formen und starrten immer wieder zu jenen Kindern herüber, die ihren Julbaumschmuck bereits erhalten hatten und, sich der Erhabenheit dieses Momentes durchaus bewusst, mit gemessener Würde an dem Rest der Kinderschar vorbei wanderten.

 

„Ich hätte so gerne eine rote Kugel“, seufzte Eleni und stupste Siopi an. „Und du?“ „Hm… nachtblaue Kugeln haben sie wohl nicht“, erwiderte diese und seufzte theatralisch. Seit kurzem mochte sie am liebsten die Farbe des nächtlichen Himmels; vor allem in einer wolkenlosen Nacht, in der der tiefblaue Himmelsvorhang mit goldenen Sternen gesprenkelt war. „Ach, was solls. Eine Kugel ist so gut wie jede andere“, befand sie dann. „Schließlich müssen wir so oder so auf sie achtgeben, egal ob sie uns gefällt oder nicht.“

 

Eleni schob sich näher an ihre Freundin heran. „Was passiert eigentlich, wenn wir die Kugeln verlieren oder gar zerbrechen? Weißt du es?“

Eleni fragte nicht umsonst Siopi, schließlich war sie die Tochter der Schamanin und überwachte den Brauch mit Argusaugen. Doch sie hatte kein Glück. Auch Siopi musste, wie alle anderen Kinder ausharren und das Jahr mit ihrem Schatz allein zurechtkommen, ohne Anleitung.

 

Alle älteren Kinder und natürlich auch die Erwachsenen wussten, was in der Julnacht geschehen würde. Doch sie hielten dicht, denn gemäß der Traditionen musste ein jedes Kind diese Aufgabe allein meistern.

 

Die Reihe rückte weiter vor und die beiden Freundinnen hielten sich an der Hand, als sie zu ihren Vorgängern aufschlossen. Aufgeregt waren sie, ja. Und sie hofften beide, dass sie die besondere Kugel erhalten würden. Jedes Kind hoffte darauf.

 

Tyrion kam gerade zurück und hielt einen strahlend weißen Zapfen in seiner Hand. Ehrfurcht erfüllte sein Gesicht und er achtete auf jeden seiner Schritte. Das war ungewöhnlich für Tyrion, war er doch ein richtiger Wildfang, der am liebsten auf Bäume kletterte, sich mit den anderen Jungen raufte und die Mädchen an ihren Zöpfen zog. Siopi mochte ihn; er war immer so gut gelaunt und lachte fast den ganzen Tag. Und wenn er nicht mit seinen Freunden herumzog und sie ihre Freundinnen nicht bei sich hatte, war er richtig nett zu ihr. Stolz trug der Junge die Kostbarkeit zu seinen Eltern, die schon mit einer weich gepolsterten  Tragetasche auf ihn warteten.

 

So langsam wurde Siopi nervös. Was erwartete sie, wenn sie an der Reihe war? Durfte sie sich eine Kugel aussuchen oder wurde sie ihr zugeteilt? Wurde die Zuteilung ausgelost oder gab es bestimmte Kriterien, denen ein Kind entsprechen musste?

 

Die Minuten zogen sich und scheinbar nahm die Reihe kein Ende. Auch Eleni war inzwischen verstummt und widmete sich ihren eigenen Gedanken. So ging es jedem Kind, das in dieser Reihe stand: Je näher man dem Augenblick kam, um so stiller wurden sie. Alle Aufregung schien sich in einer Art Lähmung zu kanalisieren, die am Ende dafür sorgte, dass einer der Zeremonienmeister die Kinder mit sanfter Hand in das Zelt schob.

 

So erging es auch Siopi. Auch sie hatte gezögert, war vor lauter Nervosität nicht mehr in der Lage gewesen, sich auch nur noch einen Meter aus eigenen Stücken zu bewegen. Überwältigt stolperte sie ins Dunkel.

 

Ihre Augen mussten sich erst einen Moment an die Finsternis gewöhnen, die ihr entgegenschlug. Erst nach und nach erkannte sie ihre Mutter, die als Schamanin ihren Beobachtungsposten im hinteren Teil des Zeltes bezogen hatte. Dann nahm sie auch noch andere Erwachsene wahr und stellte fest, dass sie sie alle kannte. Agravyn, der Dorfälteste, saß direkt in der Mitte des Zeltes, und um ihn herum lagen sie, die begehrten Zeugnisse des Erwachsenwerdens. Das hatte ihre Mutter ihr verraten: Wenn sie gut auf ihre Kugel achtete und alles richtig machte, wurde sie danach in den Kreis der Jungfrauen aufgenommen und hatte damit wesentlich mehr Rechte als bisher. Natürlich erweiterte sich auch ihre Liste der Pflichten, aber das gehörte eben zum Erwachsenendasein dazu.

 

Agravyn räusperte sich und winkte sie zu sich. „Nun, kleine Siopi. Wie du bereits weißt, ist heute ist der Tag, an dem du dein Schmuckstück für den diesjährigen Julbaum erhältst.“

 

Aufgeregt trippelte Siopi zu ihm hinüber. Es gab so vieles, was sie noch nicht wusste, und heute wurde sie in eines der aufregendsten Geheimnisse ihres Volkes eingewiesen!

 

„Was du allerdings nicht weißt, ist, dass bereits bei deinem zweiten Geburtstag festgelegt wurde, um welche Kugel du dich zu kümmern haben wirst. Jedes Kind wird dann in dieses Zelt gebracht und auf den Boden gesetzt. Dann beobachten wir nur noch, welches Kind zu welchem Kleinod krabbelt. Das erste, an dem Ihr Halt macht, wird für euch bereit gelegt und wartet dann auf den Tag des Wiedersehens, der nun, für dich, am heutigen Tag stattfindet.“

 

Mit einer knappen Geste forderte der Alte Siopi auf, sich zu ihm zu setzen. „Ja, so spricht es sich leichter. Von Angesicht zu Angesicht.“  Schließlich griff er vor sich nach einer bestimmten Kugel und hielt sie sacht in seinen Händen, während er sie schier unendliche Zeiten betrachtete.

 

Siopi wagte kaum zu atmen, als sie das Schmuckstück in Agravyns Händen ansah. Es war nachtblau,  eine sehr ungewöhnliche Farbe für eine Julbaumkugel. Und auch die Form entsprach absolut nicht dem, was Siopi bisher kannte: Statt eines Zapfens oder eines Balls lag vor ihr eine perfekte Mischung aus beidem; jedoch hatte diese nicht, wie sonst üblich, die Stacheln aufstehen, sondern war über und über mit golden und silber funkelnden Sternen bedeckt!

 

Das war die Kugel, die sie sich in ihren Träumen gewünscht hatte!

 

Agravyn merkte auf und lächelte. „Ja natürlich hast du von der Kugel geträumt, liebes Kind. Du hast an deinem zweiten Geburtstag fast eine Stunde mit ihr gespielt und geweint wie eine kleine Mama, die ihr Kind verliert, als du sie wieder verlassen musstest.”

 

Siopi kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Fragend blickte sie den alten Mann an. “Darf ich?”

 

Er nickte und lachte. “Natürlich darfst du. Du musst sogar, denn ab diesem Moment ist die Kugel in deiner Obhut. Gib acht auf sie, als sei sie deine Seele.”

 

Vorsichtig trat das junge Mädchen an ihren Zapfen heran und hob sie auf. Sie war warm, das Material schien die Frische des noch jungen Frühlings zu absorbieren. Es kam ihr so vor, als würde sie pulsieren.  In dem Moment, als sie den das Kleinod in den Händen hielt, erinnerte sie sich an diesen wundersamen Nachmittag, als sie mit ihm gespielt hatte. Die Verbundenheit stieg wieder auf, und zärtlich drückte sie ihren Schatz an sich.

 

Doch dann kam ihr ein furchtbarer Gedanke. “Kurz vor jedem Julfest werden die Kugeln den Drachen überantwortet, damit sie mit ihnen den Julbaum  schmücken. Was geschieht denn danach mit ihnen? Bekommen wir die Schmuckstücke dann zurück?”

 

Agravyn nickte anerkennend zu Siopies Mutter. “Du hast sie tatsächlich nicht eingeweiht.” Dann wandte er sich noch einmal dem jungen Mädchen zu. “Das wird sich alles finden. Am Julfest. Bis dahin kümmere dich mit besonderer Sorgfalt um deine Kugel.”

 

Dann nahm er das Kind bei seinen Schultern und schob sie aus dem Zelt.

 

In den kommenden Monaten hielt sich Siopi akribisch an die Anweisungen der Älteren, die ihr zeigten, worauf sie achten musste, damit ihr Julbaumschmuck für die besondere Nacht seine Schönheit erhielt. Sie polierte die Kugel, sprach mit ihr und trug sie stets in einer gepolsterten Tasche bei sich. Tatsächlich glänzte ihr Schmuck nach einer Weile derart, dass alle voll des Lobes waren, wenn sie sie erblickten. Denn das gehörte auch dazu: An jedem Neumond kamen die Kinder zusammen und zeigten die Julkugeln den Dorfbewohnern. Die, die sich gut um die Kugeln kümmerten, bekamen ein paar Privilegien. Zum Beispiel durften sie am Abendritual teilnehmen. Schweigend zwar, aber immerhin! Es war ein weiterer Schritt auf dem Weg ins erwachsen Werden.

Diejenigen, die sich nicht gut kümmerten, wurden ermahnt und mussten sich lange Vorträge über Pflicht und Verantwortung anhören.

 

Siopi saß gerne dabei, wenn das Abendritual abgehalten wurde. Jeder durfte einen schlechten und einen guten Moment des Tages nennen. So wurden viele Unstimmigkeiten gleich angesprochen und jeder freute sich über die guten Momente. Wenn sie so weitermachte, durfte sie sich bald selbst einbringen und ihre guten und schlechten Momente anbringen. Was für eine Verantwortung lag darin! Schon jetzt achtete sie immer wieder darauf, was ihr alles Gutes widerfuhr, nur damit sie den besten Moment des Tages nicht verpasste. Die schlimmen Dinge waren ja eh immer präsent, aber die Guten? Die waren so wertvoll und dennoch vergaß man sie so schnell.

 

Eine Sache jedoch bedrückte sie. Immer wieder dachte sie darüber nach, was passieren würde, wenn sie ihren Julzapfen an den Drachen übergeben würde, der sie auserwählte. Würde sie ihn dann nie wieder bei sich tragen können? Jedes Mal, wenn ihr diese Möglichkeit in den Sinn kam, überfiel sie eine unendliche Verlorenheit. Das konnte sie nicht zulassen, nein! Irgendetwas musste ihr einfallen, um das zu verhindern. Nur was?

 

Der Sommer ging vorüber und man merkte bei allen Kindern, die eine Julkugel zu betreuen hatten, eine merkliche Änderung. Sie wurden ruhiger, vergaßen weniger Pflichten, die Wildheit, die sie ihre ersten Jahre begleitet hatten, wurde sanfter. Ja, sie waren noch Kinder, spielten viel und lachten noch mehr. Aber dieses eine Jahr brachte ihnen einen enormen Zuwachs an Reife.

 

Nur Siopi lachte immer weniger. Die Momente, in denen sie abwesend vor sich hin brütete, wurden so häufig, dass ihre Mutter darauf aufmerksam wurde.

 

“Was ist los mit dir? Du wirkst so traurig in letzter Zeit, Siopi.”

 

Siopi fühlte sich unangenehm berührt davon, dass ihr Gemütszustand ihrer Mutter nicht verborgen geblieben war. Dabei hatte sie sich so sehr bemüht! Niemand durfte doch wissen, dass sie mit den Bräuchen ihres Volkes nicht zufrieden war. Es war so egoistisch von ihr, dass sie ihren Zapfen behalten wollte. Und doch – sie liebte dieses Ding nicht nur so, wie man eben einen Gegenstand lieben konnte. Es ging viel tiefer. Sie mochte kaum noch von ihm getrennt sein. Selbst zum Schlafen nahm sie die Tasche mit ins Bett. Was, wenn ihre Gefühle unangemessen waren? Was, wenn sie nicht normal war, so wie alle anderen auch? Darüber konnte sie keinesfalls mit ihrer Mutter reden. Schließlich war diese die Schamanin des Dorfes!

 

“Ach, ich habe nur…”

Verzweifelt suchte Siopi nach einer Ausrede. “Ich habe in den letzten Tagen immer mal wieder ein bisschen Kopfweh gehabt. Das macht mir halt Sorgen.”

“Und davon sagst du mir nichts? Schließlich kenne ich alle Heilmethoden, und gerade du solltest das wissen! Komm mal her, ich untersuche dich.”

Erleichtert und gleichzeitig ein bisschen beschämt darüber, dass sie ihre Mutter erfolgreich angeschwindelt hatte, ließ sich Siopi von ihrer Mutter untersuchen.

 

“Hm.. es ist nichts zu finden. Gehen wir mal davon aus, dass es am Wetter liegt. Oder es kann sein, dass du langsam zur Frau wirst. Da hat man manchmal ein paar Beschwerden.”

 

Siopie verdrehte die Augen. “Jaha. Darüber haben wir im Unterricht schon gesprochen.” Das Thema war ihr immer noch unangenehm, aber besser sie sprachen darüber, als dass ihre Mutter nachhakte. “Das ist es ja, was mir ein bisschen Sorgen macht. Das, was alles damit einhergeht, eine Frau zu werden.”

 

Ihre Mutter lachte. “Darüber können wir gerne reden, aber nicht jetzt. Ich muss gleich in den großen Rat. Das Julfest will vorbereitet werden.”

 

Da war es wieder. Das Julfest. Der Tag, an dem sie von ihrem täglicher Begleiter Abschied nehmen sollte.

 

‘Ich laufe einfach weg’, dachte sie. ‘Dann bin ich zwar ausgestoßen, aber ich würde mich noch schlimmer ohne meine Kugel fühlen.’
Dann fiel ihr auf, wie albern das klang. Die ganze Dorfgemeinschaft, die menschliche Gesellschaft, all das hinter sich lassen, nur wegen eines… Dekorationsstücks? Alle enttäuschen, die sich schon auf den Moment freuten, an dem ihr Zapfen die Julbaumspitze krönen würde?

 

‘Wie kannst du nur so egoistisch sein! Hat dich dieses Jahr nicht Verantwortung gelehrt?’ Siopi war böse mit sich. Sie rief sich zur Ordnung und erinnerte sich selbst daran, dass eine Gemeinschaft auch Opfer forderte. Nun, sie würde dieses Opfer bringen müssen.

 

Und so schritt sie am Abend vor dem Julfest gemessenen Schrittes hinter all den anderen Kindern her, die den Julschmuck zu den Drachen trugen.

 

Eine ehrfürchtige Stille beherrschte den Abhang. Alle hatten sich dort versammelt: Die Alten, die Jungen, die Kinder – und auch die Drachen. Beinahe regungslos betrachteten sie die kleine Prozession, die über den Berg zu ihnen herüber kam. So viele Kinder waren da, die allesamt ihre Julkugeln vor sich her trugen; sichtbar für alle. Mal strahlten sie mehr, mal weniger. An den Seiten der langen Reihe liefen die Zeremonienhelfer; sie trugen Fackeln, die den kleinen Zug beleuchteten.

 

Siopi war nervös. In ihr herrschte ein Aufruhr der Gefühle. Den ganzen Tag hatte sie allein mit ihrem Zapfen verbracht, hatte ihn poliert, gestreichelt, mit ihm geredet – kurz: Sie hatte sich von ihm verabschiedet. Geweint hatte sie, oh ja. Aber nur heimlich. Auch jetzt war sie den Tränen nahe, aber dennoch fühlte sie auch die Aufregung, die mit diesem Zeremoniell einherging. Und die Neugierde, welcher der Drachen ihre Kugel wählen würde. Und was dann passieren würde. Und überhaupt: Die ganze Sache war eine Jahrhunderte alte Tradition, und endlich war sie ein Teil davon!

 

Endlich blieben sie stehen. Alle Kinder drehten sich gleichzeitig zu den Drachen um. So hatten sie es in den vergangenen Tagen immer wieder geübt. Nun war es an den geflügelten Wesen vor ihnen, ihre Auswahl zu treffen.

 

Sie flogen um die Reihe der Kinder herum, stießen immer wieder herunter um ein bestimmtes Schmuckstück näher zu betrachten. Und dann setzte sich der Erste unter den Drachen vor Siopi ins Gras.

 

“Du hast bewiesen, dass du der Freundschaft mit den Drachen würdig bist, Siopi”, dröhnte er und sah auf sie hinunter. “Da deine Kugel von allen Kugeln am hellsten strahlt, bist du die Eine, die sich den Drachen aussuchen darf, der ihre Kugel an den Baum hängt. Alle anderen Kinder werden warten müssen, welcher Drache sie erwählt.”

 

Siopi starrte den Drachen fassungslos an. Sie.. durfte wählen? “Aber… aber… Was ist denn mit der Ehre, von einem Drachen erwählt zu werden? Wird sie mir dadurch verweigert, dass ich besonders gut auf meine Kugel achtete?”

 

Ein ohrenbetäubendes Gelächter schallte über den Abhang: Alle Drachen lachten laut, und auch die Älteren ihres Volkes ließen sich davon anstecken. Siopie wurde über und über rot. Scheinbar hatte sie etwas sehr Dummes gesagt, wenngleich sie nicht wusste was. Fragend sah sie zu dem Drachen auf.

 

Als es wieder still im Tal war, bekam sie die Antwort: “Nun denn, fragen wir doch mal herum. Liebe Drachenbrüder und -Schwestern. Wer möchte Siopis Weihnachtsschmuck an den Baum hängen?”

 

Wie ein Drache machten alle einen Schritt vorwärts und erhoben einen Flügel. Es war ein umwerfendes Bild, das sich allen bot. Alle wollten sie!

 

“Ich verstehe”, entfuhr es Siopi.

 

“Gut. Denn dadurch wird dir die Ehre zuteil, denjenigen zu wählen, der deiner Meinung nach am besten dazu geeignet ist, dein Schmuckstück zu seinem Platz zu tragen.”

 

Zögernd sah Siopi sich um. Wie sie nun feststellte, waren alle zur Auswahl stehenden Drachen jung, etwa in ihrem Alter. Machten sie genau so eine Prüfungszeit durch? “Darf ich noch eine Frage stellen?”

 

Die Heiterkeit war der Antwort des Drachen anzumerken, aber er bewies Geduld und ließ sie ihre Frage stellen.

 

“Wir mussten alle diese Kugel hüten, damit sie heute angebracht werden darf. Was berechtigt diese Drachen zu dieser Ehre, den Baum zu schmücken?”

 

Ein leises Raunen ging durch die Dorfgemeinschaft. Noch nie hatte jemand gewagt, dies den Drachen abzusprechen. Schließlich waren sie groß und konnten fliegen und kamen daher an alle Stellen des Baumes heran, während die Menschen lediglich die unteren Zweige erreichten!

 

“Deine Frage hast Du gut gewählt”, antwortete jedoch der Drache. “Und du sollst eine Antwort erhalten. Jeder dieser Drachen war seit dem Tag, an dem ihr euren Schmuck wähltet, für einen von euch der Beschützer und Begleiter. Sie mussten darauf achten, dass euch nichts passiert, damit ihr in diesem Jahr der Tradition folgend eure Kugeln zum Julbaum tragen konntet.”

 

“Wer war denn für mich verantwortlich?”

 

Ein kleineres Exemplar trat hervor. Nachtblau, so wie ihre Kugel, und gänzlich ohne Stacheln sah es aus, als würde es kein Wässerchen trüben können. Wie es geschafft haben sollte, sie zu beschützen, war Siopi unklar, aber sie erinnerte sich an ein paar heikle Situationen in den früheren Jahren, die für sie hätten ungünstig ausgehen können.

 

Also trat sie zu dem Drachen und sagte feierlich: “Da du mir geholfen hast, meinen Julschmuck zu beschützen, wirst du auch die Ehre haben, ihn am Baum anzubringen.”

 

Stolz schüttelte der Drache seinen Kopf. “Als Dank für deine Wahl möchte ich dich bitten: Steige auf und fliege mit mir zur Spitze, denn dort ist der Platz für deinen Zapfen. Du sollst ihn dort anbringen.”

 

Das überraschte Siopi nun völlig. Sprachlos stieg sie auf den Rücken des Drachenkindes und ließ sich in die Lüfte tragen.

 

“Wie heißt du eigentlich? Ich meine, mein Name ist dir ja bekannt, aber wie soll ich dich nennen? ”

 

Ein sanftes Grollen antwortete ihr. “Ich bin Rejo, meines Zeichens ein Drache der Chamäleoniden. Wir gleichen unsere Farbe der Himmelsfarbe an, und daher wurdest du in meine Obhut gegeben. Niemand sonst hätte der Farbe deiner Kugel entsprechen können, und das ist wichtig bei der Auswahl der Hüter.”

 

“Deshalb habe ich dich vermutlich auch nicht bemerkt, hm?”

 

Rejo lachte. Es klang nach einer kleinen Steinlawine, die in einem Bach gebremst wurde. “Das mag sein. Aber ich habe dich die ganze Zeit bewacht und war sehr froh, dass du mich heute erwählt hast.”

 

“Naja, ich fand es nur fair, dass ich dich gewählt habe. Schließlich hast du mir ja geholfen.” Siopis Verlegenheit wich dem Gefühl der Traurigkeit, als ihr klar wurde, dass nun bald der Moment kommen würde, in dem sie ihren Zapfen an den Baum verlieren würde. Sie schluckte hart und versuchte, sich darauf vorzubereiten. Aber wie bereitet man sich auf einen Verlust vor? Eigentlich hatte sie ja schon Abschied genommen. Doch je näher sie der Baumspitze kamen, desto trauriger und verzweifelter wurde sie.

 

“Ich will es nicht an den Baum verlieren”,  flüsterte sie, “ich will es nicht.”

 

Doch es half alles nichts. Sie konnte, durfte nicht alle anderen enttäuschen.

 

Rejo war inzwischen mit ihr an der Spitze angekommen.  Langsam, fast zu langsam schon streckte Siopi ihre Hände aus und setzte den Zapfen auf. Fast geduckt erwartete den Trennungsschmerz. Doch er kam nicht.  Sie fühlte sich immer noch verbunden – nur nicht mehr mit dem Schmuckstück!

 

Überrascht keuchte sie auf. Ihre Verbundenheit hatte sich auf Rejo übertragen. Was war passiert?

 

Während sie noch darüber nachdachte, flog der Drache wieder ins Tal herab und setzte seine wertvolle Fracht in der Nähe eines Sees ab.

“Nun kennst du das Geheimnis. Durch die Hütezeit werdet ihr darauf vorbereitet, dass sich einer von uns Jungdrachen mit euch verbindet, Siopi. Und die, die das Glück haben, ihren Drachen selbst zu wählen, können unter den besten von allen aussuchen.”

Er schüttelte den Kopf und wieder erscholl ein heiteres Grollen aus seinem Maul. “Du hast eine ungewöhnliche Frage gestellt. Und du hattest das Glück, dass der Älteste der Drachen dir gewogen ist und sie dir beantwortet hat. So konntest du die beste Wahl für dich treffen. Und für mich, und dafür bin ich Dir sehr dankbar.”

 

Zusammen standen sie an dem See und schauten hinaus auf den Mond, der sich in dessen  Oberfläche spiegelte.  Nun verstand sie alles. Und sie war froh, dass sie dem Ritual gefolgt war. Schließlich hatte sie die Verbundenheit nicht verloren und ihr Stern würde den ganzen Winter über an dem Julbaum strahlen.

Mama forscht

Kennt Ihr diese Tintenroller, bei denen man das Geschriebene wieder ausradieren kann?
Nicht mit dem Tintenkiller, nein: Man benutzt einfach den am Ende des Tintenrollers angebrachten Radierer und reibt damit über die Stelle, die man auslöschen will.

Eine fantastische Erfindung, dachte ich mir und holte gleich ein Megapack für mich und meinen Filius. Wir beide sind nicht immer sehr konzentriert bei der Sache, und dann schleichen sich immer wieder Fehler beim Schreiben ein.

Seit der Anschaffung dieser Tintenroller habe ich oft genug schon meine Fehler ganz elegant wieder verschwinden lassen. Der Vorteil gegenüber Tinte und Killer:

  • Nur ein Stift für Schreiben, Ausradieren und Überschreiben.
  • Keine Chemie (was besonders von den ökologisch bewussten Lehrerinnen geschätzt wird).
  • Kein Warten, bis die Flüssigkeit des Tintenkillers auf dem Blatt getrocknet ist.
  • Keine ausgefransten Buchstaben, wenn man doch mal zu kurz gewartet hat; statt dessen die strahlende Schönheit eines fehlerfreien, sauberen Textes.

Mein Sohn und ich sind uns also endlich einmal in einer Sache einig: Dieser Stift ist genial.

Nun steckt bekanntlich der Teufel im Detail, und ich bin ein sehr detailverliebter Mensch. Sprich: Ich hinterfrage nicht nur, wohin die Schmetterlinge verschwinden, wenn es regnet, sondern auch, warum man diese Tinte radieren kann. Eine erklärende Antwort darauf erhielt ich nie – bis gestern Nachmittag.

Es gibt eine Situation in unserem doch ziemlich friedlichen Zusammenlebens, in der mein Sohn und ich uns liebend gerne gegenseitig ertränken, vierteilen oder auf irgendeine andere sadistische Art und Weise ums Leben bringen würden: Hausaufgaben.

Nun geht der Junge dankenswerterweise auf eine Ganztagsschule, so dass sich die Aufgaben, die daheim gelöst werden müssen, weitestgehend auf die Korrektur von Klassenarbeiten und auf das Lernen von Vokabeln beschränken. Wie der Zufall es so wollte, stand gestern gleich beides auf dem Plan: Er musste zwei DinA4-Blätter Vokabeln schreiben und auswendig lernen und eine vierseitige Klassenarbeit in Mathematik korrigieren.

Mir war klar, ihm ebenfalls, dass das in einer Katastrophe enden musste. Wir hatten eh gerade einen sehr verletzlichen Burgfrieden geschlossen, weil ich ihm etliche seiner Handyspiele verboten hatte. USK 16 ist eben nicht für einen Elfjährigen gedacht, auch wenn diesem die Einsicht dafür fehlt. Mit Wut im Bauch und überhaupt keiner Lust zu arbeiten ging der junge Mann dann also ans Werk.

Es kam, wie es kommen musste: Er verschrieb sich ständig, radierte, wurde immer wütender und zerknüllte schließlich das fast fertige Blatt derart, dass es eigentlich nicht mehr zu gebrauchen war. Nun gebe ich zu: Gerade, was das Schreiben betrifft, werde ich schnell weich. Mein Sohn hat eine angeborene Handgelenkschwäche, die ihm große Schreibarbeiten schnell zur Qual werden lassen. Nach einem halben Blatt muss er bereits eine Pause einlegen, weil er nicht weiterschreiben kann. Da ich dieses Problem selbst habe und erst seit Erfindung des PCs größere Schreibmengen bewältigen kann, weiß ich, dass der kleine Racker nicht flunkert und kann sein Problem durchaus nachvollziehen.

Was also tun? Neu schreiben lassen? Das wäre vermutlich pädagogisch wertvoll, wenn es die Probleme mit dem Handgelenk nicht geben würde. Verzweifelt genug war der Junge eh schon, und ich spürte genau, dass wir an dem Punkt waren, an dem seine ganze Wut in ihrer Pracht und Herrlichkeit in einem zerstörerischen Anfall ausbrechen würde. Mein kleiner Hitzkopf hatte schon öfter einen solchen Anfall, und manchmal fielen seiner Wut auch Gegenstände zum Opfer, die ich dann im Anschluss reparieren musste.

Mir fiel ein, was ich in meiner Schulzeit gemacht hatte, wenn meine Hefte oder Blätter zu arg gelitten hatten. Also: Bügeleisen herausgeholt, Blatt zwischen ein Küchentuch gesteckt, mit dem heißen Eisen drüber gefahren – sollte klappen. Das Schlimmste, was mir hier mal passiert ist, war ein sehr dunkel gewordenes Blatt, das durch die Hitze derart brüchig geworden war, dass es auseinanderfiel.

Gut, dachte ich mir. Das sollte also eigentlich hinhauen, wenn ich das Blatt nur ganz kurz bügele.

Gesagt, getan. Nur war das Ergebnis nun überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte.

Ich hatte ja wirklich mit allem gerechnet: Mit vergilbtem Papier; damit, dass die Falten immer noch drin sind. Aber: Das Blatt war glatt und –

Weiß. Komplett Weiß. Alles Geschriebene weg, unsichtbar! So, als habe nie jemand etwas auf dieses Blatt geschrieben. Nur, wenn man das Blatt ein wenig im Licht hin und her drehte, konnte man erkennen, dass da mal was stand.

Bei “normaler Tinte” passiert das nicht, daher konnte ich nur davon ausgehen, dass es an der Thermotinte lag.

Das aber löste nun überhaupt nicht mein Problem, das ja eigentlich darin bestand, den Jungen zu entlasten und ihm nicht doch die Aufgabe neu schreiben zu lassen.

Seufzend setzte ich mich also an den Tisch und schrieb der Lehrerin einen Entschuldigungsbrief, in dem ich ihr das Problem erklärte.

Während ich schrieb, zählte ich Eins und Eins zusammen und kam endlich dahinter, wie diese speziellen Tintenroller funktionieren:

Da die Hitze die Tinte entfernt, wird die Hitze, die durch die Reibung während des “Radierens” entsteht, die Tinte löschen. Es ist also anders als beim üblichen Radiergummi und anders als bei der üblichen Tinte, die nur durch chemischen Einsatz verschwindet.

Auch das erklärte ich in diesem Entschuldigungsbrief und endete dann mit den Worten:

„Diesmal hieß es ausnahmsweise nicht „Jugend“, sondern „Mama forscht“.

Der Verrat der Stille

Es gibt Zeiten, in denen jedes Wort zuviel ist.
Selbst das gedachte Wort kann eines sein, das Katastrophen auslöst.
In solchen Zeiten hilft es, seine Gedanken abstrakt zu strukturieren. Man spielt die Konzentration fördernde Spielchen, malt Bilder ohne Motiv, man sieht anderen Leuten beim Leben zu und versucht dies in Einklang mit seinem Weltbild zu setzen.

Irgendwann taucht man aus der Tiefe des Schweigens auf, in der Hoffnung, etwas gelernt zu haben. Es steigen Worte auf. Worte, die die abstrakten Gedanken zu einem Gebilde formen, das die besagte Lehre verdeutlichen soll. Manchmal lebt man dann mit diesem Gebilde einige Zeit; sicher, endlich einen Weg gefunden zu haben. Das geht so lange gut, bis das Gebilde anfängt zu zerfallen. Das kann am Alter des Gebildes liegen. Erosion, Erruption, ein Sturm – was auch immer – kann dazu führen, dass das Gebilde brüchig wird und langsam oder auch blitzschnell in sich zusammenfällt.

Die Twintowers waren ein solches Gebilde. Gebaut nicht unbedingt für die Ewigkeit, aber zumindest für unzählige Epochen. Ein Tag, also ein winziger Bruchteil der Ewigkeit reichte, um sie zu Fall zu bringen.

Aber sie standen lang genug, um sie in das Gedächtnis der Welt einzubrennen. Die Menschheit wird sich an sie erinnern. Einerseits aufgrund ihrer Beliebtheit und ihres ursprünglichen Symbolcharakters. Andererseits aber auch durch den Tag, die Ereignisse, die zu ihrem Untergang führten.

Solche Momente bleiben uns auch oft länger im Gedächtnis als das, was unser Weltbild, unser Konstrukt, das wir aus den Tiefen unseres Schweigens mitbrachten. Die Ereignisse, die zu dem führten, was unsere Zuversicht, unsere Sicherheit, was uns kleinkriegte.

~

Lucy war noch immer gefangen. Gefangen in dem Kokon, der die Erkenntnisse aus den Ereignissen der letzten Jahre von ihrer Seele fernhalten sollte. Ein Schutz, einer Mauer gleich. Einer Mauer, die über der Erde hoch bis in die Himmel ragte, unterhalb bis in die Tiefen der Hölle reichte. Niemand würde diese Mauer überwinden können, und da der Kokon fester als die Hülle eines Panzers war, konnte ihn auch niemand durchdringen.

Schutz ist gut und gesund, dann vor allem, wenn Gefahr droht. Man kennt das genug aus Kriminalromanen: Zeugen zum Beispiel, die in wichtigen Fällen aussagen sollen, werden in Schutzhaft genommen. Prominente, Politiker, Wirtschaftsgrößen, all diese Menschen haben Leibwächter, die sie schützen.

Aber auch Menschen, die ungebetene Gäste von sich fern halten wollen, beauftragen Wachmänner, errichten Mauern und Zäune, die andere fernhalten sollen. Patienten mit enormer Immunschwäche müssen ihr Leben in isolierten Räumen oder Zelten verbringen.

All diese Vorsichtsmaßnahmen erfordern Kraft, Kraft, die für das eigentliche Leben wesentlich notwendiger wäre, und sie isolieren.

Zwei Faktoren, die deutlich dazu beitragen, die Vulnerabilitätsgrenze deutlich zu senken, sprich: Sie tragen dazu bei, Menschen verletzbar zu machen. Also wirkt die Schutzmauer, mit der man sich umgibt, wie eine Art Virus: Sie hält Faktoren ab, die uns helfen können, mit Verletzungen umzugehen, und sie trägt dazu bei, dass die Einsamkeit uns krank macht.

Lucy allerdings sah das nicht. Oder sagen wir besser: Lucy wusste es, aber sie empfand es nicht so.

All diese Verletzungen, die ihr in ihrem Leben zugefügt wurden, hatten sie gelehrt, dass Vertrauen und Offenheit, Nähe und Zuneigung Ausgangsfaktoren für furchtbare Verletzungen sind. Reden und Zuhören führte zu Vertrauen und Nähe, also schwieg sie. Und sie hörte nicht zu.

Seit der Schießerei in dieser Diskothek, bei der sie eigentlich mit einem Schrecken davongekommen war, war Lucy taub. Sie sah die Menschen reden, aber sie hörte nichts. Von Zeichensprache oder Lippenlesen wollte sie nichts wissen und die meisten Notizen warf sie ungelesen weg.

Sie saß in ihrem Zimmer in dem Pflegeheim, in dem sie seither wohnte, sah auf den Fernseher und schaute Serien. Eine Serie nach der anderen. Die Untertitel reichten ja, um zu verstehen, was diese Menschen von sich gaben. Pfleger holten sie zum Essen, brachten sie zu ihrer Therapiestunde, begleiteten sie in den Park, wenn sie an die frische Luft sollte. All das ließ sie zu. Schweigsam, regungslos, unbeteiligt.

Nur nachts, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, weinte sie leise in ihre Kissen.
Der Schmerz der letzten Verletzung war zu groß um nicht zu weinen.

Niemand wusste davon, und niemand würde je erfahren, dass der Mann, der diesen Anschlag auf die Diskothek ausgeübt hatte, dort durch sie Zutritt erhalten hatte. Die einzigen Zeugen hierfür waren tot, und sie hatte nur überlebt, weil sie sich im Küchenhof des Etablissements in einem Müllcontainer versteckt hatte.
Als die Schießerei begann, war sie gerade in der Damentoilette und war von dort aus in die Küche gekrochen, auf allen Vieren.

Die Tür zum Hof stand offen. Es war dunkel dort, dunkel wie in einer Neumondnacht. Die einzigen Lichtquellen stammten aus dem Flur hinter ihr und von einem laternenartigen Außenlicht, das schon bessere Nächte gesehen hatte. Der Boden war von Nässe durchtränkt, es stank nach Müll und Urin. Der Koch und die Küchenhilfen nutzten den Hof scheinbar auch als Austritt.

„Sie waschen sich nicht die Hände“, schoss es Lucy durch den Kopf, während sie weiter in die Mitte kroch. Ekel stieg in ihr auf, sie musste würgen. “Sie pinkeln in den Hof und waschen sich danach nicht die Hände, die Schweine.”

Die Küchenmannschaft stand in einer Ecke zusammengedrängt und starrte sie an, als wäre sie einem Horrorfilm entstiegen. In gewisser Weise war sie das ja auch. Auf diese Leute musste sie so wirken, ein Alien oder ein Todesengel, der ihnen nun den Tod ankündigte. Sie überbrachte das Todesurteil jenen, die andere Menschen durch ihre Unreinheit mit Krankheiten infizierten.

„Du denkst unlogisch“, dachte sie weiter und bemühte sich darum, den Ekel und die Wut auf diese Leute zu vergessen, denn die ungewaschenen Hände des Küchenpersonals war zurzeit das geringste Problem.
„Merks dir und melde es dem Gesundheitsamt, wenn du hier heil wieder herauskommst“, befahl sie sich. „Jetzt brauchst du erst einmal ein Versteck um zu überleben.“

Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Einen Ausgang hatte dieser Hof wohl nicht; zumindest war keiner zu entdecken, und wäre dort einer, dann hätte das Personal ihn sicher schon als Fluchtweg benutzt. Es gab nur diese dunkle Ecke, in der die Küchencrew stand und die Müllcontainer, die an einer der Seitenwände aufgereiht waren. Wieder schüttelte sie der Ekel, aber sie sah keinen anderen Ausweg: Schnell stand sie auf, lief zu der Seitenwand, kletterte in den ersten Container und zog den Deckel über sich zu.
Hier roch es noch grauenvoller und sie hatte das Gefühl, dass sie nicht atmen konnte.
Sie wollte sich übergeben, aber sie hatte Angst, dass die Würgegeräusche auf sie aufmerksam machen würden.
Vielleicht würde der Mörder ja gar nicht auf den Hof gehen? Vielleicht würde er sich mit den Opfern in den Gasträumen begnügen?

Sie hörte die Sirenen. Ein Klang der Hoffnung, und vorsichtig zog sie den Deckel ihres Verstecks einen winzigen Spalt breit auf, um hindurchzuspähen.

Sie sah… nichts.

Aber sie hörte kreischende Bremsen, die darauf hinwiesen, dass etliche Autos sich dem Etablissement in hoher Geschwindigkeit genähert hatten. Eine Stimme rief etwas durch ein Megaphon, eine Nachricht für den Täter?

Da! Ein Geräusch hinter ihr ließ sie erstarren. Wer war das? Ein rauschendes Knarzen erklang, eine gedämpfte Stimme antwortete.

„Habe Stellung bezogen. Hier kann der Kerl nicht raus.“

Eine Pause, wieder dieses Knarzen. Die Antwort des Einsatzleiters? Noch einmal vernahm sie die leise Stimme: „Verstanden. Over und out.“

Dann: Stille. Wo das Küchenpersonal abgeblieben war, konnte sie nicht erkennen, nicht von diesem Standort aus.

Wie eine ungebetene Antwort auf diese Frage hörte sie leises Wimmern, darauf eine zischende Stimme: „Was machen sie da? Los, verstecken sie sich hinter den Containern! Schnell!“

Eilige Schritte trampelten über den Hof, von der Stimme begleitet: „Chef, das Küchenpersonal ist hier im Hof, keine gute Idee, die Täter hierher zu scheuchen, Aktion abbrechen, schn…“

Schüsse.

Von der Küche aus ertönten Schüsse, begleitet von Schreien, Schreien vor Entsetzen und Schmerz. Hinter ihr antworteten weitere Schüsse, unzählige, schnell hintereinander.
Lucy zog sich zurück, ganz tief in den Container, so tief, dass sie nichts mehr hören und sehen konnte.

Die Stille blieb, als man den Container öffnete und sie daraus befreite: Sie war nun ihr steter Begleiter.

Niemand wusste, dass dieser Mann, der all diese Menschen für seinen kleinen Privatkrieg geopfert hatte, mit ihr gemeinsam die Diskothek betreten hatte. Dass dieser Mann ihr Avancen gemacht, sie zu einem Date eingeladen hatte. Dass er durch sie in diese Diskothek Zutritt erhalten hatte, zu der nur Eingeweihte Zutritt bekamen. Eingeweihte wie sie, denn sie ging regelmäßig dort zum Tanzen hin.

Sie würde nie wieder tanzen.

Nein, das lag nicht daran, dass sie taub war. Sie konnte ja die Bässe noch hören und spüren, das also wäre nicht der Hinderungsgrund. Aber bei jedem Tanzschritt hörte sie die Schüsse. Die Schüsse und die Schreie, und sie wurden von einem ganz besonderen Lied begleitet: Ihr Lieblingslied, das, zu dem sie immer so gerne getanzt hatte, nur hatte dieses Lied einen anderen Text: Die Worte des Mannes, der ihr so sehr geschmeichelt hatte, dort in der Bibliothek. Der ihr so sehr geschmeichtelt hatte, dass sie Vertrauen zu ihm fasste.
Sie hatten sich ein paar Mal dort gesehen, und irgendwann standen sie beide am gleichen Regal, griffen nach dem gleichen Buch. Eine Berührung, die sie ein bisschen elektrisierte.

Sie unterhielten sich, öfter. Er sei Hobbyzauberer, auf der Suche nach neuen Inspirationen für seine Geschichten rund um die Kunststückchen. Sie erzählte ihm, dass sie einfach gerne las, weil sie viel allein lebte und nicht besonders begeistert vom Fernsehprogramm war. Warum sie allein sei, wollte er wissen, und sie erklärte es ihm zögernd. Sie war eben ein bisschen schüchtern, nicht gut darin, Bekanntschaften zu schließen.

Er verstand das nicht. Die Männer müssten sich doch um sie reißen, denn sie habe etwas Magisches an sich, hatte er gesagt. So etwas Magisches, dass er sie – entgegen seiner Gewohnheiten – sogar an einer Supermarktkasse angesprochen hätte.

Als man sie befragte, zeigte man ihr ein Foto von dem Attentäter. Er war tot, von mehreren Kugeln durchsiebt. Dieses Wissen ließ sie endgültig in der Stille verschwinden. Nun brauchte sie all diese Magie für sich selbst. Mit dieser Magie hielt sie allen Einflüsterungen stand. Sie hörte einfach nicht mehr zu. Nicht den Pflegern, nicht den Therapeuten, nicht den Arbeitskollegen. Niemandem. Seit fast einem Jahr nun lebte sie in ihrer selbstgewählten Stille, wob ihren Kokon immer dichter um sich, stieg immer tiefer hinab, auf den Grund ihres Seins.

Sie hatten lange um sie gekämpft, versucht, diesen Wall zu durchbrechen. Sie sprachen zu ihr, laut, leise. Sie sangen, spielten Musik, lasen ihr vor. Sie legten ihr Bücher auf den Tisch, die sie sorgsam vor ihrer Zimmertür ablegte, ungelesen. Nichts erreichte sie, weder Bewegungstherapie, noch Gestalttherapie, Berührungen – gar nichts. Schlimmstenfalls wehrte sie sich mit Gewalt, bestenfalls blieb sie einfach unberührt.

Irgendwann hatten sie aufgegeben. Sie schlief, wusch sich, ging essen, saß zwei Mal in der Woche die 50 Minuten ihrer Therapiestunde ab und schaute ansonsten von morgens bis abends Fernsehen.

Nachrichten sah sie nicht, Dokumentationen ebenfalls nicht; gegen Kinofilme hegte sie Aversionen. Statt dessen sah sie sich Soaps an, begleitete aufmerksam jeweils eine Serie von Anfang bis zum Ende, und fing erst dann eine neue Serie an.
Es schien, als suche sie dort etwas, etwas, was niemand ihr zeigen, niemand ihr geben konnte.
Und so verbrachte sie ein ganzes Jahr dort. Vier Jahreszeiten gingen an ihr vorbei, ohne dass sie ihnen Aufmerksamkeit schenkte, ohne dass sich etwas änderte.

Und nun war sie wieder im Park und absolvierte ihre tägliche Runde, die sie bei trockenen Wetter stoisch hinter sich brachte.

Der Frühling begann soeben, lag noch im Widerstreit mit dem Winter. An manchen Tagen war es glatt auf den Wegen, so wie auch heute, und Mark, ihr Bewegungstherapeut, nahm sie an den Arm, um sie zu stützen, damit sie nicht fiel. Heftig zog sie ihren Arm weg und sah ihn finster an.

„Lucy. Ich will nur Halt geben, denn hier ist es stellenweise sehr glatt“, tadelte er ihre Reaktion und griff erneut nach ihrem Arm. Ihre Gegenwehr fiel noch stärker aus, sie riss ihm den Arm richtiggehend aus der Hand. Mark aber verstärkte reflexartig seinen Griff, gerade zu dem Zeitpunkt, als sie über nasse, halb gefrorene Blätter liefen. Das Unvermeidliche geschah: Sie verloren beide das Gleichgewicht und fielen übereinander.

Entsetzt kroch Lucy unter Mark hervor, Panik stand in ihren Augen. Sie rappelte sich auf, verzog vor Schmerzen das Gesicht und fiel wieder hin: Irgendetwas war mit ihrem Bein. Sie konnte nicht aufstehen. Sie sah zu Mark. Er lag regungslos am Boden, aber die Kälte ließ seinen Atem wie kleine Dampfwolken in die Luft steigen.

Lucys Panik ebbte ab: Er lebte. Er lebte, und es war still. Keine Sirenen. Kein Blut. Aber es war kalt, und es war nicht seine Schuld, dass sie hier war, das wusste sie. Also kroch sie zu ihm und versuchte ihn zu wecken. Sie rüttelte an seiner Schulter. Keine Reaktion. Lucy boxte ihn in die Seite, aber auch das half nicht. Schließlich zog sie ihn zu sich, um ihn wenigstens ein wenig wärmen zu können, und wartete.

Das konnte sie gut. Seit sie stundenlang in diesem Container gesessen hatte, ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde, konnte sie verdammt gut warten und still halten.

Sie konnte sich nicht melden. Nicht melden, nicht rühren, nicht hören, nichts. Sie war stumm, taub, gelähmt vor Schreck. Sie spürte die Bewegungen um sich, um den Container herum. Schritte. Schweres Gerät, das auf dem Boden abgestellt wurde. Die Container wurden hin und hergeschoben. Aber Lucy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie auf sich aufmerksam machen konnte. Sie spürte, wie jemand gegen den Container schlug, einmal, zweimal. Sie sah, wie jemand den Decke aufriss, sah die Hand, die auf sie zeigte. Aber sie konnte sich nicht rühren, nicht reden, nicht hören.

„Zumindest bin ich nicht blind“, dachte sie und ließ zu, dass sie aus dem Container gehoben wurde. „Und riechen kann ich noch.“
Der Gestank blieb, selbst als man sie gewaschen und neu eingekleidet hatte.
Der Gestank und die Stille.

„Azarro“, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Rasierwasser, das sie schon seit gefühlten Ewigkeiten kannte. Sie hatte es irgendwann einmal ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt, und er trug seither kein anderes mehr. Ob das nun auch noch so war? Nachdem sie ihn, ihre ganze Familie verlassen hatte? Sie wusste es nicht. Wollte es nicht wissen. Ihr Vater war auch nur so ein Worthülsenmensch. Warum erinnerte sie sich jetzt an den Geruch?

Wo war der Gestank geblieben?

Lucy sog den Atem tief durch die Nase ein. Der Duft des Rasierwassers blieb, es kam von Mark. Also keine Erinnerung, ein Geruch. Ihre Nase reagierte wieder.

Wieder stieg Panik in Lucy auf. Das war nicht richtig! Es war ihre Schuld, dass diese Menschen gestorben waren! Warum sollte sie Gutes riechen dürfen, wenn der Gestank sie gerettet hatte, aber sonst niemanden? Selbst die Küchencrew hatte es letztendlich erwischt, weil sie auf dem Weg hinter den Müllcontainer vom Mörder abgeknallt worden waren, wie die Enten in einer Kirmesbude, einer nach dem anderen.
Nur sie hatte überlebt, im Müll. Im Gestank. Sie, die das Monster eingeschmuggelt hatte. Was für eine Ironie, dass sie genau dort überlebt hatte, wo sie eigentlich hingehörte. Ausschussware. Müll. Dreck. Abschaum.

Sie verbot ihrer Nase den Geruch des Rasierwassers, und die Rückkehr des Müllgestanks war beinahe tröstend für sie.

Magie. Mit dieser Magie konnte sie den Gestank bei sich behalten, und sie konnte ihre Stille erzwingen.

Aber ihr Therapeut, Mark, der musste dringend Hilfe bekommen, das wusste Lucy. Vorsichtig tastete sie in den Taschen seines Kittels und fand sein Handy. Sie wählte die Notrufnummer, die Nummer, die die Pfleger und Therapeuten wählen sollten, wenn die Irren ausrasteten, so wie Lucy das im Stillen bei sich nannte.

„Hallo, Mark? Was ist passiert?“ Die Stimme klang sachlich und auffordernd, so dass jeder, selbst in einer hektischen Situation oder in Panik wieder einen klaren Kopf bekommen konnte. „Mark, was ist los? Wo sind sie?“ Die Stimme wurde energischer, forderte eine Antwort. Aber Lucy konnte ja nicht hören und reden.

Warum hörte sie dann diese Stimme?

Nein… nein… das durfte nicht sein! Sie durfte nicht hören können! Sie war taub! Wo war die Stille?

Hektisch lauschte Lucy in sich hinein.

Schüsse! Schreie! Das Lied mit seinen Worten! Nichts davon war da! Statt dessen hörte sie diese Stimme aus der Notfallzentrale, und die eines Vogels, der auf einem Baum saß und eine muntere Melodie zwitscherte.

~

Minuten später erreichten Sanitäter die Unfallstelle im Park. Einen Moment lang standen sie wie erstarrt, kaum in der Lage das zu erfassen, was sie vor sich sahen:
Mark lag regungslos auf dem Boden. Blut sickerte aus einer Wunde an seinem Hinterkopf. Ein Stück weiter weg kroch seine Patientin auf allen Vieren von ihm fort und schrie ihre Qual hinaus in die Frühlingswelt.

Doch es war totenstill, bis auf das Lied des Vogels, hoch über ihr.

 

 

Verrat der Stille

Kate Havnevik ~ Grace

Klassentreffen

Es ist wieder einmal soweit: Klassentreffen.

Helga hat sich unglaublich viel Mühe gemacht: Zehn Jahre nach dem letzten Treffen sind viele Klassenkameraden umgezogen, haben sich scheiden lassen, neu geheiratet. Namen, Anschriften, all das hat sich geändert, und da natürlich niemand daran dachte, unsere selbsternannte Präsidentin des Festkomitees darüber zu informieren, sind etliche Einladungen wieder zurückgekommen.

Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie sich davon aufhalten ließe. Ein bisschen im Internet recherchieren, die Beziehungen zum Einwohnermeldeamt spielen lassen, andere Ehemalige nerven und ausfragen – und endlich hat sie alle erreicht. Der Termin ist so gelegt, dass eigentlich jeder zusagen kann: Genug Zeit zu planen und einen Abend freizuhalten hat sie klugerweise eingeräumt. Das Treffen findet in einer Pension statt, die moderate Preise bietet, weil Paul, der Inhaber der Pension, der Bruder von Erwin ist und Erwin unser Klassensprecher war. So können auch die, die weit weggezogen sind, ohne desaströse Ausgaben an dem Treffen teilnehmen. Die klassischen Ausreden waren damit bereits im Vorfeld ausgeräumt, so würden lediglich die nicht auftauchen, die immer fehlten.

Unzählige Mails mit Erinnerungen („Nicht vergessen: Am 23. Oktober ist es soweit! Du kommst doch ganz gewiss?“), Anweisungen („Bringt bitte alle das Jahrbuch mit und das T-Shirt mit den ganzen Unterschriften! Wir haben ein Spiel vorbereitet!“), Regeln („Die Partner bleiben bitte daheim, ebenso Kind, Hund, Katze, Maus, haha!“) und sonstigen für Helga so wichtigen Details sind vermutlich bei jedem von uns hereingeschneit; mindestens genauso viele Anrufe erreichten uns, und nein, Leute: Nicht rangehen ist bei einem Anruf von Helga keine Option. Dann folgen weitere Anrufe im Fünf-Minuten-Takt, so wie eine weitere Mailflut, in der um dringenden Rückruf gebeten wird.

Aber gut, alle zehn Jahre kann man mal so eine Zeit mitmachen. Letztendlich lassen wir das alles nun zum dritten Mal über uns ergehen, und es hat sich die beiden vorhergehenden Male gelohnt. Viele nette Gesichter, das Erstaunen auf allen Seiten, was aus uns geworden ist, gute Gespräche und viel Gelächter – auch über Helgas militärische Vorbereitungsweise – machen das locker wieder wett.

Natürlich gibt es auch Leute, die würde man am liebsten gar nicht mehr sehen.

Ludwig zum Beispiel hätte ich beim ersten Klassentreffen am liebsten nicht dabeigehabt. Die Erinnerung daran, dass er auf der Abschlussfeier mit mir Schluss gemacht hat um mit Karina aus der 10c zu knutschen, saß einfach noch wie ein bohrender Nagel in meinem Selbstbewusstsein. Als ich aber dann sah, was aus ihm geworden war, dankte ich allen Göttern und insbesondere Karina dafür, dass sie ihn auf Abwege geführt hatten:

Ich hatte ihn größer in Erinnerung. Größer, mit mehr Haaren auf dem Kopf. Wo waren seine wunderschönen Wuschellocken hin? Da war nur noch ein schütterer Rest, der mehr nach einem verzweifelten Versuch, Haare vorzutäuschen, aussah. Und dann diese Brille! Glasbausteine! Hatte der Mann noch nichts von Kontaktlinsen gehört? Ich muss heute noch grinsen, wenn ich daran denke, wie Andrea und ich zusammenstanden, kichernd zu ihm rüber starrten und all seine schrecklichen Veränderungen aufzählten, die uns auf den ersten Blick auffielen.

Als ich am Ende des Abends Andrea und Ludwig knutschenderweise im Auto sitzen sah, musste ich noch mehr lachen.

Im Jahr darauf traf es mich allerdings noch schlimmer. Ansgar war scheinbar für eine Weile zurück in Deutschland und beehrte uns deswegen mit seiner Anwesenheit. Ansgar war seinerzeit immer der Klassenbeste gewesen und wurde uns Verlierern als leuchtendes Beispiel vorgehalten, was er ganz offen und unheimlich genoss. Nach unserem Abschluss absolvierte er noch das Gymnasium und schloss dort mit Summa Cum Laude ab. Natürlich studierte er. Irgendwas mit Bio oder Chemie, oder mit beidem. Auf dem ersten Klassentreffen fehlte er, und Helga erzählte lang und breit mit dieser bedeutungsschwangeren Stimme, die andeuten sollte, dass nun etwas hochdramatisch Wichtiges ans Licht kommen würde, dass er nun ein Forschungsprojekt in den USA leiten und gerade in einer wichtigen Phase des Projekts stecken würde, was ihn leider daran hindere zum Treffen zu kommen.

Dafür war er dann bei dem zweiten Treffen dabei und sonnte sich in der Bewunderung aller, die ihm Respekt zollten für all das, was er von seinem Lebensstil in den USA erzählte. Seine Lieblingssätze waren: „Das kennt ihr hier natürlich nicht.“, und: „Habt ihr das hier nicht? Ach, ja….“

Dabei setzte er eine derart gönnerhafte Miene auf, dass ich ihm am liebsten sein Flugticket ins Maul gestopft und mit einem Tritt auf den Heimflug befördert hätte. Ohne Flugzeug. Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, auch allen, wirklich allen Leuten ein Gespräch aufzuzwingen, gleich ob man wollte oder nicht, und so stand er tatsächlich irgendwann auch bei uns.

Ich verdrehte die Augen und hörte gar nicht richtig zu, was er da zu erzählen hatte, aber das schien ihn gar nicht zu stören. Er erzählte und erzählte, bis ich mich höflich entschuldigte und in Richtung WC verschwand, um endlich meine Ruhe zu haben.

Nun, vermutlich wird er in diesem Jahr wieder zu beschäftigt sein, also freue ich mich tatsächlich wieder ein bisschen auf das Treffen.

„Hey, schön dass du da bist!“ Helga stürmt auf mich zu, kaum dass ich den Festraum betreten habe und fängt sofort an auf mich einzuschwatzen, als seien wir Busenfreundinnen. Oh Gott. Ich konnte Helga nie ausstehen, weil sie immer alles machen wollte, sich für jeden Mist am schnellsten und am lautesten gemeldet hatte. Ihre Noten waren grottenschlecht, aber die Lehrer mochten sie natürlich, weil sie immer so hilfsbereit war und hievten sie durch jedes Schuljahr. Jeden Sommer betete die halbe Klasse stumm darum, dass sie es ein einziges Mal nicht schaffen würde. „Bitte! Einmal nur! Eine Ehrenrunde schadet doch niemandem!“, bettelten wir bei der Zeugnisvergabe unsere vorhandenen oder eingebildeten Götter an; stumm, um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht. Und jedes Jahr entgleisten uns die Gesichtszüge, wenn sie dann stolz verkündete: „Versetzt in Klasse Xb!“

Wie dem auch sei, ich mied Helga während unserer Schulzeit wie Strickstrumpfhosen im Frühjahr. Auf der weiterführenden Schule galten Strickstrumpfhosen als gesellschaftlicher Tod. Helgas Gesellschaft war eher so, als wäre man an einem Pfahl im Meer angebunden, bei Ebbe bis zur Brust im Wasser, nicht wissend, ob Haie oder die Flut letztendlich für Deinen Tod sorgen würden. Bei strahlender Sonne betetest Du irgendwann um einen Hai, der dann aber sicherlich nicht auftauchen würde.

Und genau diese Helga hakt sich nun bei mir unter und erzählt mir strahlend, wie toll alles geworden sei und dass fast alle zugesagt hätten. Ich nicke abwesend und suche nach einem Grund, mich höflich bedauernd von ihr loseisen zu können, als der Name „Ansgar“ fällt.

„… stell dir vor, und gestern Abend rief er an und erzählte, dass er es doch noch schafft, und so ist er quasi unser Überraschungsgast des heutigen Abends!“ Helga fängt an zu kichern. Ein schulmädchenhaftes Gackern, das mich an jene Zeiten erinnert, in denen ich mit meinen Freundinnen auf Feten zusammengestanden und zu den Jungs rüber gestarrt habe. Aber okay, da waren wir 14 Jahre alt, nicht ein halbes Jahrhundert! Allerdings rückt diese Peinlichkeit in den Hintergrund, als ich ihre nächsten Worte wahrnehme:

„Ich dachte mir, dass ich euch nebeneinander setze. Ihr habt euch das letzte Mal so gut unterhalten, sagte Ansgar.“ Sie zwinkert mir auffällig zu und raunt dann auf derart vertrauliche Weise in mein Ohr, dass ich nicht weiß, was ich schlimmer finden soll: Ihren anzüglichen Ton oder der Inhalt dessen, was sie sagt. „Da geht noch was zwischen euch… Du bist doch immer noch Single, oder?“

Dem Himmel sei Dank wartet sie gar nicht auf meine Antwort sondern löst sich von mir und flattert zu dem nächsten bedauernswerten Gast, der gerade den Weg zu uns gefunden hat.

Ich lasse mich auf den nächsten freien Stuhl sinken und stöhne auf. Kurz überlege ich, ob ich nicht heimlich verschwinden soll, aber da steuert unsere Gastgeberin wieder auf mich zu, den Stargast im Schlepptau. Ansgar sieht mich erfreut an, und ich bemühe mich, zumindest höflich zu sein. Nachdem wir uns die Hände gereicht haben, will er gleich ein Gespräch mit mir anfangen. Ich aber drehe mich um und stürme auf Ludwig und Andrea zu, als seien sie die rettende Oase in der Wüste.

Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich noch, wie Helga der Mund offen stehen bleibt. Sie sucht offensichtlich nach passenden Worten, um die Situation noch zu retten, aber das ist mir egal. Soll sie doch mit ihm fertig werden.

Andrea und Ludwig schauen verkrampft lächelnd durch den Raum. Der Abstand zwischen ihnen und ihre Körperhaltung verrät mir, dass Helga auch hier die Zeichen missdeutet und die beiden Falschen zu einem Paar zusammengefügt hat: Die beiden sind kein Paar geworden, sondern haben nur die Nacht miteinander verbracht.Nun müssen sie schon zum zweiten Mal dafür büßen, dass sie die Finger nicht voneinander lassen konnten.

Beim zweiten Treffen hat Andrea mich an ihre Seite gezogen und mir das ganze Drama erzählt. Am Morgen danach sei sie durch eine keifende Stimme neben ihm aufgewacht und hätte den Schock ihres Lebens bekommen. Offenbar hatte Ludwig ihr verschwiegen, dass er noch bei seiner Mutter wohnte und diese die Angewohnheit hat, ihrem Söhnchen den Kaffee ans Bett zu bringen. Als Mutti nun ihren Ludwig mit einer Frau im Bett erwischte, brach wohl ihr Weltbild zusammen, und das Drama, das folgte, war laut meiner ehemaligen Banknachbarin filmreif: Andrea im Bett, zwischen ihr und ihren Kleidern die in Tränen aufgelöste Mutter; neben ihr ein ertappter Ludwig, der mit den beiden Damen völlig überfordert war. Kein Wunder, dass die beiden die Klassentreffen am liebsten in zwei verschiedenen Städten gefeiert hätten.

Heute revanchiere ich mich und klage Andrea mein Leid: Lautstark lasse ich mich über Helgas unglückliche Hand bei der Wahl der Tischnachbarn aus. Darüber, dass ich neben dem nervigen Streber sitzen muss, der doch eh nur wieder erzählt, was er drüben in den USA für tolle Sachen macht, die uns Hinterwäldlern noch überhaupt nicht bekannt seien. „Mir geht dieses herablassende Getue auf den Nerv. Der tut so, als seien wir bedauernswerte Höhlenmenschen, die Kultur für eine Zahnpasta halten!“

Kurz überlegen wir, ob wir für das Essen nicht die Plätze tauschen können. Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie uns diese Eigenmächtigkeit durchgehen lassen würde. „Oh nein, das geht auf gar keinen Fall!“, tönt sie entsetzt und schaut uns an wie ein getroffener Hund. Nicht umsonst habe ich doch alle so hingesetzt, darauf basiert doch später das ganze Spiel!“

Ich schließe kurz die Augen und überlege, ob ich sie oder mich umbringen soll. „Ich will nicht mit Mister USA-Angeber Ansgar spielen“, tönt es rebellisch durch meinen Kopf. Den schockierten Minen in meinem Umfeld entnehme ich, dass dieser Satz wohl nicht in meinem Kopf geblieben, sondern über meine Lippen hinaus durch den ganzen Raum geschallt ist.

Oh, Mann.

Sowas passiert immer nur mir. Millionen Menschen gehen zu Klassentreffen, haben einen langweiligen bis angenehmen Abend. Die Hälfte davon knutscht im Anschluss mit einem ehemaligen Klassenkameraden und geht fremd. Aber nur ein Mensch unter diesen Millionen von Menschen reißt die Klappe auf und düpiert den Ehrengast mit respektlosen, unfreundlichen Gedanken, die besser nie gesagt werden sollten.

Nun, jetzt sind sie aber raus, und alle stehen da und starren mich an. Wie die Salzsäuren, oder als hätte jemand die Zeit eingefroren.

Was nun?

Leugnen, dass ich das gesagt habe, kann ich nicht. Laut genug war es, das zeigen mir die Gesichter um mich herum.

„Das war nicht so gemeint“ sagen und lahm dabei lächeln? Peinlicher geht’s nicht mehr.

Außerdem habe ich es ja so gemeint, denke ich trotzig. Ich kann solche Menschen nicht ausstehen, die irgendwo hereinplatzen und von anderen Orten, Vereinen und was sonst auch immer schwärmen, die Anwesenden gönnerhaft darüber aufklären, wie zurückgeblieben sie sind und dass es doch woanders wesentlich klügere, bessere, kompetentere Menschen gäbe als dort, wo dieser Mensch es sich gerade eben bequem macht.

„Rot werden, eine Entschuldigung stammeln und flüchtend den Saal verlassen“, flüstert mir mein kleiner Feigling im Ohr zu, und fast wäre ich der Versuchung erlegen. Dann aber besinne ich mich. Wo soll ich denn hin? In mein Zimmer, bis morgen früh, damit ich niemandem mehr über den Weg laufe? Das ist fast so wie Stubenarrest. Und wenn ich zu alt zum Kichern bin, dann bin ich auch ganz sicher aus dem Alter für Stubenarrest hinaus.

Also denke ich mir: „Aufstehen, Krönchen richten, weitermachen“, recke das Kinn und lächele entwaffnend.

Die bewegen sich immer noch nicht. Und keiner sagt etwas. Ob ich mich noch bewegen kann? Ja klar, sonst hätte ich nicht das Kinn recken können. Eigentlich sieht dieser Mensch ja ganz nett aus, wenn er nur nicht so ein überheblicher Angeber wäre. Schweigen die jetzt schon Minuten lang oder kommt mir das nur so lang vor?

Ein Gedanke nach dem anderen jagt durch meinen Kopf, huscht durch die Ecken, wirbelt Staub auf und verschwindet wieder durch das Dachfenster. Soll ich es erklären, warum ich das gesagt habe?

Noch bevor ich diesen Gedanken weit von mir weisen kann, reißt ihn ein einsames schallendes Gelächter von mir fort. Ich starre entgeistert zu Andrea.

Aber nicht Andrea lacht, sondern Ansgar. Herzlich, ehrlich. Der ganze Mann lacht: Er hält sich den Bauch, die Schultern zucken, und mit weit zurückgeworfenem Kopf brüllt er sein lautes, angeberisches Amilachen heraus. Ich starre ihn an, als sei er verrückt geworden. Die anderen auch. Aber dann fallen sie zögernd mit in sein Lachen ein, überrascht und gleichzeitig erleichtert, weil mein Affront nicht den Abend zerstört hat.

Helga jedoch schaut fassungslos von einem zum anderen, den Tränen nahe, und begreift gar nichts.

Mir geht es nicht viel anders., auch wenn ich keinen Grund zum Weinen sehe. Gut, ich habe das nicht sagen wollen, aber er benimmt sich doch wirklich so. So völlig überheblich und unsensibel. Taktlos, ja taktlos, das ist das Wort, das mir fehlte, und während ich es in meinem Kopf ausprobiere, macht mein Bauch einen kleinen Hüpfer und sorgt gnadenlos dafür, dass ich schamrot werde. Denn letztendlich habe ich ihm gerade eben gezeigt, dass Taktlosigkeit nichts ist, was nur die Amis kennen. Das haben wir hier auch.

Ansgar hat sich soeben ein bisschen beruhigt und grinst mich über meinen ratlosen Blick hinweg an.

„Über sich selbst lachen können“, sagt er in einem höllisch breiten texanischen Akzent, den er mal so eben aus dem Hut zaubert. „Kennt Ihr das hier in Deutschland nicht? Ach, ja…“

Renovierungen

Gerade eben habe ich den Hörer aufgelegt. ‘Wie höflich wir uns verabschiedet haben’, denke ich staunend und überlege, ob mir die Zeiten, in denen ich ihm eine Gürtelrose an den Hals gewünscht habe, nicht doch lieber waren. Jetzt gehen wir ja schon fast höflich miteinander um. So… nett.

Giftig schnappe ich mir meine Schachtel Zigaretten und stapfe auf den Balkon.

Ich mag nicht mehr rauchen. Eigentlich. Es stinkt, macht krank und leert den Geldbeutel.

In Momenten wie diesen zählen solche Argumente nicht.

Richtig affig war das Gespräch.

Schließlich hat er mich betrogen, und mir ist das nur aufgefallen, als auf die Sommerzeit umgestellt wurde und er vergaß, seine Uhr ebenfalls umzustellen. Freds blöde Selbstgefälligkeit, die ihn daran hinderte, sich eine Funkuhr zu kaufen, brach ihm das Genick.

Ich kam die klassische Stunde zu früh nach Hause, während er sein Schäferstündchen mit seiner Geliebten abhielt. Sie lag mit verbundenen Augen auf meiner Seite des Bettes – auf meiner Seite! – während er sie mit einer Pfauenfeder, die ich im vergangenen Sommer in einem Tierpark gefunden hatte, streichelte.

Meine Bettseite. Meine Pfauenfeder. Wohlmöglich waren das auch noch meine Dessous, die sie da trug? Damals hielt ich kurz inne und beschloss spontan, beide umzubringen, wenn sich das als wahr herausstellte. Aber nein, ein Blick auf die neongelben Schleifchen am Hüftgürtel belehrten mich eines Besseren. So einen widerlichen Kitsch hätte ich nie angezogen. Vermutlich würden sie unter ultraviolettem Licht auch noch leuchten.

Ich schüttele die Erinnerung ab und konzentriere mich auf meine Zigarette, blicke mich auf meinem Balkon um. Rostrote Flecken sind überall an den Wänden verteilt. In Gedanken notiere ich mir „Balkon renovieren“ auf meiner To-Do-Liste, die seit meinem Einzug in diese Wohnung immer länger wird.

Ich bin damals wortlos gegangen. Schreien, lamentieren, all das war mir völlig sinnlos vorgekommen. Sinnlos und vor allem würdelos.

Würde schien das Einzige zu sein, was ich in diesem Augenblick noch besaß, und das wollte ich unbedingt behalten.

Die folgenden Wochen wurden dann allerdings zu einem kleinen Rosenkrieg, auf den ich gerne verzichtet hätte.

Er rief mich an um zu erfahren, was ich mit der Wohnung vorhabe. Es war schließlich meine. Ich könne sie ihm ja vermieten. Das war der zweite Moment, in dem Mordgedanken ins Spiel kamen.
Meine Anwältin freute sich darüber, dass ich nicht daran festhielt und stattdessen sie mit einer Räumungsklage und dem Verkauf der Wohnung beauftragte.

‚Sollen die sich doch darum kümmern, dann muss ich mich nicht weiter mit diesem Kerl auseinandersetzen’, dachte ich mir und war davon überzeugt, dass ich nun meine Ruhe haben würde.

Nun, dem war nicht so.

Er feilschte um jeden Quadratzentimeter, um jeden Tag Wohnrecht. Führte ins Feld, dass wir eine eheähnliche Gemeinschaft geführt hätten, die ihm ein Wohnrecht und ein Recht auf einen Anteil einbrächte. Behauptete, er habe immer schon Miete bezahlt, habe Hausmeistertätigkeiten in der Wohnung geleistet, die ihm nun entlohnt werden müssten. Er entblödete sich nicht einmal, auf die Tränendrüse zu drücken und sich als potentiell obdachlos zu präsentieren, sollte ich ihm nicht noch einige Zeit in der Wohnung einräumen.

Kurz und gut: Ich hatte mir einen Mietnomaden eingefangen, der mit seiner neuen Freundin in meiner Wohnung hauste und alles verkommen ließ.

Die Briefe seines Anwaltes ließen mich in hysterische Lachanfälle ausbrechen. Von einer „Stütze der Gesellschaft“ war die Rede, der ohne einen festen Wohnsitz selbst der Hilfebedürftigkeit ausgesetzt würde und dann seinen sozialen Anteil an der Gesellschaft nicht mehr erbringen könne. Von meiner Hartherzigkeit, die unsere Entzweiung forciert habe und nun einen unbescholtenen Bürger in den Ruin stürzen würde. Sogar seine finanzielle Beteiligung an der Wohnung wurde unterstellt, dabei hatte dieser miese Betrüger nicht einen Cent investiert, nicht einen einzigen Cent!

Inzwischen erreichten mich Schreiben der Eigentümergemeinschaft, die mir ans Herz legten, meinen „Mieter“ aus der Wohnung zu entfernen, da die Lärmbelästigung genauso störend sei wie das unverschämte Verhalten seiner Gäste. Ebenfalls ginge aus den Räumen eine derartige Geruchsbelästigung hervor, dass ich damit rechnen müsse, dass entsprechende Maßnahmen getroffen würden, die dann zu meinen Lasten gingen.

All das war nicht mehr ertragbar: Ich setzte ihm die Pistole auf die Brust und drohte mit einer „Räumung auf russische Art“. Eine entsprechende Annonce hatte ich in einem Flyer gefunden, der eines Tages in meinem Briefkasten lag. Genüsslich rieb ich ihm unter die Nase, wie schnell das gehen würde, da ich ja als Eigentümerin jederzeit Zutritt zu dem hatte, was mal meine Wohnung gewesen war und nun mehr einer verdreckten Behausung in einer Mietkaserne unterstem Niveaus glich:

„Sie besuchen Dich, und wegen deines seltsamen Umgangs wird das niemandem weiter auffallen. Danach wird jeder glauben, dass du einfach abgehauen bist. Oh, keine Sorge. Deine Sachen und deine zwei Truhen, die du mitgebracht hast, deponieren sie direkt neben dir, da wo Du hingehörst. Auf dem Müll.“

Als hätte ich ein Zauberwort benutzt, änderte sich sein Verhalten. Meine ehemaligen Nachbarn berichteten mir, dass die Wohnung renoviert und geputzt würde. Die Freundin sei verschwunden und auch die Besuche der zwielichtigen Gestalten würden immer seltener.

Schließlich bekam ich einen Anruf. Ich habe Post in meinem Briefkasten, teilte Fred nur ganz kurz mit und legte dann auf.

Es war ein langer Brief; eine Bitte um Verzeihung reihte sich an die nächste. Das mit dieser Frau sei das Dümmste gewesen, was er hätte tun können. Er wolle alles wiedergutmachen. Er wolle sich mit mir aussprechen und all dieses andere unnütze Geschwätz, das nichts anderes bedeutete, als dass er endlich begriffen hatte, dass es mir fürchterlich ernst war. Am Ende besaß er noch die Frechheit und teilte mir mit, dass ich mich für den nächsten Abend nett zurechtmachen solle. Er würde mich abholen und zum Essen ausführen.

War ich vorher nur wütend, begann ich nun zu kochen. Ich schickte ihm eine Nachricht, dass ich auf keinen Fall mit ihm essen gehen wolle und dass er sich von mir fernzuhalten habe, doch wie schon erwartet interessierte ihn das nicht die Bohne.

Am nächsten Abend klingelte es an meiner Wohnungstür und dieser unverschämte Kerl stand dort: Breit lächelnd, mit einem Strauß Rosen in der Hand, den er mir fast ins Gesicht stieß.

„Für Dich“, betonte er noch unnötigerweise, drückte mir die Blumen in die Hand und drängte sich dann an mir vorbei in meine Wohnung.

„Raus hier“, sagte ich und warf die Blumen gleich auf den Flur. Er aber ging weiter in die Wohnung hinein, als gehöre er hierher, öffnete alle Türen und schaute sich die dahinterliegenden Zimmer an, ging ins Schlafzimmer ganz hinein und sah sich eindringlich darin um. Fassungslos beobachtete ich, wie er den Schrank öffnete und hineinsah, die Schubladen öffnete und in meiner Wäsche wühlte.

„Ich hab gesagt Du sollst verschwinden!“, wiederholte ich im schärferen Ton. Er grinste mich süffisant an, sagte keinen Ton, drückte sich an mir vorbei und begann damit, mein Bad zu untersuchen.

In diesem Moment nahm ich mir vor, mich nie wieder mit einem Mann einzulassen, der 30 Zentimeter größer und wesentlich stärker ist als ich. Zielstrebig lief ich in mein Wohnzimmer und nahm das Telefon von der Ladestation.

„Ich infomriere jetzt die Polizei“, rief ich zu ihm herüber und begann die Nummer zu wählen. Schnell war er bei mir, nahm mir das Telefon weg und beendete den Wahlvorgang, bevor ich überhaupt begriff, was da passierte.

„Schätzchen.“

Der Ton allein brachte mich so weit auf, dass mir die Worte fehlten, richtig sprachlos war ich. Ich, die sonst jedem Eskimo einen Gefrierschrank andrehen konnte, brachte keinen Ton heraus. Und er wertete das auch noch als Erfolg! Siegessicher sprach er weiter.

„Ich habe mich jetzt hier umgesehen. Kein neuer Mann? Kein Wunder. Du kriegst doch keinen Kerl mehr ab. Wer geht denn schon mit so einer nervigen, kontrollsüchtigen Emanze wie Dir freiwillig ins Bett? Das mache nur ich, Baby. Also hör mit dem Theater auf und komm wieder nach Hause. Ich nehme Dich wieder auf.“

Entgeistert starrte ich ihn an. Das konnte er nicht ernst meinen.

„Hast Du den Verstand verloren?“, brachte ich mühsam heraus. Dann aber, als habe mir dieser Satz mein Sprachvermögen zurückgegeben, riss ich mich von ihm los und drehte auf. „Du nimmst mich auf? Du verdammter Dreckskerl haust in meiner Wohnung, nicht in deiner! In! Meiner! Wohnung!“ brüllte ich ihn an. „Und das hier ist auch meine Wohnung, nicht Deine! Du hast hier nichts zu suchen!“

In zwei Schritten war ich an ihm vorbei und auf dem Flur. „Verzieh Dich!“ brüllend, stürmte ich in Richtung Wohnungstür und setzte noch „Verschwinde aus meinem Leben!“ nach.

Ich kam nicht weit. Natürlich holte er mich ein, zerrte mich ein Stück zurück. Ich wehrte mich verbissen, aber es half nichts. Er packte mich an den Schultern und drückte mich gegen die Flurwand. Ich spürte eine Türklinke in meinem Rücken. Das musste die Küchentür sein.

Irgendetwas zupfte zaghaft an meinem Verstand, aber gerade eben blieb nur Raum für die Angst vor Fred. Böse sah er mich an, offenbar hatte er begriffen, dass das hier nicht so lief, wie er sich das vorgestellt hatte.

„Du blöde frustrierte Trockenpflaume“, knurrte er und drängte sich an mich.
Mir kam die Galle hoch.
„Wollen wir doch mal sehen, ob Du wirklich nicht willst!“

Sicher, dass ich mich zwischen seiner Körpermasse und der Tür nicht bewegen konnte, ließ er meine Schultern los und begann an meiner Bluse zu zerren. Die Knöpfe sprangen ab wie Popcorn in einer Pfanne. Plöpp, plöpp, plöpp – der Ton, mit dem sie auf dem Boden aufprallten, brannte sich so deutlich in meinen Gehörgang, dass ich wusste, dass ich mich auch noch Jahre später daran erinnern würde. Er hatte Recht. Ich würde mich nicht von ihm losreißen können, dazu war er einfach zu stark. Der Glaseinsatz in der Tür hinter mir schepperte leise.

Die Tür! Siedend heiß fiel mir eine Möglichkeit ein, zumindest von ihm loszukommen, alles andere war erst mal egal. Ich tastete nach der Klinke in meinem Rücken und drückte sie hektisch nach unten, bereit, gleich etliche Schritte rückwärts zu taumeln.

Es gelang mir nur halb: Auch Fred wurde durch die Kraft, mit der er mich dort festhalten wollte, nach vorne gedrückt und stolperte, riss mich mit. Wir stürzten zu Boden, doch ich hatte die besseren Karten, schließlich war ich ja darauf eingestellt gewesen. Im Sturz hielt ich mich an einem der Stühle fest und rappelte mich schnell wieder auf. Ein wütendes Grunzen drang zu mir auf, ich sah nach unten und in blutunterlaufene, zornig blickende Augen. Er war fuchsteufelswild, und ich wusste, dass ich etwas unternehmen musste, bevor er wieder auf die Beine kam. Schnell griff ich nach dem Erstbesten, was mir in die Finger kam und schmetterte ihm den Messerblock auf den Kopf.

Völlig überrascht von meiner Aktion stöhnte er auf und sackte in sich zusammen. ‚Die Messer‘, dachte ich panisch und begann sie einzusammeln. Was, wenn er sich eines davon schnappte? Wo sollte ich sie verstecken? Warum nur waren wir in die verdammte Küche gestolpert? Unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf, verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg aus meiner Lage.

Wohnzimmer. Telefon. Polizei. Rauslaufen. Bei den Nachbarn klingeln.

Mir lief die Zeit davon, ich spürte das. Also begann ich mit dem ersten, was mir durch den Kopf geschossen war: Ich hetzte in das Wohnzimmer und griff nach dem Telefon.

Doch zu spät: Schon hörte ich sein wütendes Brüllen, hörte die schweren Schritte, mit denen er mir hinterherstapfte. Panisch blickte ich mich um. Der Balkon! Ich konnte mich dort verstecken, ganz sicher! Weiter ging die Hatz, nun riss ich die Balkontür auf, warf sie hinter mir wieder zu und versteckte mich in der kleinen Ecke, die gleich links neben dem Eingang lag.

Eigentlich war diese Nische völlig wertlos: Durch die Schräge wurde mehr Platz vergeudet als dass man dort hätte gut etwas unterstellen können. Aber ganz nah an der Wand war sie so hoch, dass ich mich dort aufrecht hinstellen konnte. Dass mir diese Meisterleistung an Fehlkonstruktion einmal zugutekommen würde, hätte ich nie in Leben vermutet. Nun aber schien sie die einzige Möglichkeit zu sein, dieses Ausbund an Jähzorn und Gewalt noch zu überrumpeln.

Zitternd stand ich da, in die Ecke gedrückt, presste das Handy und die Messer an mich. Die Messer? Jetzt fiel es mir auf: In der Panik hatte ich gar nicht wahrgenommen, dass ich sie noch immer in der Hand hielt. ‚Gut’, dachte ich, ‚dann kann er sie nicht verwenden.’ Vorsichtig legte ich sie auf den Boden, ganz behutsam, damit weder ein Geräusch noch eine unvermittelte Bewegung auf mich aufmerksam machen würde. Mein Herz raste, und ich realisierte, dass meine Hände schweißnass waren, trotz der kühlen Nachtzeit. Wieviel Zeit war nur schon vergangen? Ich hatte gedacht, dass sich das alles in Sekundenschnelle hätte abspielen müssen, aber war tatsächlich es schon dunkel. ‚Verrückte Gedanken‘, beschloss ich und nahm das größte Messer wieder an mich.

Sein Gewicht hatte etwas Tröstliches an sich.

„Alicia…“ Mich schauderte es. Der Klang seiner Stimme war so süßlich, so falsch, dass mir deutlich klar war, dass ich nichts Gutes von ihm zu erwarten hatte.

„Wo steckst Du denn? Komm schon, Kleines. Wir wollen uns doch wieder vertragen.“ Mir stellten sich die Nackenhaare auf, mein Magen brannte. Nein, Versöhnung hatte er nicht im Sinn, das hörte ich.
Was dort klang, war irrsinnige Mordlust.

Ich gebe zu: In diesem Moment packte mich dieses Verlangen ebenfalls. „Er oder ich“, das stand heute Abend eindeutig auf dem Spielplan, und ich dachte gar nicht daran, die Bühne ihm zu überlassen.

„Baby. Ich bekomme dich sowieso, und das weißt du auch. Komm raus und wir schauen, wie du dein Benehmen wieder gutmachen kannst.“

Diese Anzüglichkeit gab mir den Rest. Es ekelte mich so sehr, dass ich würgen musste, und im gleichen Moment, wo dieser erstickte Laut aus meiner Kehle drang, wusste ich, dass ich mich verraten hatte.
Verdammt.

Am ganzen Leib zitternd packte ich das Messer fester, biss die Zähne aufeinander und hob den  Arm.
‚Du hast nur diese eine Chance‘, dachte ich noch und raffte all meine Wut und Entschlossenheit zusammen.
Als er die Tür aufriss und auf den Balkon stürmte, warf ich mich ihm in den Rücken und stach mit aller Macht auf ihn ein. Der Aufprall Blut spritzte auf, seine Schreie gellten durch die Nacht, während ich verzweifelt versuchte, seinen Händen auszuweichen und das Messer wieder frei zu bekommen.
Ich verdrängte das Geräusch, mit dem es wieder aus dem Fleisch glitschte, keine Zeit für das Entsetzen, das in meinem Hinterkopf dabei aufschrie. Später, später, jetzt stand nur Überleben auf dem Plan. Noch einmal stieß ich zu, riss das Messer wieder los, stieß wieder zu, und nochmal, und nochmal, versank in einem blutigen Strudel, der meine Kontrolle mit sich riss und nur ein Tier zurückließ, das nicht mehr um sein Leben kämpfte sondern seinen Blutrausch ausleben musste.

Als ich wieder zu Verstand kam, saß ich in meiner Badewanne und die letzten roten Tropfen verschwanden gerade im Ausguss. Nina, meine Nachbarin, reichte mir ein Handtuch und schaute mich aufmerksam an. Ich starrte zurück, unfähig, mich zu bewegen. Unzählige Gedanken gingen mir durch den Kopf, aber keiner war wirklich greifbar.

Was war passiert? Warum saß ich in meiner Wanne? Und meine Nachbarin, wo kam die auf einmal her? Wo war die Polizei? Müsste nicht eine Beamtin hier sein und mich festnehmen, zumindest bewachen, während ich mich wusch?

Die letzten Fragen musste ich wohl irgendwie laut gestellt haben, denn Nina schüttelte den Kopf.

„Ich habe die Schreie gehört. Erst deine, dann seine. Herzchen, dein Balkon ist direkt neben meinem, ich habe mitbekommen, was sich da abspielte. Ich wartete ab, bis du aufhörtest ihn zu Hackfleisch zu verarbeiten und bin dann zu dir rüber geklettert.“

Immer noch sah ich sie ungläubig an. Nina. Meine Nachbarin, die so altbacken und häuslich rüberkam, dass ich sie jeden Sonntagmorgen auf den Knien zu Jehova betend vermutet hatte. Gerade diese Frau stand nun hier und überlegte kühlen Verstandes, was nun zu tun sei.

„Notwehr wird dir keiner abnehmen, da bin ich mir sicher. Unzurechnungsfähig werden sie dich einschätzen und dann gehst du wegen dieser Type in die Zwangsjacke.“ Abschätzend sah sie mich an und schüttelte wieder mit dem Kopf. „Nein, Polizei ist keine Option.“

Da ich mich immer noch nicht bewegte, hüllte sie mich in das Badetuch ein und half mir aus der Wanne.

„Die Leiche überlasse mir, das ist kein Problem. Du musst hier nur aufräumen und dich dumm stellen, wenn die Polizei sich hier umhört. Kriegst du das hin?“

„Warum machst du das?“, brachte ich heraus.

„Warum?“ Ein bitterer Zug huschte über ihr Gesicht und sie setzte sich auf den Wannenrand. Sie mich nicht an, als sie weitersprach.

„Es gab da diesen Mann, mit dem ich zusammen war. Er machte caritative Arbeit, organisierte Hilfen für kranke, alleinstehende Menschen, wurde von allen bewundert und verehrt, eine wahre Stütze der Gesellschaft.“

Der sanfte, ironische Ton änderte sich, ihre Stimme wurde hart. „ Er vergewaltigte meine Tochter und brachte sie um. Keiner glaubte mir, dass er es war, und doch stellte er mir immer wieder nach, rief mich mit unterdrückter Nummer an und erzählte mir, wie sie gelitten hatte. Wie sie nach ihrer Mutter geschrien hatte, dass sie im Glauben starb, dass ich sie verraten habe. Das ging so lange weiter, bis ich in eine andere Stadt zog, hierher.“

Sie sah auf und ich sah das Leid in ihrem Gesicht. Ein Leid, das mir gänzlich unbekannt war. Ein Leid, resultierend aus Terror und dem Verlust eines über alles geliebten Menschen.

„Gestern“, fuhr sie fort, „fand er mich wieder. Hier, vor der Haustür stand er, steckte etwas in deinen Briefkasten. Seine Augen leuchteten auf, als er mich sah.“

Der Widerwille stand in ihr Gesicht geschrieben, und ich spürte mit jeder Faser meines Herzens, dass sie die Wahrheit sprach.

„In dem Moment wusste ich, dass er vorhatte mich weiter zu quälen. ‚So sehen wir uns wieder‘, flüsterte er, in dem mir so gut bekannten Ton. Und er fragte: ‚Hast du gedacht, dass du zur Ruhe kommen kannst?‘ Ich drehte mich um und rannte ins Haus, unfähig, irgendetwas zu erwidern. Sein Lachen verfolgte mich bis in meine Wohnung.“

Sie hielt inne, blickte einen Moment lang abwesend, bevor sie die Schultern straffte und mich erneut ansah.

„Und heute hörte ich seine Stimme in Deiner Wohnung und die Schreie auf deinem Balkon.“

Sie lachte auf und es war kein fröhlicher Ton. „Zufälle“, sagte sie. „Geschichten, die das Leben schreibt.“

Die Kälte, die sich um meinen Brustkorb legte, ließ mich kaum atmen, und so nickte ich nur.

Es wird kalt auf dem Balkon, und ich beschließe, dass es Zeit wird, wieder zurück in die Wohnung zu gehen.
Ich werde hier nicht wohnen bleiben, das ist mir klar. Sobald ich die Eigentumswohnung verkauft habe, werde ich mir eine neue suchen. Bis dahin wird sich niemand mehr dafür interessieren, wer ich bin und was ich mache.
Auch nicht dieser Columbo-Verschnitt, der sich vorgenommen hat mich zu überführen.

Nina hielt damals Wort, und die sterblichen Reste von Fred verschwanden auf wundersame Art. Ich fragte nie nach, was damit passiert ist. Es reichte zu wissen, dass sie nicht mehr aufzufinden sein würden.
Ich putzte den Balkon und die Wohnung, schrubbte alles mehrfach ab, saugte die Wohnung durch, bis jeder Allergiker hier ein Erholungsheim für Atemkranke vermuten würde und sorgte dafür, dass nichts auf Freds einmalige Anwesenheit in dieser Wohnung hinwies.
Natürlich fragte die Polizei, ob ich ihn gesehen hatte. Der Krieg zwischen ihm und mir war überall bekannt. Ich stellte mich dumm, stellte Vermutungen an, ob seine Bekanntschaften nicht verdächtiger waren als ich, da ich ja nichts mit ihm zu tun haben wolle.
Beim letzten Mal, als der Kripo-Beamte mich wieder einmal versuchte in die Mangel zu nehmen, meinte ich nur: „Er reinigt und renoviert die Wohnung, die er völlig hat verkommen lassen und ist kurze Zeit später unauffindbar. Kann es nicht sein, dass er vielleicht selbst irgendetwas auf dem Kerbholz hat? Durchsuchen sie doch mal meine Eigentumswohnung auf Spuren, wer weiß, was Sie da finden?“
Der Sherlock Holmes für Arme ahnte, dass ich ablenken wollte. Aber sein Kollege fand den Hinweis ziemlich gut und bat mich um die Schlüssel zur Wohnung, die ich ihm nur zu gerne überließ. So waren sie von mir abgelenkt und ich konnte erst einmal durchatmen.

Der Anruf soeben stammte von Mister Möchtegern-Columbo. „Wir haben Videoaufnahmen von verschwundenen Mädchen gefunden.“, teilte er mir mit. „Scheinbar haben Sie mit Ihrer Vermutung recht gehabt.“ Dann entschuldigte er sich in aller Form bei mir für die Belästigungen und bedankte sich für meine bereitwillige Kooperation. Ganz höflich und freundlich, fast schon euphorisch.

Ich spielte mit, wiegelte fröhlich ab, säuselte etwas von Bürgerpflicht und dem Vorteil einer wachen Polizei.

Nur der letzte Satz, mit dem er sich verabschiedete, der macht mich immer noch stutzig. „Dann waren die unmenschlichen Schreie in der besagten Nacht wohl doch von sich paarenden Katzen.“ Dann lachte er, und ich hörte deutlich den feinen Unterton, der mir mitteilen sollte, dass er mir kein Wort glaubte.

Ich werde nicht bis zum Wochenende warten.

Gleich morgen kaufe ich ganz dicke, deckende Außenwandfarbe und streiche den Balkon.

In langweiligem Alltagsgrau.

Poesie und mehr

Im Schatten des Scheiterhaufens
bereitest Du ein feuriges Lager
Dir und Deiner glühend heiß begehrten Dame
bei dem die Decken nur verhüllen
und nicht wärmen.
Klammheimlich stahl sie sich aus ihrer Kemenate
den Schlüssel ihres Keuschheitsgürtels fest in ihrer Hand.
Die Hitze steigt allein durch Eure Nähe
und lässt im Schein des Feuers
unschuldig noch
die Wangen leicht erröten.

♪♪ Erna Schabulski bei ALDI an der Kasse
Erna Schabulski die Frau die find ich klasse ♪♪

Entnervt springe ich auf. Ich hatte doch ausdrücklich daum gebeten, nicht gestört zu werden, schließlich weiß er doch, wie schwer es ist, wahrhaft große Poesie zu schaffen. Energisch hämmere ich gegen die Tür und brülle hinaus: “Mach die Scheißmusik endlich leise, sonst komm ich dir da rein und dann ist Panhas am Schwenkmast!!!” Die Musik geht augenblicklich aus.
Na bitte.

Erhitzt seid Ihr, wie auch der Met
der sanft durch eure Kehlen rinnt.
Ihr müht vergeblich Euch
um Contenance,
die zarte Stirn der holden Maid
an Deine Schulter
sanft gelehnt.
Da!
Hoch aufgerichtet,
auf seines treuen Schlachtross‘ Rücken
stürmt er herbei, des Weibes Herr,
lässt Burggraben und Zugbrücke weit hinter sich!

♪♪Erna Schabulski bescheißt beim Wechselgeld
Erna Schabulski ist nich von dieser Welt ♪♪

Wutentbrannt stürme ich in das Zimmer. Er sitzt da, mit seinen Freunden, großkotzig noch, aber das wird ihm gleich vergehen, dafür sorge ich: “Du gottverdammter Scheißkerl, hängst hier mit deinen Kumpels ab! Geh lieber in dein Ein-Euro-Job malochen, sons meld ich dich bein Amt! Die warten da nur auf so faule Säcke wie dich! Und getz alle Mann raus hier, sons hol ich den Baseballschläger raus!” Super, wie die rennen können. Nachdem das Gerümpel endlich raus ist, kann ich ja wohl nun endlich in Ruhe mich meinem Werk widmen.

Schon ist er da,
und mit entsetzten Blicken
sind eure Leiber bald schon
schmerzhalft schnell getrennt.
Warum nur ist er hier?
Er sollte doch zurzeit verweilen
Getreuer Vasall, der er doch ist,
an des Königs Tafel,
und dessen Barden
neue Lobesliedern beklatschen?
Das derangierte Dekolleté
der scheinbar braven Maid
bezeugt ein gänzlich anderes Verhalten
als das, was ihr dem Ritter nun
zum Besten geben wollt.

“Maaaaamaaaaaaaaaa!!!!!!!!!!!!!! Die Schantalle hat mich getreten, die blöde Schlampe, dieeeeeeee!!!!!!!!!!!!!!”

Im Nu bin ich draußen, knall Schantalle eine fürs Treten und zerre meine Juliette an den Haaren nach oben. Zwei Watschen kriegt sie um die Ohren, eine fürs Petzen und eine für den unmöglichen Ausdruck.
“Und nu setzte dich da hin und hältst deine freche Klappe, und rühr dich nich vonnen Fleck, sons hat dein Arsch gleich Kirmes!”
Ha! Da sitzt sie nun, ganz kleinlaut. Von wegen draußen das Maul weit aufreißen, sowas geht überhaupt nicht, und schon gar nicht, wenn ich gerade schreibe.

Der Edelmann, in voller Rüstung,
zückt ohne Zagen nun sein Schwert
will ihr damit zu Leibe rücken.
Du stellst dich voller Todesmut
in diesen endgültigen Weg,
empfängst den Hieb,
der ihr war zugedacht.
Nun liegst du dort in ihren Armen
und unter ihren tränenbleichen Wangen
hauchst du dein letztes Leben aus,
voll Glück:
Sie hat dich doch geliebt.

So. Nun noch schnell “performed by Hertha Schmitz” drunter setzen und ab ins Forum damit. Damit stopfe ich allen Kritikern das Maul. Die Säcke. Von wegen, ich kanns nicht. Ha!
Und nun ein bisschen Musik zum Entspannen, und Juliette kann auch mal wieder raus, die Nachbarn haben ja mitbekommen, dass ich mich kümmer, und ihr sitzt der Denkzettel noch feste. So lehne ich mich zurück und schalte das Radio ein.

♪♪Erna Schabulski, die hat mir noch gefehlt♪♪