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Von Tapeten und Bällen

Still sein. Still wie ein Mäuschen. Oder besser doch nicht wie ein Mäuschen, denn Mäuse sind in Wohnungen nicht erwünscht. Lieber wie… die Tapete an der Wand, ja, genau! Die Tapete guckt man an und nimmt sie gar nicht mehr wahr, so speckig und alt wie sie schon ist. Die Wand kann zwar auch gehauen werden, oder getreten. Manche schreien auch die Wand an, aber die Tapete ist damit nicht gemeint, die nimmt niemand wahr.

Nele beschließt, dass sie ab sofort eine Tapete ist. Still und unbewegt hockt sie auf ihrem Bett und versucht, mit dem vergilbten Weiß hinter sich zu verschmelzen. Vielleicht würde sie dann nicht hören, wie Kai vor Schmerz brüllt. Vielleicht würde sie dann nicht das Keifen ihrer Mutter hören: „Harald, hör endlich auf damit!“ Vielleicht würde sie dann nicht das Aufjaulen hören, wenn Harald, der Freund ihrer Mutter, dieser „eine langt“, wie er das ausdrückt. Und vielleicht würde er sie dann übersehen, wenn er, weil er ja schon mal dabei ist, ein Exempel zu statuieren, in Neles Zimmer gestapft kommt, um auch ihr eine Tracht Prügel zu verabreichen.

Alles nur, weil Kai kein Toilettenpapier mehr bekommen hat. Und weil sie die letzte Rolle eingelegt und vergessen hatte, Bescheid zu geben. Und weil Harald eben… Harald ist.

Es war schon früher schlimm gewesen, erinnert sie sich. Seit Mama ihn kennenlernte und er bei ihnen einzog. Seither kann Nele keine Freundinnen mit nach Hause nehmen, welche besuchen oder mit ihnen telefonieren. Mittlerweile hat sie gar keine Freunde mehr.

Viel zu klein, zu dünn, ständig müde, weil sie wegen der ganzen Streitereien nachts nicht schlafen kann. Selten ist genug Geld für Essen da, für neue Kleidung eh nicht. Sie muss die abgetragenen Sachen von Kai tragen. Jungenklamotten. Und Kai „darf“ bei der Kleiderkammer vorsprechen, da bezahlt man nur ein, zwei Euro für einen Pulli oder eine Hose, wenn man nachweisen kann, dass man bedürftig ist. Die Sachen von Kai sind ihr zwar immer viel zu groß, aber das ist für Nele eher ein Grund zur Erleichterung, denn so sieht niemand die blauen Flecken, die sie manchmal davonträgt.

Schule, das bedeutet für Nele: Pause von Harald, Pause vor Mama, die Sicherheit, nur ausgelacht, aber nicht gehauen zu werden – und eine warme Mahlzeit. „Schulspeisung“ nennt man das. Für Nele und Kai gibt es das kostenlos, weil ihre Mutter Harzerin ist.  

In der Schule ist Nele eine Außenseiterin, eine von den Losern, aber das ist immer noch besser als das hier.

Seit der Ausgangssperre hocken nun vier Personen in einer Vierzimmerwohnung. Das Wohnzimmer belegt „er“ immer mit Beschlag. Hockt da herum, sieht fern und kommandiert von „seinem“ Sessel aus alle herum.  Verlangt „Fleisch auf dem Teller“, auch wenn dadurch alle anderen nur Nudeln und Sauce bekommen. Salat und Gemüse gibt es nur, wenn bei der Tafel nicht zu viele Leute anstehen.

Aber die Tafeln haben jetzt zu, genauso wie die Schule und Klopapier gibt es eben auch nicht mehr.

Dafür aber Prügel, und das nicht zu knapp.

Sie hört die Schritte, die durch den Flur auf ihr Zimmer zukommen und will sich zusammenrollen. Aber dann ist sie keine Tapete mehr, sondern ein Ball, den man treten darf. Der dann im hohen Bogen davonfliegt. In ihrem Fall nur nicht sehr weit und auch nicht ins Tor, nein. Wenn sie, der Nele-Ball, getreten wird, fliegt sie gegen den Tisch. Oder den Schrank. Oder gegen die Wand, wo sie dann Flecken hinterlässt. So wie „er“ auf ihr Flecken hinterlässt.

Also, nein. Nicht zusammenrollen. Verschmelzen, mit der Tapete. Und hoffen, dass sie davonfliegt, bevor er den Ball treten kann.

„Für manche Kinder ist Schule der einzige sichere Ort“

Susanna Krüger, Geschäftsführerin der Organisation „Save the Children“

Ich doch nicht!

Ich doch nicht.

Neh. Kann ja gar nicht sein.

Ich halte mich doch an die Regeln. Nicht rausgehen. Keine Umarmungen. Abstand halten. Hust- und Niesetikette und all der andere Mist. Mir kann also gar nichts passieren.

Und doch…

Seit heute morgen habe ich einen leichten Schnupfen. Nicht wirklich schlimm, nur eine Nasenhälfte, die andere ist noch völlig frei, wirklich! Und das Kratzen im Hals ist bestimmt nur Raucherhusten. Ich habe mich doch an alle Regeln gehalten, wie also könnte ich mich infiziert haben?

Okay, ich erinnere mich, dass ich in der letzten Woche in diesem Bus gesessen habe. Da musste ich Halteknöpfe drücken. Hatte ich mir danach die Hände gewaschen?

Und am Tag drauf, da war ich unterwegs, habe eingekauft. Da konnte ich nicht immer den Sicherheitsabstand einhalten. An der Kasse ist es viel zu eng dazu.

Ich sitze hier und wäge ab. Leichter Schnupfen. Halskratzen. Eine leichte Abgeschlagenheit. Alles Dinge, die mich nie daran gehindert hätten, meiner Arbeit nachzugehen. Und heute habe ich einen Termin. Einen, der mir sehr wichtig ist.

Soll ich abwarten, es darauf ankommen lassen? Vielleicht ist es ja gar nicht dieser unsägliche Virus.

Aber dann denke ich daran, was die Praxis, zu der ich gehe, anderen Menschen ermöglicht, auch für andere Menschen eine Art Ankerpunkt ist. Einer der letzten Orte, zu denen man hingehen kann, etwas Gutes für sich tun kann.

Und dann denke ich an meinen Coach, den ich morgen treffen sollte. Marja ist eine der Personen, die zu jenen gehören, die man als “gefährdet” betrachten sollte. Asthmakrank.

Wenn ich jetzt also nichts mache, einfach weitermache, als wäre dieser Schnupfen nur ein harmloser Schnupfen, könnte ich dafür verantwortlich sein, dass diese Praxis schließen muss und dass ein Mensch, den ich sehr schätze, an Covid erkrankt. Ich könnte im Bus, den ich heute nutzen müsste, noch weitere Menschen anstecken.

Seufzend greife ich zum Telefon, sage den Termin für heute ab. Dann rufe ich meinen Coach an. Und während wir reden, laufen mir auf einmal Tränen übers Gesicht, denn mit diesen Absagen verschwinden auch für mich zwei wichtige Ankerpunkte.

Ich fühle mich hilflos. Ja, ich weiß, was ich zu tun habe. Abwarten, die Symptome beobachten, mich beim Arzt wegen eines Tests melden. Doch wie soll ich dahin kommen? Und was, wenn ich schlimm erkranke? Was passiert dann mit meinem Sohn?

Was am meisten aber schmerzt, ist die Tatsache, dass ich mich mit diesen Anrufen der letzten Kontakte beraubt habe, die mir so wichtig sind. Stützen meines Alltags. Ankerpunkte, die ich so dringend brauche, um selbst einer sein zu können, für meinen Sohn.

Hier in unserer kleinen Zweisiedelei wird es erst einmal so weitergehen wie bisher, obwohl sich die Anzeichen einer sich auflösenden Tagesstruktur mehren. Die kleineren und größeren Probleme werden wir in den Griff bekommen, das ist kein Thema.

Doch in dem Moment, in dem ich nicht mehr sagen konnte: “Ich doch nicht”, hat sich etwas geändert. Es ist etwas verloren gegangen. Meine Unantastbarkeit. Diese Unbesiegbarkeit der Gesunden. Die Sicherheit, dass mir nie wirklich etwas Schlimmes passieren wird.

Das schafft Raum für Demut.

Jetzt halte ich wirklich inne.

Wenigstens für einen kurzen Moment.

Dann werde ich wohl ins Taschentuch schniefen, meine Hände waschen gehen und dafür sorgen, dass in unserem kleinen Reich die Fahnen hochgehalten werden.

Mama forscht

Kennt Ihr diese Tintenroller, bei denen man das Geschriebene wieder ausradieren kann?
Nicht mit dem Tintenkiller, nein: Man benutzt einfach den am Ende des Tintenrollers angebrachten Radierer und reibt damit über die Stelle, die man auslöschen will.

Eine fantastische Erfindung, dachte ich mir und holte gleich ein Megapack für mich und meinen Filius. Wir beide sind nicht immer sehr konzentriert bei der Sache, und dann schleichen sich immer wieder Fehler beim Schreiben ein.

Seit der Anschaffung dieser Tintenroller habe ich oft genug schon meine Fehler ganz elegant wieder verschwinden lassen. Der Vorteil gegenüber Tinte und Killer:

  • Nur ein Stift für Schreiben, Ausradieren und Überschreiben.
  • Keine Chemie (was besonders von den ökologisch bewussten Lehrerinnen geschätzt wird).
  • Kein Warten, bis die Flüssigkeit des Tintenkillers auf dem Blatt getrocknet ist.
  • Keine ausgefransten Buchstaben, wenn man doch mal zu kurz gewartet hat; statt dessen die strahlende Schönheit eines fehlerfreien, sauberen Textes.

Mein Sohn und ich sind uns also endlich einmal in einer Sache einig: Dieser Stift ist genial.

Nun steckt bekanntlich der Teufel im Detail, und ich bin ein sehr detailverliebter Mensch. Sprich: Ich hinterfrage nicht nur, wohin die Schmetterlinge verschwinden, wenn es regnet, sondern auch, warum man diese Tinte radieren kann. Eine erklärende Antwort darauf erhielt ich nie – bis gestern Nachmittag.

Es gibt eine Situation in unserem doch ziemlich friedlichen Zusammenlebens, in der mein Sohn und ich uns liebend gerne gegenseitig ertränken, vierteilen oder auf irgendeine andere sadistische Art und Weise ums Leben bringen würden: Hausaufgaben.

Nun geht der Junge dankenswerterweise auf eine Ganztagsschule, so dass sich die Aufgaben, die daheim gelöst werden müssen, weitestgehend auf die Korrektur von Klassenarbeiten und auf das Lernen von Vokabeln beschränken. Wie der Zufall es so wollte, stand gestern gleich beides auf dem Plan: Er musste zwei DinA4-Blätter Vokabeln schreiben und auswendig lernen und eine vierseitige Klassenarbeit in Mathematik korrigieren.

Mir war klar, ihm ebenfalls, dass das in einer Katastrophe enden musste. Wir hatten eh gerade einen sehr verletzlichen Burgfrieden geschlossen, weil ich ihm etliche seiner Handyspiele verboten hatte. USK 16 ist eben nicht für einen Elfjährigen gedacht, auch wenn diesem die Einsicht dafür fehlt. Mit Wut im Bauch und überhaupt keiner Lust zu arbeiten ging der junge Mann dann also ans Werk.

Es kam, wie es kommen musste: Er verschrieb sich ständig, radierte, wurde immer wütender und zerknüllte schließlich das fast fertige Blatt derart, dass es eigentlich nicht mehr zu gebrauchen war. Nun gebe ich zu: Gerade, was das Schreiben betrifft, werde ich schnell weich. Mein Sohn hat eine angeborene Handgelenkschwäche, die ihm große Schreibarbeiten schnell zur Qual werden lassen. Nach einem halben Blatt muss er bereits eine Pause einlegen, weil er nicht weiterschreiben kann. Da ich dieses Problem selbst habe und erst seit Erfindung des PCs größere Schreibmengen bewältigen kann, weiß ich, dass der kleine Racker nicht flunkert und kann sein Problem durchaus nachvollziehen.

Was also tun? Neu schreiben lassen? Das wäre vermutlich pädagogisch wertvoll, wenn es die Probleme mit dem Handgelenk nicht geben würde. Verzweifelt genug war der Junge eh schon, und ich spürte genau, dass wir an dem Punkt waren, an dem seine ganze Wut in ihrer Pracht und Herrlichkeit in einem zerstörerischen Anfall ausbrechen würde. Mein kleiner Hitzkopf hatte schon öfter einen solchen Anfall, und manchmal fielen seiner Wut auch Gegenstände zum Opfer, die ich dann im Anschluss reparieren musste.

Mir fiel ein, was ich in meiner Schulzeit gemacht hatte, wenn meine Hefte oder Blätter zu arg gelitten hatten. Also: Bügeleisen herausgeholt, Blatt zwischen ein Küchentuch gesteckt, mit dem heißen Eisen drüber gefahren – sollte klappen. Das Schlimmste, was mir hier mal passiert ist, war ein sehr dunkel gewordenes Blatt, das durch die Hitze derart brüchig geworden war, dass es auseinanderfiel.

Gut, dachte ich mir. Das sollte also eigentlich hinhauen, wenn ich das Blatt nur ganz kurz bügele.

Gesagt, getan. Nur war das Ergebnis nun überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte.

Ich hatte ja wirklich mit allem gerechnet: Mit vergilbtem Papier; damit, dass die Falten immer noch drin sind. Aber: Das Blatt war glatt und –

Weiß. Komplett Weiß. Alles Geschriebene weg, unsichtbar! So, als habe nie jemand etwas auf dieses Blatt geschrieben. Nur, wenn man das Blatt ein wenig im Licht hin und her drehte, konnte man erkennen, dass da mal was stand.

Bei “normaler Tinte” passiert das nicht, daher konnte ich nur davon ausgehen, dass es an der Thermotinte lag.

Das aber löste nun überhaupt nicht mein Problem, das ja eigentlich darin bestand, den Jungen zu entlasten und ihm nicht doch die Aufgabe neu schreiben zu lassen.

Seufzend setzte ich mich also an den Tisch und schrieb der Lehrerin einen Entschuldigungsbrief, in dem ich ihr das Problem erklärte.

Während ich schrieb, zählte ich Eins und Eins zusammen und kam endlich dahinter, wie diese speziellen Tintenroller funktionieren:

Da die Hitze die Tinte entfernt, wird die Hitze, die durch die Reibung während des “Radierens” entsteht, die Tinte löschen. Es ist also anders als beim üblichen Radiergummi und anders als bei der üblichen Tinte, die nur durch chemischen Einsatz verschwindet.

Auch das erklärte ich in diesem Entschuldigungsbrief und endete dann mit den Worten:

„Diesmal hieß es ausnahmsweise nicht „Jugend“, sondern „Mama forscht“.

Geburtstage und andere Quälereien

Ich hasse backen.

Ja wirklich: Während den meisten Frauen zu Recht eine gewisse Affinität hausfraulichen Tätigkeiten gegenüber unterstellt wird, begrenzt sich meine Lust zu backen auf gelegentliche weihnachtliche Backorgien mit meinen Kindern und auf die obligatorische Torte zum Geburtstag. Und diese Torte besteht aus einer Fertigpackung Tortenboden, Quark, Sahne, Zitrone und eine Packung Schaumküsse. Daraus lässt sich in kürzester Zeit eine schmackhafte Torte zusammenpanschen, die selbst Backignoranten wie mir gut gelingen.

Jetzt aber stecke ich wirklich in der Bredouille: Meine Jüngste hat sich in den Kopf gesetzt Ärztin zu werden. Entsprechend will sie eine Ärztinnentorte.

Eine Ärztinnentorte. Ich hasse Kinder.

Der Entwurf war schnell gemacht: Mintgrün solle sie sein, denn sie will nicht nur eine „normale“ Ärztin werden, nein. Sie will Chirurgin werden und mit diesen feingeschliffenen kleinen Messern an wehrlosen Menschen herumschnippeln. Obenauf soll ein Äskulapstab prangen. Wie bitte macht man mintgrüne Sahne?

„Du brauchst keine Sahne“, belehrt sie mich großzügig mit ihren fast acht Jahren, als ich, bei meinem hinterlistigen Versuch die Produktion dieser Peinlichkeit zu hintertreiben, darauf hinweise, dass ich mit Lebensmittelfarben nur grüne und keine mintgrüne Sahne herstellen kann. „Mach doch einfach einen Rührkuchen, den hab ich schon in der Kochgruppe in der Schule gemacht. Ist ganz einfach. Und dann kaufst du diese Marzipanmatten, die gibt es in allen Farben, Mama. In allen, wirklich allen Farben! Ich hab mich schon erkundigt.“

Na klasse. Rührkuchen. Das heißt, ich muss doch backen. Erwähnte ich schon, dass ich Kinder hasse?

Mein Göttergatte bricht vor Rührung fast in Tränen aus. Sein Goldstück will Ärztin werden! Diese Lamoryanzattacken häufen sich seit der Einschulungsfeier dieses kleinen Miststücks. „Sie ist schon so erwachsen“, schluchzt er abends ins Kissen. „Welches Kind weiß in diesem Alter schon so genau, was es werden will?“

„Wenn sie das schon so genau weiß, soll sie doch ausziehen und ihre blöde Torte selbst backen“, grummele ich leise vor mich hin. Leider war ich nicht so leise, dass ihm das entgangen wäre. Okay. Das bedeutet: Kein Sex heute Nacht. Und morgen vermutlich auch nicht. Und übermorgen. Wahrscheinlicher ist, dass ich bis zum Wochenende auf dem Sofa schlafen darf.

Ich sehe, wie er tief Luft holt und komme ihm zuvor, indem ich mir mein Kissen und meine Decke schnappe und ergeben ins Wohnzimmer auswandere.

Ja, bei uns ist das alles ein wenig anders. Seit der Geburt von Charlotte, sollte ich vermutlich noch anmerken.

Ich war ja schon immer diejenige, die arbeiten ging und sich nebenher noch um die wichtigen Dinge in unserer Familie kümmerte. Horst, mein Göttergatte, ist seines Zeichens freischaffender Künstler. Sprich: Immer dann, wenn es etwas zu tun gibt, überkommt ihn eine Inspiration und er muss arbeiten. Und ich arbeite im Schichtdienst in diesem bescheuerten Callcenter und kümmere mich in den anderen Zeiten um Kinder, Haushalt und was sonst noch so anfällt.

Natürlich fällt da immer eine Menge an; besonders, wenn man ein Haus mit fünf Kindern und einem Ehemann am Hals hat. Unter anderem zählt dazu die Ausrichtung von Kindergeburtstagen.

Jungs sind da ja einfacher. Man fährt in den Wald und macht irgendwelche Spielchen, bei denen sie sich austoben können. Bei schlechtem Wetter gibt es da noch Indoorspielplätze, Laserdomes, Kletterhallen, Schwimmen und so weiter. Torte? Wollen die gar nicht. Da reichen Chips, Cola und zum Abendessen Pizza oder Pommes.

Mit vier älteren Jungs und mir als Mutter hatte ich ja die Hoffnung, dass Charlotte eine kleine Wilde würde, die in die höchsten Baumwipfel klettert und als Herrscherin der Wälder die Elfen in den Krieg führt.

Aber weit gefehlt: Sie will Kleidchen tragen, mit Barbies spielen, besteht auf ihrer Hello-Kitty-Bettwäsche und verlangt Pyjamapartys oder Kostümfeste mit dem Thema entsprechenden Spielen, und mein Mann, der sich bei den Jungs nie für solche Dinge interessierte, stärkt ihr darin jedes Mal den Rücken.

Jetzt frage ich mich, was man auf einer Chirurginnenfeier für Kinderspiele spielen kann? Etwa:

Frösche sezieren: Die erste, die die Froschschenkel küchenfertig ausgelöst hat, bekommt ein Skalpell als Siegerpreis?

Oder

Anatomiepuzzle: Wir zerbrechen zwei Skelette und teilen die Kinder in Teams auf, die die Dinger wieder zusammensetzen müssen. Die Siegergruppe darf das Skelett dann dem anderen Team nachts ins Bett legen?

Mir würde ja

Rezepte für einen coolen Abend: Ich verschreibe jedem ein Schlafmittel und wecke sie nach der Frühstückszeit wieder auf.

vorschweben, aber das lehnte mein lieber Mann ebenfalls ab.

Gut, also werde ich seine Deckenfluter aus dem Atelier für diesen Abend enteignen und unser Esszimmer zum OP umfunktionieren.

Aber wen sollten wir operieren?

Daniels Ratte kommt mir in den Sinn. Ich finde sie ekelig, aber ein fünfzehnjähriger, zwischen Grunge und Emo schwankender Pubertierender würde das vermutlich als Willkür ansehen und etwas von Kindesmisshandlung schreien.

Komisch. Wenn es um klare Anweisungen und Grenzen geht, sind diese Kröten zu erwachsen um so etwas noch anerkennen zu wollen. Geht es hart auf hart, sind sie wieder Kinder.

Mein Ältester weiß die rettende Lösung. Auch er wollte einmal Arzt werden und hatte seinerzeit von einem Künstlerfreund meines Noch-Ehemannes (warten wir den Kindergeburtstag mal ab, dann sehen wir wegen der Ehe weiter!) eine Puppe mit herausnehmbaren Innereien geschenkt bekommen. Horst steuert noch einen Kinderarztkoffer bei und will bei seinem Schönheitschirurgen nachfragen, ob dieser ihm ein paar OP-Hauben und -Masken überlassen kann. Diese blauen Schürzen, die wir bei dem Oktoberfest auf Hannes Schule beim Kellnern trugen, machen das standesgemäße Chirurgenoutfit komplett.

Fehlt nur noch die Torte.

Aber: Auch da habe ich eine Lösung.

Mit einem Ehegatten, der sich einen Schönheitschirurg leisten kann, kann ich auch bei Feinkost Kelm ordern. Morgen rufe ich da an.

Eine Chirurgenfete.

Eigentlich sind sie ja süß, diese Gören.

torte

Klassentreffen

Es ist wieder einmal soweit: Klassentreffen.

Helga hat sich unglaublich viel Mühe gemacht: Zehn Jahre nach dem letzten Treffen sind viele Klassenkameraden umgezogen, haben sich scheiden lassen, neu geheiratet. Namen, Anschriften, all das hat sich geändert, und da natürlich niemand daran dachte, unsere selbsternannte Präsidentin des Festkomitees darüber zu informieren, sind etliche Einladungen wieder zurückgekommen.

Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie sich davon aufhalten ließe. Ein bisschen im Internet recherchieren, die Beziehungen zum Einwohnermeldeamt spielen lassen, andere Ehemalige nerven und ausfragen – und endlich hat sie alle erreicht. Der Termin ist so gelegt, dass eigentlich jeder zusagen kann: Genug Zeit zu planen und einen Abend freizuhalten hat sie klugerweise eingeräumt. Das Treffen findet in einer Pension statt, die moderate Preise bietet, weil Paul, der Inhaber der Pension, der Bruder von Erwin ist und Erwin unser Klassensprecher war. So können auch die, die weit weggezogen sind, ohne desaströse Ausgaben an dem Treffen teilnehmen. Die klassischen Ausreden waren damit bereits im Vorfeld ausgeräumt, so würden lediglich die nicht auftauchen, die immer fehlten.

Unzählige Mails mit Erinnerungen („Nicht vergessen: Am 23. Oktober ist es soweit! Du kommst doch ganz gewiss?“), Anweisungen („Bringt bitte alle das Jahrbuch mit und das T-Shirt mit den ganzen Unterschriften! Wir haben ein Spiel vorbereitet!“), Regeln („Die Partner bleiben bitte daheim, ebenso Kind, Hund, Katze, Maus, haha!“) und sonstigen für Helga so wichtigen Details sind vermutlich bei jedem von uns hereingeschneit; mindestens genauso viele Anrufe erreichten uns, und nein, Leute: Nicht rangehen ist bei einem Anruf von Helga keine Option. Dann folgen weitere Anrufe im Fünf-Minuten-Takt, so wie eine weitere Mailflut, in der um dringenden Rückruf gebeten wird.

Aber gut, alle zehn Jahre kann man mal so eine Zeit mitmachen. Letztendlich lassen wir das alles nun zum dritten Mal über uns ergehen, und es hat sich die beiden vorhergehenden Male gelohnt. Viele nette Gesichter, das Erstaunen auf allen Seiten, was aus uns geworden ist, gute Gespräche und viel Gelächter – auch über Helgas militärische Vorbereitungsweise – machen das locker wieder wett.

Natürlich gibt es auch Leute, die würde man am liebsten gar nicht mehr sehen.

Ludwig zum Beispiel hätte ich beim ersten Klassentreffen am liebsten nicht dabeigehabt. Die Erinnerung daran, dass er auf der Abschlussfeier mit mir Schluss gemacht hat um mit Karina aus der 10c zu knutschen, saß einfach noch wie ein bohrender Nagel in meinem Selbstbewusstsein. Als ich aber dann sah, was aus ihm geworden war, dankte ich allen Göttern und insbesondere Karina dafür, dass sie ihn auf Abwege geführt hatten:

Ich hatte ihn größer in Erinnerung. Größer, mit mehr Haaren auf dem Kopf. Wo waren seine wunderschönen Wuschellocken hin? Da war nur noch ein schütterer Rest, der mehr nach einem verzweifelten Versuch, Haare vorzutäuschen, aussah. Und dann diese Brille! Glasbausteine! Hatte der Mann noch nichts von Kontaktlinsen gehört? Ich muss heute noch grinsen, wenn ich daran denke, wie Andrea und ich zusammenstanden, kichernd zu ihm rüber starrten und all seine schrecklichen Veränderungen aufzählten, die uns auf den ersten Blick auffielen.

Als ich am Ende des Abends Andrea und Ludwig knutschenderweise im Auto sitzen sah, musste ich noch mehr lachen.

Im Jahr darauf traf es mich allerdings noch schlimmer. Ansgar war scheinbar für eine Weile zurück in Deutschland und beehrte uns deswegen mit seiner Anwesenheit. Ansgar war seinerzeit immer der Klassenbeste gewesen und wurde uns Verlierern als leuchtendes Beispiel vorgehalten, was er ganz offen und unheimlich genoss. Nach unserem Abschluss absolvierte er noch das Gymnasium und schloss dort mit Summa Cum Laude ab. Natürlich studierte er. Irgendwas mit Bio oder Chemie, oder mit beidem. Auf dem ersten Klassentreffen fehlte er, und Helga erzählte lang und breit mit dieser bedeutungsschwangeren Stimme, die andeuten sollte, dass nun etwas hochdramatisch Wichtiges ans Licht kommen würde, dass er nun ein Forschungsprojekt in den USA leiten und gerade in einer wichtigen Phase des Projekts stecken würde, was ihn leider daran hindere zum Treffen zu kommen.

Dafür war er dann bei dem zweiten Treffen dabei und sonnte sich in der Bewunderung aller, die ihm Respekt zollten für all das, was er von seinem Lebensstil in den USA erzählte. Seine Lieblingssätze waren: „Das kennt ihr hier natürlich nicht.“, und: „Habt ihr das hier nicht? Ach, ja….“

Dabei setzte er eine derart gönnerhafte Miene auf, dass ich ihm am liebsten sein Flugticket ins Maul gestopft und mit einem Tritt auf den Heimflug befördert hätte. Ohne Flugzeug. Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, auch allen, wirklich allen Leuten ein Gespräch aufzuzwingen, gleich ob man wollte oder nicht, und so stand er tatsächlich irgendwann auch bei uns.

Ich verdrehte die Augen und hörte gar nicht richtig zu, was er da zu erzählen hatte, aber das schien ihn gar nicht zu stören. Er erzählte und erzählte, bis ich mich höflich entschuldigte und in Richtung WC verschwand, um endlich meine Ruhe zu haben.

Nun, vermutlich wird er in diesem Jahr wieder zu beschäftigt sein, also freue ich mich tatsächlich wieder ein bisschen auf das Treffen.

„Hey, schön dass du da bist!“ Helga stürmt auf mich zu, kaum dass ich den Festraum betreten habe und fängt sofort an auf mich einzuschwatzen, als seien wir Busenfreundinnen. Oh Gott. Ich konnte Helga nie ausstehen, weil sie immer alles machen wollte, sich für jeden Mist am schnellsten und am lautesten gemeldet hatte. Ihre Noten waren grottenschlecht, aber die Lehrer mochten sie natürlich, weil sie immer so hilfsbereit war und hievten sie durch jedes Schuljahr. Jeden Sommer betete die halbe Klasse stumm darum, dass sie es ein einziges Mal nicht schaffen würde. „Bitte! Einmal nur! Eine Ehrenrunde schadet doch niemandem!“, bettelten wir bei der Zeugnisvergabe unsere vorhandenen oder eingebildeten Götter an; stumm, um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht. Und jedes Jahr entgleisten uns die Gesichtszüge, wenn sie dann stolz verkündete: „Versetzt in Klasse Xb!“

Wie dem auch sei, ich mied Helga während unserer Schulzeit wie Strickstrumpfhosen im Frühjahr. Auf der weiterführenden Schule galten Strickstrumpfhosen als gesellschaftlicher Tod. Helgas Gesellschaft war eher so, als wäre man an einem Pfahl im Meer angebunden, bei Ebbe bis zur Brust im Wasser, nicht wissend, ob Haie oder die Flut letztendlich für Deinen Tod sorgen würden. Bei strahlender Sonne betetest Du irgendwann um einen Hai, der dann aber sicherlich nicht auftauchen würde.

Und genau diese Helga hakt sich nun bei mir unter und erzählt mir strahlend, wie toll alles geworden sei und dass fast alle zugesagt hätten. Ich nicke abwesend und suche nach einem Grund, mich höflich bedauernd von ihr loseisen zu können, als der Name „Ansgar“ fällt.

„… stell dir vor, und gestern Abend rief er an und erzählte, dass er es doch noch schafft, und so ist er quasi unser Überraschungsgast des heutigen Abends!“ Helga fängt an zu kichern. Ein schulmädchenhaftes Gackern, das mich an jene Zeiten erinnert, in denen ich mit meinen Freundinnen auf Feten zusammengestanden und zu den Jungs rüber gestarrt habe. Aber okay, da waren wir 14 Jahre alt, nicht ein halbes Jahrhundert! Allerdings rückt diese Peinlichkeit in den Hintergrund, als ich ihre nächsten Worte wahrnehme:

„Ich dachte mir, dass ich euch nebeneinander setze. Ihr habt euch das letzte Mal so gut unterhalten, sagte Ansgar.“ Sie zwinkert mir auffällig zu und raunt dann auf derart vertrauliche Weise in mein Ohr, dass ich nicht weiß, was ich schlimmer finden soll: Ihren anzüglichen Ton oder der Inhalt dessen, was sie sagt. „Da geht noch was zwischen euch… Du bist doch immer noch Single, oder?“

Dem Himmel sei Dank wartet sie gar nicht auf meine Antwort sondern löst sich von mir und flattert zu dem nächsten bedauernswerten Gast, der gerade den Weg zu uns gefunden hat.

Ich lasse mich auf den nächsten freien Stuhl sinken und stöhne auf. Kurz überlege ich, ob ich nicht heimlich verschwinden soll, aber da steuert unsere Gastgeberin wieder auf mich zu, den Stargast im Schlepptau. Ansgar sieht mich erfreut an, und ich bemühe mich, zumindest höflich zu sein. Nachdem wir uns die Hände gereicht haben, will er gleich ein Gespräch mit mir anfangen. Ich aber drehe mich um und stürme auf Ludwig und Andrea zu, als seien sie die rettende Oase in der Wüste.

Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich noch, wie Helga der Mund offen stehen bleibt. Sie sucht offensichtlich nach passenden Worten, um die Situation noch zu retten, aber das ist mir egal. Soll sie doch mit ihm fertig werden.

Andrea und Ludwig schauen verkrampft lächelnd durch den Raum. Der Abstand zwischen ihnen und ihre Körperhaltung verrät mir, dass Helga auch hier die Zeichen missdeutet und die beiden Falschen zu einem Paar zusammengefügt hat: Die beiden sind kein Paar geworden, sondern haben nur die Nacht miteinander verbracht.Nun müssen sie schon zum zweiten Mal dafür büßen, dass sie die Finger nicht voneinander lassen konnten.

Beim zweiten Treffen hat Andrea mich an ihre Seite gezogen und mir das ganze Drama erzählt. Am Morgen danach sei sie durch eine keifende Stimme neben ihm aufgewacht und hätte den Schock ihres Lebens bekommen. Offenbar hatte Ludwig ihr verschwiegen, dass er noch bei seiner Mutter wohnte und diese die Angewohnheit hat, ihrem Söhnchen den Kaffee ans Bett zu bringen. Als Mutti nun ihren Ludwig mit einer Frau im Bett erwischte, brach wohl ihr Weltbild zusammen, und das Drama, das folgte, war laut meiner ehemaligen Banknachbarin filmreif: Andrea im Bett, zwischen ihr und ihren Kleidern die in Tränen aufgelöste Mutter; neben ihr ein ertappter Ludwig, der mit den beiden Damen völlig überfordert war. Kein Wunder, dass die beiden die Klassentreffen am liebsten in zwei verschiedenen Städten gefeiert hätten.

Heute revanchiere ich mich und klage Andrea mein Leid: Lautstark lasse ich mich über Helgas unglückliche Hand bei der Wahl der Tischnachbarn aus. Darüber, dass ich neben dem nervigen Streber sitzen muss, der doch eh nur wieder erzählt, was er drüben in den USA für tolle Sachen macht, die uns Hinterwäldlern noch überhaupt nicht bekannt seien. „Mir geht dieses herablassende Getue auf den Nerv. Der tut so, als seien wir bedauernswerte Höhlenmenschen, die Kultur für eine Zahnpasta halten!“

Kurz überlegen wir, ob wir für das Essen nicht die Plätze tauschen können. Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie uns diese Eigenmächtigkeit durchgehen lassen würde. „Oh nein, das geht auf gar keinen Fall!“, tönt sie entsetzt und schaut uns an wie ein getroffener Hund. Nicht umsonst habe ich doch alle so hingesetzt, darauf basiert doch später das ganze Spiel!“

Ich schließe kurz die Augen und überlege, ob ich sie oder mich umbringen soll. „Ich will nicht mit Mister USA-Angeber Ansgar spielen“, tönt es rebellisch durch meinen Kopf. Den schockierten Minen in meinem Umfeld entnehme ich, dass dieser Satz wohl nicht in meinem Kopf geblieben, sondern über meine Lippen hinaus durch den ganzen Raum geschallt ist.

Oh, Mann.

Sowas passiert immer nur mir. Millionen Menschen gehen zu Klassentreffen, haben einen langweiligen bis angenehmen Abend. Die Hälfte davon knutscht im Anschluss mit einem ehemaligen Klassenkameraden und geht fremd. Aber nur ein Mensch unter diesen Millionen von Menschen reißt die Klappe auf und düpiert den Ehrengast mit respektlosen, unfreundlichen Gedanken, die besser nie gesagt werden sollten.

Nun, jetzt sind sie aber raus, und alle stehen da und starren mich an. Wie die Salzsäuren, oder als hätte jemand die Zeit eingefroren.

Was nun?

Leugnen, dass ich das gesagt habe, kann ich nicht. Laut genug war es, das zeigen mir die Gesichter um mich herum.

„Das war nicht so gemeint“ sagen und lahm dabei lächeln? Peinlicher geht’s nicht mehr.

Außerdem habe ich es ja so gemeint, denke ich trotzig. Ich kann solche Menschen nicht ausstehen, die irgendwo hereinplatzen und von anderen Orten, Vereinen und was sonst auch immer schwärmen, die Anwesenden gönnerhaft darüber aufklären, wie zurückgeblieben sie sind und dass es doch woanders wesentlich klügere, bessere, kompetentere Menschen gäbe als dort, wo dieser Mensch es sich gerade eben bequem macht.

„Rot werden, eine Entschuldigung stammeln und flüchtend den Saal verlassen“, flüstert mir mein kleiner Feigling im Ohr zu, und fast wäre ich der Versuchung erlegen. Dann aber besinne ich mich. Wo soll ich denn hin? In mein Zimmer, bis morgen früh, damit ich niemandem mehr über den Weg laufe? Das ist fast so wie Stubenarrest. Und wenn ich zu alt zum Kichern bin, dann bin ich auch ganz sicher aus dem Alter für Stubenarrest hinaus.

Also denke ich mir: „Aufstehen, Krönchen richten, weitermachen“, recke das Kinn und lächele entwaffnend.

Die bewegen sich immer noch nicht. Und keiner sagt etwas. Ob ich mich noch bewegen kann? Ja klar, sonst hätte ich nicht das Kinn recken können. Eigentlich sieht dieser Mensch ja ganz nett aus, wenn er nur nicht so ein überheblicher Angeber wäre. Schweigen die jetzt schon Minuten lang oder kommt mir das nur so lang vor?

Ein Gedanke nach dem anderen jagt durch meinen Kopf, huscht durch die Ecken, wirbelt Staub auf und verschwindet wieder durch das Dachfenster. Soll ich es erklären, warum ich das gesagt habe?

Noch bevor ich diesen Gedanken weit von mir weisen kann, reißt ihn ein einsames schallendes Gelächter von mir fort. Ich starre entgeistert zu Andrea.

Aber nicht Andrea lacht, sondern Ansgar. Herzlich, ehrlich. Der ganze Mann lacht: Er hält sich den Bauch, die Schultern zucken, und mit weit zurückgeworfenem Kopf brüllt er sein lautes, angeberisches Amilachen heraus. Ich starre ihn an, als sei er verrückt geworden. Die anderen auch. Aber dann fallen sie zögernd mit in sein Lachen ein, überrascht und gleichzeitig erleichtert, weil mein Affront nicht den Abend zerstört hat.

Helga jedoch schaut fassungslos von einem zum anderen, den Tränen nahe, und begreift gar nichts.

Mir geht es nicht viel anders., auch wenn ich keinen Grund zum Weinen sehe. Gut, ich habe das nicht sagen wollen, aber er benimmt sich doch wirklich so. So völlig überheblich und unsensibel. Taktlos, ja taktlos, das ist das Wort, das mir fehlte, und während ich es in meinem Kopf ausprobiere, macht mein Bauch einen kleinen Hüpfer und sorgt gnadenlos dafür, dass ich schamrot werde. Denn letztendlich habe ich ihm gerade eben gezeigt, dass Taktlosigkeit nichts ist, was nur die Amis kennen. Das haben wir hier auch.

Ansgar hat sich soeben ein bisschen beruhigt und grinst mich über meinen ratlosen Blick hinweg an.

„Über sich selbst lachen können“, sagt er in einem höllisch breiten texanischen Akzent, den er mal so eben aus dem Hut zaubert. „Kennt Ihr das hier in Deutschland nicht? Ach, ja…“

Heimwärts

Die Leitung gekappt
nichts klappt.
So ist auch ganz klar:
Nichts war
Überhör’n uns im Lärm
ganz gern.
Wir schweigen uns an.
Was dann?

Die Gedanken um uns lassen uns nicht in uns ruh’n,
tragen ab, was bleibt, Schicht um Schicht.
Aus diesem Dunkel zeigt der Weg: Was ist zu tun?
Das Gefühl zieht alles ans Licht.

Ich werde nicht bleiben, nicht halten,
werde mich nicht an uns halten.
Mit Dir: Untergehen, im Nichtverstehen?
Lieber gehen!

Ich will zurück endlich nach Hause – keine Flucht,
lass mich los, trenn mich nun vom Wir.
Mein Herz tanzt kopflos im Rhythmus der Sehnsucht,
es will nur noch heimwärts, nicht zu Dir.

Die Leitung ist tot.
Das Boot
treibt auf hoher See
ich geh
ganz leise vom Kahn.
Nimm an,
dass in Deiner Welt
nichts zählt.

Deine Gefühle und Dein Wollen, auch Dein Sehnen
bringen uns nie mehr zu uns zurück.
Brennt auch Dein Schmerz wie ein Vulkan in Deinen Venen,
etwas fehlt bei Dir zum Gegenstück.

Ich werde nicht bleiben, nicht halten,
werde mich nicht an uns halten.
Mit Dir: Untergehen, im Nichtverstehen?
Lieber gehen!

Ich will zurück endlich nach Hause – keine Flucht,
lass mich los, trenn mich nun vom Wir.
Mein Herz tanzt kopflos im Rhythmus der Sehnsucht,
es will nur noch heimwärts, nicht zu Dir.

Renovierungen

Gerade eben habe ich den Hörer aufgelegt. ‘Wie höflich wir uns verabschiedet haben’, denke ich staunend und überlege, ob mir die Zeiten, in denen ich ihm eine Gürtelrose an den Hals gewünscht habe, nicht doch lieber waren. Jetzt gehen wir ja schon fast höflich miteinander um. So… nett.

Giftig schnappe ich mir meine Schachtel Zigaretten und stapfe auf den Balkon.

Ich mag nicht mehr rauchen. Eigentlich. Es stinkt, macht krank und leert den Geldbeutel.

In Momenten wie diesen zählen solche Argumente nicht.

Richtig affig war das Gespräch.

Schließlich hat er mich betrogen, und mir ist das nur aufgefallen, als auf die Sommerzeit umgestellt wurde und er vergaß, seine Uhr ebenfalls umzustellen. Freds blöde Selbstgefälligkeit, die ihn daran hinderte, sich eine Funkuhr zu kaufen, brach ihm das Genick.

Ich kam die klassische Stunde zu früh nach Hause, während er sein Schäferstündchen mit seiner Geliebten abhielt. Sie lag mit verbundenen Augen auf meiner Seite des Bettes – auf meiner Seite! – während er sie mit einer Pfauenfeder, die ich im vergangenen Sommer in einem Tierpark gefunden hatte, streichelte.

Meine Bettseite. Meine Pfauenfeder. Wohlmöglich waren das auch noch meine Dessous, die sie da trug? Damals hielt ich kurz inne und beschloss spontan, beide umzubringen, wenn sich das als wahr herausstellte. Aber nein, ein Blick auf die neongelben Schleifchen am Hüftgürtel belehrten mich eines Besseren. So einen widerlichen Kitsch hätte ich nie angezogen. Vermutlich würden sie unter ultraviolettem Licht auch noch leuchten.

Ich schüttele die Erinnerung ab und konzentriere mich auf meine Zigarette, blicke mich auf meinem Balkon um. Rostrote Flecken sind überall an den Wänden verteilt. In Gedanken notiere ich mir „Balkon renovieren“ auf meiner To-Do-Liste, die seit meinem Einzug in diese Wohnung immer länger wird.

Ich bin damals wortlos gegangen. Schreien, lamentieren, all das war mir völlig sinnlos vorgekommen. Sinnlos und vor allem würdelos.

Würde schien das Einzige zu sein, was ich in diesem Augenblick noch besaß, und das wollte ich unbedingt behalten.

Die folgenden Wochen wurden dann allerdings zu einem kleinen Rosenkrieg, auf den ich gerne verzichtet hätte.

Er rief mich an um zu erfahren, was ich mit der Wohnung vorhabe. Es war schließlich meine. Ich könne sie ihm ja vermieten. Das war der zweite Moment, in dem Mordgedanken ins Spiel kamen.
Meine Anwältin freute sich darüber, dass ich nicht daran festhielt und stattdessen sie mit einer Räumungsklage und dem Verkauf der Wohnung beauftragte.

‚Sollen die sich doch darum kümmern, dann muss ich mich nicht weiter mit diesem Kerl auseinandersetzen’, dachte ich mir und war davon überzeugt, dass ich nun meine Ruhe haben würde.

Nun, dem war nicht so.

Er feilschte um jeden Quadratzentimeter, um jeden Tag Wohnrecht. Führte ins Feld, dass wir eine eheähnliche Gemeinschaft geführt hätten, die ihm ein Wohnrecht und ein Recht auf einen Anteil einbrächte. Behauptete, er habe immer schon Miete bezahlt, habe Hausmeistertätigkeiten in der Wohnung geleistet, die ihm nun entlohnt werden müssten. Er entblödete sich nicht einmal, auf die Tränendrüse zu drücken und sich als potentiell obdachlos zu präsentieren, sollte ich ihm nicht noch einige Zeit in der Wohnung einräumen.

Kurz und gut: Ich hatte mir einen Mietnomaden eingefangen, der mit seiner neuen Freundin in meiner Wohnung hauste und alles verkommen ließ.

Die Briefe seines Anwaltes ließen mich in hysterische Lachanfälle ausbrechen. Von einer „Stütze der Gesellschaft“ war die Rede, der ohne einen festen Wohnsitz selbst der Hilfebedürftigkeit ausgesetzt würde und dann seinen sozialen Anteil an der Gesellschaft nicht mehr erbringen könne. Von meiner Hartherzigkeit, die unsere Entzweiung forciert habe und nun einen unbescholtenen Bürger in den Ruin stürzen würde. Sogar seine finanzielle Beteiligung an der Wohnung wurde unterstellt, dabei hatte dieser miese Betrüger nicht einen Cent investiert, nicht einen einzigen Cent!

Inzwischen erreichten mich Schreiben der Eigentümergemeinschaft, die mir ans Herz legten, meinen „Mieter“ aus der Wohnung zu entfernen, da die Lärmbelästigung genauso störend sei wie das unverschämte Verhalten seiner Gäste. Ebenfalls ginge aus den Räumen eine derartige Geruchsbelästigung hervor, dass ich damit rechnen müsse, dass entsprechende Maßnahmen getroffen würden, die dann zu meinen Lasten gingen.

All das war nicht mehr ertragbar: Ich setzte ihm die Pistole auf die Brust und drohte mit einer „Räumung auf russische Art“. Eine entsprechende Annonce hatte ich in einem Flyer gefunden, der eines Tages in meinem Briefkasten lag. Genüsslich rieb ich ihm unter die Nase, wie schnell das gehen würde, da ich ja als Eigentümerin jederzeit Zutritt zu dem hatte, was mal meine Wohnung gewesen war und nun mehr einer verdreckten Behausung in einer Mietkaserne unterstem Niveaus glich:

„Sie besuchen Dich, und wegen deines seltsamen Umgangs wird das niemandem weiter auffallen. Danach wird jeder glauben, dass du einfach abgehauen bist. Oh, keine Sorge. Deine Sachen und deine zwei Truhen, die du mitgebracht hast, deponieren sie direkt neben dir, da wo Du hingehörst. Auf dem Müll.“

Als hätte ich ein Zauberwort benutzt, änderte sich sein Verhalten. Meine ehemaligen Nachbarn berichteten mir, dass die Wohnung renoviert und geputzt würde. Die Freundin sei verschwunden und auch die Besuche der zwielichtigen Gestalten würden immer seltener.

Schließlich bekam ich einen Anruf. Ich habe Post in meinem Briefkasten, teilte Fred nur ganz kurz mit und legte dann auf.

Es war ein langer Brief; eine Bitte um Verzeihung reihte sich an die nächste. Das mit dieser Frau sei das Dümmste gewesen, was er hätte tun können. Er wolle alles wiedergutmachen. Er wolle sich mit mir aussprechen und all dieses andere unnütze Geschwätz, das nichts anderes bedeutete, als dass er endlich begriffen hatte, dass es mir fürchterlich ernst war. Am Ende besaß er noch die Frechheit und teilte mir mit, dass ich mich für den nächsten Abend nett zurechtmachen solle. Er würde mich abholen und zum Essen ausführen.

War ich vorher nur wütend, begann ich nun zu kochen. Ich schickte ihm eine Nachricht, dass ich auf keinen Fall mit ihm essen gehen wolle und dass er sich von mir fernzuhalten habe, doch wie schon erwartet interessierte ihn das nicht die Bohne.

Am nächsten Abend klingelte es an meiner Wohnungstür und dieser unverschämte Kerl stand dort: Breit lächelnd, mit einem Strauß Rosen in der Hand, den er mir fast ins Gesicht stieß.

„Für Dich“, betonte er noch unnötigerweise, drückte mir die Blumen in die Hand und drängte sich dann an mir vorbei in meine Wohnung.

„Raus hier“, sagte ich und warf die Blumen gleich auf den Flur. Er aber ging weiter in die Wohnung hinein, als gehöre er hierher, öffnete alle Türen und schaute sich die dahinterliegenden Zimmer an, ging ins Schlafzimmer ganz hinein und sah sich eindringlich darin um. Fassungslos beobachtete ich, wie er den Schrank öffnete und hineinsah, die Schubladen öffnete und in meiner Wäsche wühlte.

„Ich hab gesagt Du sollst verschwinden!“, wiederholte ich im schärferen Ton. Er grinste mich süffisant an, sagte keinen Ton, drückte sich an mir vorbei und begann damit, mein Bad zu untersuchen.

In diesem Moment nahm ich mir vor, mich nie wieder mit einem Mann einzulassen, der 30 Zentimeter größer und wesentlich stärker ist als ich. Zielstrebig lief ich in mein Wohnzimmer und nahm das Telefon von der Ladestation.

„Ich infomriere jetzt die Polizei“, rief ich zu ihm herüber und begann die Nummer zu wählen. Schnell war er bei mir, nahm mir das Telefon weg und beendete den Wahlvorgang, bevor ich überhaupt begriff, was da passierte.

„Schätzchen.“

Der Ton allein brachte mich so weit auf, dass mir die Worte fehlten, richtig sprachlos war ich. Ich, die sonst jedem Eskimo einen Gefrierschrank andrehen konnte, brachte keinen Ton heraus. Und er wertete das auch noch als Erfolg! Siegessicher sprach er weiter.

„Ich habe mich jetzt hier umgesehen. Kein neuer Mann? Kein Wunder. Du kriegst doch keinen Kerl mehr ab. Wer geht denn schon mit so einer nervigen, kontrollsüchtigen Emanze wie Dir freiwillig ins Bett? Das mache nur ich, Baby. Also hör mit dem Theater auf und komm wieder nach Hause. Ich nehme Dich wieder auf.“

Entgeistert starrte ich ihn an. Das konnte er nicht ernst meinen.

„Hast Du den Verstand verloren?“, brachte ich mühsam heraus. Dann aber, als habe mir dieser Satz mein Sprachvermögen zurückgegeben, riss ich mich von ihm los und drehte auf. „Du nimmst mich auf? Du verdammter Dreckskerl haust in meiner Wohnung, nicht in deiner! In! Meiner! Wohnung!“ brüllte ich ihn an. „Und das hier ist auch meine Wohnung, nicht Deine! Du hast hier nichts zu suchen!“

In zwei Schritten war ich an ihm vorbei und auf dem Flur. „Verzieh Dich!“ brüllend, stürmte ich in Richtung Wohnungstür und setzte noch „Verschwinde aus meinem Leben!“ nach.

Ich kam nicht weit. Natürlich holte er mich ein, zerrte mich ein Stück zurück. Ich wehrte mich verbissen, aber es half nichts. Er packte mich an den Schultern und drückte mich gegen die Flurwand. Ich spürte eine Türklinke in meinem Rücken. Das musste die Küchentür sein.

Irgendetwas zupfte zaghaft an meinem Verstand, aber gerade eben blieb nur Raum für die Angst vor Fred. Böse sah er mich an, offenbar hatte er begriffen, dass das hier nicht so lief, wie er sich das vorgestellt hatte.

„Du blöde frustrierte Trockenpflaume“, knurrte er und drängte sich an mich.
Mir kam die Galle hoch.
„Wollen wir doch mal sehen, ob Du wirklich nicht willst!“

Sicher, dass ich mich zwischen seiner Körpermasse und der Tür nicht bewegen konnte, ließ er meine Schultern los und begann an meiner Bluse zu zerren. Die Knöpfe sprangen ab wie Popcorn in einer Pfanne. Plöpp, plöpp, plöpp – der Ton, mit dem sie auf dem Boden aufprallten, brannte sich so deutlich in meinen Gehörgang, dass ich wusste, dass ich mich auch noch Jahre später daran erinnern würde. Er hatte Recht. Ich würde mich nicht von ihm losreißen können, dazu war er einfach zu stark. Der Glaseinsatz in der Tür hinter mir schepperte leise.

Die Tür! Siedend heiß fiel mir eine Möglichkeit ein, zumindest von ihm loszukommen, alles andere war erst mal egal. Ich tastete nach der Klinke in meinem Rücken und drückte sie hektisch nach unten, bereit, gleich etliche Schritte rückwärts zu taumeln.

Es gelang mir nur halb: Auch Fred wurde durch die Kraft, mit der er mich dort festhalten wollte, nach vorne gedrückt und stolperte, riss mich mit. Wir stürzten zu Boden, doch ich hatte die besseren Karten, schließlich war ich ja darauf eingestellt gewesen. Im Sturz hielt ich mich an einem der Stühle fest und rappelte mich schnell wieder auf. Ein wütendes Grunzen drang zu mir auf, ich sah nach unten und in blutunterlaufene, zornig blickende Augen. Er war fuchsteufelswild, und ich wusste, dass ich etwas unternehmen musste, bevor er wieder auf die Beine kam. Schnell griff ich nach dem Erstbesten, was mir in die Finger kam und schmetterte ihm den Messerblock auf den Kopf.

Völlig überrascht von meiner Aktion stöhnte er auf und sackte in sich zusammen. ‚Die Messer‘, dachte ich panisch und begann sie einzusammeln. Was, wenn er sich eines davon schnappte? Wo sollte ich sie verstecken? Warum nur waren wir in die verdammte Küche gestolpert? Unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf, verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg aus meiner Lage.

Wohnzimmer. Telefon. Polizei. Rauslaufen. Bei den Nachbarn klingeln.

Mir lief die Zeit davon, ich spürte das. Also begann ich mit dem ersten, was mir durch den Kopf geschossen war: Ich hetzte in das Wohnzimmer und griff nach dem Telefon.

Doch zu spät: Schon hörte ich sein wütendes Brüllen, hörte die schweren Schritte, mit denen er mir hinterherstapfte. Panisch blickte ich mich um. Der Balkon! Ich konnte mich dort verstecken, ganz sicher! Weiter ging die Hatz, nun riss ich die Balkontür auf, warf sie hinter mir wieder zu und versteckte mich in der kleinen Ecke, die gleich links neben dem Eingang lag.

Eigentlich war diese Nische völlig wertlos: Durch die Schräge wurde mehr Platz vergeudet als dass man dort hätte gut etwas unterstellen können. Aber ganz nah an der Wand war sie so hoch, dass ich mich dort aufrecht hinstellen konnte. Dass mir diese Meisterleistung an Fehlkonstruktion einmal zugutekommen würde, hätte ich nie in Leben vermutet. Nun aber schien sie die einzige Möglichkeit zu sein, dieses Ausbund an Jähzorn und Gewalt noch zu überrumpeln.

Zitternd stand ich da, in die Ecke gedrückt, presste das Handy und die Messer an mich. Die Messer? Jetzt fiel es mir auf: In der Panik hatte ich gar nicht wahrgenommen, dass ich sie noch immer in der Hand hielt. ‚Gut’, dachte ich, ‚dann kann er sie nicht verwenden.’ Vorsichtig legte ich sie auf den Boden, ganz behutsam, damit weder ein Geräusch noch eine unvermittelte Bewegung auf mich aufmerksam machen würde. Mein Herz raste, und ich realisierte, dass meine Hände schweißnass waren, trotz der kühlen Nachtzeit. Wieviel Zeit war nur schon vergangen? Ich hatte gedacht, dass sich das alles in Sekundenschnelle hätte abspielen müssen, aber war tatsächlich es schon dunkel. ‚Verrückte Gedanken‘, beschloss ich und nahm das größte Messer wieder an mich.

Sein Gewicht hatte etwas Tröstliches an sich.

„Alicia…“ Mich schauderte es. Der Klang seiner Stimme war so süßlich, so falsch, dass mir deutlich klar war, dass ich nichts Gutes von ihm zu erwarten hatte.

„Wo steckst Du denn? Komm schon, Kleines. Wir wollen uns doch wieder vertragen.“ Mir stellten sich die Nackenhaare auf, mein Magen brannte. Nein, Versöhnung hatte er nicht im Sinn, das hörte ich.
Was dort klang, war irrsinnige Mordlust.

Ich gebe zu: In diesem Moment packte mich dieses Verlangen ebenfalls. „Er oder ich“, das stand heute Abend eindeutig auf dem Spielplan, und ich dachte gar nicht daran, die Bühne ihm zu überlassen.

„Baby. Ich bekomme dich sowieso, und das weißt du auch. Komm raus und wir schauen, wie du dein Benehmen wieder gutmachen kannst.“

Diese Anzüglichkeit gab mir den Rest. Es ekelte mich so sehr, dass ich würgen musste, und im gleichen Moment, wo dieser erstickte Laut aus meiner Kehle drang, wusste ich, dass ich mich verraten hatte.
Verdammt.

Am ganzen Leib zitternd packte ich das Messer fester, biss die Zähne aufeinander und hob den  Arm.
‚Du hast nur diese eine Chance‘, dachte ich noch und raffte all meine Wut und Entschlossenheit zusammen.
Als er die Tür aufriss und auf den Balkon stürmte, warf ich mich ihm in den Rücken und stach mit aller Macht auf ihn ein. Der Aufprall Blut spritzte auf, seine Schreie gellten durch die Nacht, während ich verzweifelt versuchte, seinen Händen auszuweichen und das Messer wieder frei zu bekommen.
Ich verdrängte das Geräusch, mit dem es wieder aus dem Fleisch glitschte, keine Zeit für das Entsetzen, das in meinem Hinterkopf dabei aufschrie. Später, später, jetzt stand nur Überleben auf dem Plan. Noch einmal stieß ich zu, riss das Messer wieder los, stieß wieder zu, und nochmal, und nochmal, versank in einem blutigen Strudel, der meine Kontrolle mit sich riss und nur ein Tier zurückließ, das nicht mehr um sein Leben kämpfte sondern seinen Blutrausch ausleben musste.

Als ich wieder zu Verstand kam, saß ich in meiner Badewanne und die letzten roten Tropfen verschwanden gerade im Ausguss. Nina, meine Nachbarin, reichte mir ein Handtuch und schaute mich aufmerksam an. Ich starrte zurück, unfähig, mich zu bewegen. Unzählige Gedanken gingen mir durch den Kopf, aber keiner war wirklich greifbar.

Was war passiert? Warum saß ich in meiner Wanne? Und meine Nachbarin, wo kam die auf einmal her? Wo war die Polizei? Müsste nicht eine Beamtin hier sein und mich festnehmen, zumindest bewachen, während ich mich wusch?

Die letzten Fragen musste ich wohl irgendwie laut gestellt haben, denn Nina schüttelte den Kopf.

„Ich habe die Schreie gehört. Erst deine, dann seine. Herzchen, dein Balkon ist direkt neben meinem, ich habe mitbekommen, was sich da abspielte. Ich wartete ab, bis du aufhörtest ihn zu Hackfleisch zu verarbeiten und bin dann zu dir rüber geklettert.“

Immer noch sah ich sie ungläubig an. Nina. Meine Nachbarin, die so altbacken und häuslich rüberkam, dass ich sie jeden Sonntagmorgen auf den Knien zu Jehova betend vermutet hatte. Gerade diese Frau stand nun hier und überlegte kühlen Verstandes, was nun zu tun sei.

„Notwehr wird dir keiner abnehmen, da bin ich mir sicher. Unzurechnungsfähig werden sie dich einschätzen und dann gehst du wegen dieser Type in die Zwangsjacke.“ Abschätzend sah sie mich an und schüttelte wieder mit dem Kopf. „Nein, Polizei ist keine Option.“

Da ich mich immer noch nicht bewegte, hüllte sie mich in das Badetuch ein und half mir aus der Wanne.

„Die Leiche überlasse mir, das ist kein Problem. Du musst hier nur aufräumen und dich dumm stellen, wenn die Polizei sich hier umhört. Kriegst du das hin?“

„Warum machst du das?“, brachte ich heraus.

„Warum?“ Ein bitterer Zug huschte über ihr Gesicht und sie setzte sich auf den Wannenrand. Sie mich nicht an, als sie weitersprach.

„Es gab da diesen Mann, mit dem ich zusammen war. Er machte caritative Arbeit, organisierte Hilfen für kranke, alleinstehende Menschen, wurde von allen bewundert und verehrt, eine wahre Stütze der Gesellschaft.“

Der sanfte, ironische Ton änderte sich, ihre Stimme wurde hart. „ Er vergewaltigte meine Tochter und brachte sie um. Keiner glaubte mir, dass er es war, und doch stellte er mir immer wieder nach, rief mich mit unterdrückter Nummer an und erzählte mir, wie sie gelitten hatte. Wie sie nach ihrer Mutter geschrien hatte, dass sie im Glauben starb, dass ich sie verraten habe. Das ging so lange weiter, bis ich in eine andere Stadt zog, hierher.“

Sie sah auf und ich sah das Leid in ihrem Gesicht. Ein Leid, das mir gänzlich unbekannt war. Ein Leid, resultierend aus Terror und dem Verlust eines über alles geliebten Menschen.

„Gestern“, fuhr sie fort, „fand er mich wieder. Hier, vor der Haustür stand er, steckte etwas in deinen Briefkasten. Seine Augen leuchteten auf, als er mich sah.“

Der Widerwille stand in ihr Gesicht geschrieben, und ich spürte mit jeder Faser meines Herzens, dass sie die Wahrheit sprach.

„In dem Moment wusste ich, dass er vorhatte mich weiter zu quälen. ‚So sehen wir uns wieder‘, flüsterte er, in dem mir so gut bekannten Ton. Und er fragte: ‚Hast du gedacht, dass du zur Ruhe kommen kannst?‘ Ich drehte mich um und rannte ins Haus, unfähig, irgendetwas zu erwidern. Sein Lachen verfolgte mich bis in meine Wohnung.“

Sie hielt inne, blickte einen Moment lang abwesend, bevor sie die Schultern straffte und mich erneut ansah.

„Und heute hörte ich seine Stimme in Deiner Wohnung und die Schreie auf deinem Balkon.“

Sie lachte auf und es war kein fröhlicher Ton. „Zufälle“, sagte sie. „Geschichten, die das Leben schreibt.“

Die Kälte, die sich um meinen Brustkorb legte, ließ mich kaum atmen, und so nickte ich nur.

Es wird kalt auf dem Balkon, und ich beschließe, dass es Zeit wird, wieder zurück in die Wohnung zu gehen.
Ich werde hier nicht wohnen bleiben, das ist mir klar. Sobald ich die Eigentumswohnung verkauft habe, werde ich mir eine neue suchen. Bis dahin wird sich niemand mehr dafür interessieren, wer ich bin und was ich mache.
Auch nicht dieser Columbo-Verschnitt, der sich vorgenommen hat mich zu überführen.

Nina hielt damals Wort, und die sterblichen Reste von Fred verschwanden auf wundersame Art. Ich fragte nie nach, was damit passiert ist. Es reichte zu wissen, dass sie nicht mehr aufzufinden sein würden.
Ich putzte den Balkon und die Wohnung, schrubbte alles mehrfach ab, saugte die Wohnung durch, bis jeder Allergiker hier ein Erholungsheim für Atemkranke vermuten würde und sorgte dafür, dass nichts auf Freds einmalige Anwesenheit in dieser Wohnung hinwies.
Natürlich fragte die Polizei, ob ich ihn gesehen hatte. Der Krieg zwischen ihm und mir war überall bekannt. Ich stellte mich dumm, stellte Vermutungen an, ob seine Bekanntschaften nicht verdächtiger waren als ich, da ich ja nichts mit ihm zu tun haben wolle.
Beim letzten Mal, als der Kripo-Beamte mich wieder einmal versuchte in die Mangel zu nehmen, meinte ich nur: „Er reinigt und renoviert die Wohnung, die er völlig hat verkommen lassen und ist kurze Zeit später unauffindbar. Kann es nicht sein, dass er vielleicht selbst irgendetwas auf dem Kerbholz hat? Durchsuchen sie doch mal meine Eigentumswohnung auf Spuren, wer weiß, was Sie da finden?“
Der Sherlock Holmes für Arme ahnte, dass ich ablenken wollte. Aber sein Kollege fand den Hinweis ziemlich gut und bat mich um die Schlüssel zur Wohnung, die ich ihm nur zu gerne überließ. So waren sie von mir abgelenkt und ich konnte erst einmal durchatmen.

Der Anruf soeben stammte von Mister Möchtegern-Columbo. „Wir haben Videoaufnahmen von verschwundenen Mädchen gefunden.“, teilte er mir mit. „Scheinbar haben Sie mit Ihrer Vermutung recht gehabt.“ Dann entschuldigte er sich in aller Form bei mir für die Belästigungen und bedankte sich für meine bereitwillige Kooperation. Ganz höflich und freundlich, fast schon euphorisch.

Ich spielte mit, wiegelte fröhlich ab, säuselte etwas von Bürgerpflicht und dem Vorteil einer wachen Polizei.

Nur der letzte Satz, mit dem er sich verabschiedete, der macht mich immer noch stutzig. „Dann waren die unmenschlichen Schreie in der besagten Nacht wohl doch von sich paarenden Katzen.“ Dann lachte er, und ich hörte deutlich den feinen Unterton, der mir mitteilen sollte, dass er mir kein Wort glaubte.

Ich werde nicht bis zum Wochenende warten.

Gleich morgen kaufe ich ganz dicke, deckende Außenwandfarbe und streiche den Balkon.

In langweiligem Alltagsgrau.