Gerade eben habe ich den Hörer aufgelegt. ‘Wie höflich wir uns verabschiedet haben’, denke ich staunend und überlege, ob mir die Zeiten, in denen ich ihm eine Gürtelrose an den Hals gewünscht habe, nicht doch lieber waren. Jetzt gehen wir ja schon fast höflich miteinander um. So… nett.
Giftig schnappe ich mir meine Schachtel Zigaretten und stapfe auf den Balkon.
Ich mag nicht mehr rauchen. Eigentlich. Es stinkt, macht krank und leert den Geldbeutel.
In Momenten wie diesen zählen solche Argumente nicht.
Richtig affig war das Gespräch.
Schließlich hat er mich betrogen, und mir ist das nur aufgefallen, als auf die Sommerzeit umgestellt wurde und er vergaß, seine Uhr ebenfalls umzustellen. Freds blöde Selbstgefälligkeit, die ihn daran hinderte, sich eine Funkuhr zu kaufen, brach ihm das Genick.
Ich kam die klassische Stunde zu früh nach Hause, während er sein Schäferstündchen mit seiner Geliebten abhielt. Sie lag mit verbundenen Augen auf meiner Seite des Bettes – auf meiner Seite! – während er sie mit einer Pfauenfeder, die ich im vergangenen Sommer in einem Tierpark gefunden hatte, streichelte.
Meine Bettseite. Meine Pfauenfeder. Wohlmöglich waren das auch noch meine Dessous, die sie da trug? Damals hielt ich kurz inne und beschloss spontan, beide umzubringen, wenn sich das als wahr herausstellte. Aber nein, ein Blick auf die neongelben Schleifchen am Hüftgürtel belehrten mich eines Besseren. So einen widerlichen Kitsch hätte ich nie angezogen. Vermutlich würden sie unter ultraviolettem Licht auch noch leuchten.
Ich schüttele die Erinnerung ab und konzentriere mich auf meine Zigarette, blicke mich auf meinem Balkon um. Rostrote Flecken sind überall an den Wänden verteilt. In Gedanken notiere ich mir „Balkon renovieren“ auf meiner To-Do-Liste, die seit meinem Einzug in diese Wohnung immer länger wird.
Ich bin damals wortlos gegangen. Schreien, lamentieren, all das war mir völlig sinnlos vorgekommen. Sinnlos und vor allem würdelos.
Würde schien das Einzige zu sein, was ich in diesem Augenblick noch besaß, und das wollte ich unbedingt behalten.
Die folgenden Wochen wurden dann allerdings zu einem kleinen Rosenkrieg, auf den ich gerne verzichtet hätte.
Er rief mich an um zu erfahren, was ich mit der Wohnung vorhabe. Es war schließlich meine. Ich könne sie ihm ja vermieten. Das war der zweite Moment, in dem Mordgedanken ins Spiel kamen.
Meine Anwältin freute sich darüber, dass ich nicht daran festhielt und stattdessen sie mit einer Räumungsklage und dem Verkauf der Wohnung beauftragte.
‚Sollen die sich doch darum kümmern, dann muss ich mich nicht weiter mit diesem Kerl auseinandersetzen’, dachte ich mir und war davon überzeugt, dass ich nun meine Ruhe haben würde.
Nun, dem war nicht so.
Er feilschte um jeden Quadratzentimeter, um jeden Tag Wohnrecht. Führte ins Feld, dass wir eine eheähnliche Gemeinschaft geführt hätten, die ihm ein Wohnrecht und ein Recht auf einen Anteil einbrächte. Behauptete, er habe immer schon Miete bezahlt, habe Hausmeistertätigkeiten in der Wohnung geleistet, die ihm nun entlohnt werden müssten. Er entblödete sich nicht einmal, auf die Tränendrüse zu drücken und sich als potentiell obdachlos zu präsentieren, sollte ich ihm nicht noch einige Zeit in der Wohnung einräumen.
Kurz und gut: Ich hatte mir einen Mietnomaden eingefangen, der mit seiner neuen Freundin in meiner Wohnung hauste und alles verkommen ließ.
Die Briefe seines Anwaltes ließen mich in hysterische Lachanfälle ausbrechen. Von einer „Stütze der Gesellschaft“ war die Rede, der ohne einen festen Wohnsitz selbst der Hilfebedürftigkeit ausgesetzt würde und dann seinen sozialen Anteil an der Gesellschaft nicht mehr erbringen könne. Von meiner Hartherzigkeit, die unsere Entzweiung forciert habe und nun einen unbescholtenen Bürger in den Ruin stürzen würde. Sogar seine finanzielle Beteiligung an der Wohnung wurde unterstellt, dabei hatte dieser miese Betrüger nicht einen Cent investiert, nicht einen einzigen Cent!
Inzwischen erreichten mich Schreiben der Eigentümergemeinschaft, die mir ans Herz legten, meinen „Mieter“ aus der Wohnung zu entfernen, da die Lärmbelästigung genauso störend sei wie das unverschämte Verhalten seiner Gäste. Ebenfalls ginge aus den Räumen eine derartige Geruchsbelästigung hervor, dass ich damit rechnen müsse, dass entsprechende Maßnahmen getroffen würden, die dann zu meinen Lasten gingen.
All das war nicht mehr ertragbar: Ich setzte ihm die Pistole auf die Brust und drohte mit einer „Räumung auf russische Art“. Eine entsprechende Annonce hatte ich in einem Flyer gefunden, der eines Tages in meinem Briefkasten lag. Genüsslich rieb ich ihm unter die Nase, wie schnell das gehen würde, da ich ja als Eigentümerin jederzeit Zutritt zu dem hatte, was mal meine Wohnung gewesen war und nun mehr einer verdreckten Behausung in einer Mietkaserne unterstem Niveaus glich:
„Sie besuchen Dich, und wegen deines seltsamen Umgangs wird das niemandem weiter auffallen. Danach wird jeder glauben, dass du einfach abgehauen bist. Oh, keine Sorge. Deine Sachen und deine zwei Truhen, die du mitgebracht hast, deponieren sie direkt neben dir, da wo Du hingehörst. Auf dem Müll.“
Als hätte ich ein Zauberwort benutzt, änderte sich sein Verhalten. Meine ehemaligen Nachbarn berichteten mir, dass die Wohnung renoviert und geputzt würde. Die Freundin sei verschwunden und auch die Besuche der zwielichtigen Gestalten würden immer seltener.
Schließlich bekam ich einen Anruf. Ich habe Post in meinem Briefkasten, teilte Fred nur ganz kurz mit und legte dann auf.
Es war ein langer Brief; eine Bitte um Verzeihung reihte sich an die nächste. Das mit dieser Frau sei das Dümmste gewesen, was er hätte tun können. Er wolle alles wiedergutmachen. Er wolle sich mit mir aussprechen und all dieses andere unnütze Geschwätz, das nichts anderes bedeutete, als dass er endlich begriffen hatte, dass es mir fürchterlich ernst war. Am Ende besaß er noch die Frechheit und teilte mir mit, dass ich mich für den nächsten Abend nett zurechtmachen solle. Er würde mich abholen und zum Essen ausführen.
War ich vorher nur wütend, begann ich nun zu kochen. Ich schickte ihm eine Nachricht, dass ich auf keinen Fall mit ihm essen gehen wolle und dass er sich von mir fernzuhalten habe, doch wie schon erwartet interessierte ihn das nicht die Bohne.
Am nächsten Abend klingelte es an meiner Wohnungstür und dieser unverschämte Kerl stand dort: Breit lächelnd, mit einem Strauß Rosen in der Hand, den er mir fast ins Gesicht stieß.
„Für Dich“, betonte er noch unnötigerweise, drückte mir die Blumen in die Hand und drängte sich dann an mir vorbei in meine Wohnung.
„Raus hier“, sagte ich und warf die Blumen gleich auf den Flur. Er aber ging weiter in die Wohnung hinein, als gehöre er hierher, öffnete alle Türen und schaute sich die dahinterliegenden Zimmer an, ging ins Schlafzimmer ganz hinein und sah sich eindringlich darin um. Fassungslos beobachtete ich, wie er den Schrank öffnete und hineinsah, die Schubladen öffnete und in meiner Wäsche wühlte.
„Ich hab gesagt Du sollst verschwinden!“, wiederholte ich im schärferen Ton. Er grinste mich süffisant an, sagte keinen Ton, drückte sich an mir vorbei und begann damit, mein Bad zu untersuchen.
In diesem Moment nahm ich mir vor, mich nie wieder mit einem Mann einzulassen, der 30 Zentimeter größer und wesentlich stärker ist als ich. Zielstrebig lief ich in mein Wohnzimmer und nahm das Telefon von der Ladestation.
„Ich infomriere jetzt die Polizei“, rief ich zu ihm herüber und begann die Nummer zu wählen. Schnell war er bei mir, nahm mir das Telefon weg und beendete den Wahlvorgang, bevor ich überhaupt begriff, was da passierte.
„Schätzchen.“
Der Ton allein brachte mich so weit auf, dass mir die Worte fehlten, richtig sprachlos war ich. Ich, die sonst jedem Eskimo einen Gefrierschrank andrehen konnte, brachte keinen Ton heraus. Und er wertete das auch noch als Erfolg! Siegessicher sprach er weiter.
„Ich habe mich jetzt hier umgesehen. Kein neuer Mann? Kein Wunder. Du kriegst doch keinen Kerl mehr ab. Wer geht denn schon mit so einer nervigen, kontrollsüchtigen Emanze wie Dir freiwillig ins Bett? Das mache nur ich, Baby. Also hör mit dem Theater auf und komm wieder nach Hause. Ich nehme Dich wieder auf.“
Entgeistert starrte ich ihn an. Das konnte er nicht ernst meinen.
„Hast Du den Verstand verloren?“, brachte ich mühsam heraus. Dann aber, als habe mir dieser Satz mein Sprachvermögen zurückgegeben, riss ich mich von ihm los und drehte auf. „Du nimmst mich auf? Du verdammter Dreckskerl haust in meiner Wohnung, nicht in deiner! In! Meiner! Wohnung!“ brüllte ich ihn an. „Und das hier ist auch meine Wohnung, nicht Deine! Du hast hier nichts zu suchen!“
In zwei Schritten war ich an ihm vorbei und auf dem Flur. „Verzieh Dich!“ brüllend, stürmte ich in Richtung Wohnungstür und setzte noch „Verschwinde aus meinem Leben!“ nach.
Ich kam nicht weit. Natürlich holte er mich ein, zerrte mich ein Stück zurück. Ich wehrte mich verbissen, aber es half nichts. Er packte mich an den Schultern und drückte mich gegen die Flurwand. Ich spürte eine Türklinke in meinem Rücken. Das musste die Küchentür sein.
Irgendetwas zupfte zaghaft an meinem Verstand, aber gerade eben blieb nur Raum für die Angst vor Fred. Böse sah er mich an, offenbar hatte er begriffen, dass das hier nicht so lief, wie er sich das vorgestellt hatte.
„Du blöde frustrierte Trockenpflaume“, knurrte er und drängte sich an mich.
Mir kam die Galle hoch.
„Wollen wir doch mal sehen, ob Du wirklich nicht willst!“
Sicher, dass ich mich zwischen seiner Körpermasse und der Tür nicht bewegen konnte, ließ er meine Schultern los und begann an meiner Bluse zu zerren. Die Knöpfe sprangen ab wie Popcorn in einer Pfanne. Plöpp, plöpp, plöpp – der Ton, mit dem sie auf dem Boden aufprallten, brannte sich so deutlich in meinen Gehörgang, dass ich wusste, dass ich mich auch noch Jahre später daran erinnern würde. Er hatte Recht. Ich würde mich nicht von ihm losreißen können, dazu war er einfach zu stark. Der Glaseinsatz in der Tür hinter mir schepperte leise.
Die Tür! Siedend heiß fiel mir eine Möglichkeit ein, zumindest von ihm loszukommen, alles andere war erst mal egal. Ich tastete nach der Klinke in meinem Rücken und drückte sie hektisch nach unten, bereit, gleich etliche Schritte rückwärts zu taumeln.
Es gelang mir nur halb: Auch Fred wurde durch die Kraft, mit der er mich dort festhalten wollte, nach vorne gedrückt und stolperte, riss mich mit. Wir stürzten zu Boden, doch ich hatte die besseren Karten, schließlich war ich ja darauf eingestellt gewesen. Im Sturz hielt ich mich an einem der Stühle fest und rappelte mich schnell wieder auf. Ein wütendes Grunzen drang zu mir auf, ich sah nach unten und in blutunterlaufene, zornig blickende Augen. Er war fuchsteufelswild, und ich wusste, dass ich etwas unternehmen musste, bevor er wieder auf die Beine kam. Schnell griff ich nach dem Erstbesten, was mir in die Finger kam und schmetterte ihm den Messerblock auf den Kopf.
Völlig überrascht von meiner Aktion stöhnte er auf und sackte in sich zusammen. ‚Die Messer‘, dachte ich panisch und begann sie einzusammeln. Was, wenn er sich eines davon schnappte? Wo sollte ich sie verstecken? Warum nur waren wir in die verdammte Küche gestolpert? Unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf, verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg aus meiner Lage.
Wohnzimmer. Telefon. Polizei. Rauslaufen. Bei den Nachbarn klingeln.
Mir lief die Zeit davon, ich spürte das. Also begann ich mit dem ersten, was mir durch den Kopf geschossen war: Ich hetzte in das Wohnzimmer und griff nach dem Telefon.
Doch zu spät: Schon hörte ich sein wütendes Brüllen, hörte die schweren Schritte, mit denen er mir hinterherstapfte. Panisch blickte ich mich um. Der Balkon! Ich konnte mich dort verstecken, ganz sicher! Weiter ging die Hatz, nun riss ich die Balkontür auf, warf sie hinter mir wieder zu und versteckte mich in der kleinen Ecke, die gleich links neben dem Eingang lag.
Eigentlich war diese Nische völlig wertlos: Durch die Schräge wurde mehr Platz vergeudet als dass man dort hätte gut etwas unterstellen können. Aber ganz nah an der Wand war sie so hoch, dass ich mich dort aufrecht hinstellen konnte. Dass mir diese Meisterleistung an Fehlkonstruktion einmal zugutekommen würde, hätte ich nie in Leben vermutet. Nun aber schien sie die einzige Möglichkeit zu sein, dieses Ausbund an Jähzorn und Gewalt noch zu überrumpeln.
Zitternd stand ich da, in die Ecke gedrückt, presste das Handy und die Messer an mich. Die Messer? Jetzt fiel es mir auf: In der Panik hatte ich gar nicht wahrgenommen, dass ich sie noch immer in der Hand hielt. ‚Gut’, dachte ich, ‚dann kann er sie nicht verwenden.’ Vorsichtig legte ich sie auf den Boden, ganz behutsam, damit weder ein Geräusch noch eine unvermittelte Bewegung auf mich aufmerksam machen würde. Mein Herz raste, und ich realisierte, dass meine Hände schweißnass waren, trotz der kühlen Nachtzeit. Wieviel Zeit war nur schon vergangen? Ich hatte gedacht, dass sich das alles in Sekundenschnelle hätte abspielen müssen, aber war tatsächlich es schon dunkel. ‚Verrückte Gedanken‘, beschloss ich und nahm das größte Messer wieder an mich.
Sein Gewicht hatte etwas Tröstliches an sich.
„Alicia…“ Mich schauderte es. Der Klang seiner Stimme war so süßlich, so falsch, dass mir deutlich klar war, dass ich nichts Gutes von ihm zu erwarten hatte.
„Wo steckst Du denn? Komm schon, Kleines. Wir wollen uns doch wieder vertragen.“ Mir stellten sich die Nackenhaare auf, mein Magen brannte. Nein, Versöhnung hatte er nicht im Sinn, das hörte ich.
Was dort klang, war irrsinnige Mordlust.
Ich gebe zu: In diesem Moment packte mich dieses Verlangen ebenfalls. „Er oder ich“, das stand heute Abend eindeutig auf dem Spielplan, und ich dachte gar nicht daran, die Bühne ihm zu überlassen.
„Baby. Ich bekomme dich sowieso, und das weißt du auch. Komm raus und wir schauen, wie du dein Benehmen wieder gutmachen kannst.“
Diese Anzüglichkeit gab mir den Rest. Es ekelte mich so sehr, dass ich würgen musste, und im gleichen Moment, wo dieser erstickte Laut aus meiner Kehle drang, wusste ich, dass ich mich verraten hatte.
Verdammt.
Am ganzen Leib zitternd packte ich das Messer fester, biss die Zähne aufeinander und hob den Arm.
‚Du hast nur diese eine Chance‘, dachte ich noch und raffte all meine Wut und Entschlossenheit zusammen.
Als er die Tür aufriss und auf den Balkon stürmte, warf ich mich ihm in den Rücken und stach mit aller Macht auf ihn ein. Der Aufprall Blut spritzte auf, seine Schreie gellten durch die Nacht, während ich verzweifelt versuchte, seinen Händen auszuweichen und das Messer wieder frei zu bekommen.
Ich verdrängte das Geräusch, mit dem es wieder aus dem Fleisch glitschte, keine Zeit für das Entsetzen, das in meinem Hinterkopf dabei aufschrie. Später, später, jetzt stand nur Überleben auf dem Plan. Noch einmal stieß ich zu, riss das Messer wieder los, stieß wieder zu, und nochmal, und nochmal, versank in einem blutigen Strudel, der meine Kontrolle mit sich riss und nur ein Tier zurückließ, das nicht mehr um sein Leben kämpfte sondern seinen Blutrausch ausleben musste.
Als ich wieder zu Verstand kam, saß ich in meiner Badewanne und die letzten roten Tropfen verschwanden gerade im Ausguss. Nina, meine Nachbarin, reichte mir ein Handtuch und schaute mich aufmerksam an. Ich starrte zurück, unfähig, mich zu bewegen. Unzählige Gedanken gingen mir durch den Kopf, aber keiner war wirklich greifbar.
Was war passiert? Warum saß ich in meiner Wanne? Und meine Nachbarin, wo kam die auf einmal her? Wo war die Polizei? Müsste nicht eine Beamtin hier sein und mich festnehmen, zumindest bewachen, während ich mich wusch?
Die letzten Fragen musste ich wohl irgendwie laut gestellt haben, denn Nina schüttelte den Kopf.
„Ich habe die Schreie gehört. Erst deine, dann seine. Herzchen, dein Balkon ist direkt neben meinem, ich habe mitbekommen, was sich da abspielte. Ich wartete ab, bis du aufhörtest ihn zu Hackfleisch zu verarbeiten und bin dann zu dir rüber geklettert.“
Immer noch sah ich sie ungläubig an. Nina. Meine Nachbarin, die so altbacken und häuslich rüberkam, dass ich sie jeden Sonntagmorgen auf den Knien zu Jehova betend vermutet hatte. Gerade diese Frau stand nun hier und überlegte kühlen Verstandes, was nun zu tun sei.
„Notwehr wird dir keiner abnehmen, da bin ich mir sicher. Unzurechnungsfähig werden sie dich einschätzen und dann gehst du wegen dieser Type in die Zwangsjacke.“ Abschätzend sah sie mich an und schüttelte wieder mit dem Kopf. „Nein, Polizei ist keine Option.“
Da ich mich immer noch nicht bewegte, hüllte sie mich in das Badetuch ein und half mir aus der Wanne.
„Die Leiche überlasse mir, das ist kein Problem. Du musst hier nur aufräumen und dich dumm stellen, wenn die Polizei sich hier umhört. Kriegst du das hin?“
„Warum machst du das?“, brachte ich heraus.
„Warum?“ Ein bitterer Zug huschte über ihr Gesicht und sie setzte sich auf den Wannenrand. Sie mich nicht an, als sie weitersprach.
„Es gab da diesen Mann, mit dem ich zusammen war. Er machte caritative Arbeit, organisierte Hilfen für kranke, alleinstehende Menschen, wurde von allen bewundert und verehrt, eine wahre Stütze der Gesellschaft.“
Der sanfte, ironische Ton änderte sich, ihre Stimme wurde hart. „ Er vergewaltigte meine Tochter und brachte sie um. Keiner glaubte mir, dass er es war, und doch stellte er mir immer wieder nach, rief mich mit unterdrückter Nummer an und erzählte mir, wie sie gelitten hatte. Wie sie nach ihrer Mutter geschrien hatte, dass sie im Glauben starb, dass ich sie verraten habe. Das ging so lange weiter, bis ich in eine andere Stadt zog, hierher.“
Sie sah auf und ich sah das Leid in ihrem Gesicht. Ein Leid, das mir gänzlich unbekannt war. Ein Leid, resultierend aus Terror und dem Verlust eines über alles geliebten Menschen.
„Gestern“, fuhr sie fort, „fand er mich wieder. Hier, vor der Haustür stand er, steckte etwas in deinen Briefkasten. Seine Augen leuchteten auf, als er mich sah.“
Der Widerwille stand in ihr Gesicht geschrieben, und ich spürte mit jeder Faser meines Herzens, dass sie die Wahrheit sprach.
„In dem Moment wusste ich, dass er vorhatte mich weiter zu quälen. ‚So sehen wir uns wieder‘, flüsterte er, in dem mir so gut bekannten Ton. Und er fragte: ‚Hast du gedacht, dass du zur Ruhe kommen kannst?‘ Ich drehte mich um und rannte ins Haus, unfähig, irgendetwas zu erwidern. Sein Lachen verfolgte mich bis in meine Wohnung.“
Sie hielt inne, blickte einen Moment lang abwesend, bevor sie die Schultern straffte und mich erneut ansah.
„Und heute hörte ich seine Stimme in Deiner Wohnung und die Schreie auf deinem Balkon.“
Sie lachte auf und es war kein fröhlicher Ton. „Zufälle“, sagte sie. „Geschichten, die das Leben schreibt.“
Die Kälte, die sich um meinen Brustkorb legte, ließ mich kaum atmen, und so nickte ich nur.
Es wird kalt auf dem Balkon, und ich beschließe, dass es Zeit wird, wieder zurück in die Wohnung zu gehen.
Ich werde hier nicht wohnen bleiben, das ist mir klar. Sobald ich die Eigentumswohnung verkauft habe, werde ich mir eine neue suchen. Bis dahin wird sich niemand mehr dafür interessieren, wer ich bin und was ich mache.
Auch nicht dieser Columbo-Verschnitt, der sich vorgenommen hat mich zu überführen.
Nina hielt damals Wort, und die sterblichen Reste von Fred verschwanden auf wundersame Art. Ich fragte nie nach, was damit passiert ist. Es reichte zu wissen, dass sie nicht mehr aufzufinden sein würden.
Ich putzte den Balkon und die Wohnung, schrubbte alles mehrfach ab, saugte die Wohnung durch, bis jeder Allergiker hier ein Erholungsheim für Atemkranke vermuten würde und sorgte dafür, dass nichts auf Freds einmalige Anwesenheit in dieser Wohnung hinwies.
Natürlich fragte die Polizei, ob ich ihn gesehen hatte. Der Krieg zwischen ihm und mir war überall bekannt. Ich stellte mich dumm, stellte Vermutungen an, ob seine Bekanntschaften nicht verdächtiger waren als ich, da ich ja nichts mit ihm zu tun haben wolle.
Beim letzten Mal, als der Kripo-Beamte mich wieder einmal versuchte in die Mangel zu nehmen, meinte ich nur: „Er reinigt und renoviert die Wohnung, die er völlig hat verkommen lassen und ist kurze Zeit später unauffindbar. Kann es nicht sein, dass er vielleicht selbst irgendetwas auf dem Kerbholz hat? Durchsuchen sie doch mal meine Eigentumswohnung auf Spuren, wer weiß, was Sie da finden?“
Der Sherlock Holmes für Arme ahnte, dass ich ablenken wollte. Aber sein Kollege fand den Hinweis ziemlich gut und bat mich um die Schlüssel zur Wohnung, die ich ihm nur zu gerne überließ. So waren sie von mir abgelenkt und ich konnte erst einmal durchatmen.
Der Anruf soeben stammte von Mister Möchtegern-Columbo. „Wir haben Videoaufnahmen von verschwundenen Mädchen gefunden.“, teilte er mir mit. „Scheinbar haben Sie mit Ihrer Vermutung recht gehabt.“ Dann entschuldigte er sich in aller Form bei mir für die Belästigungen und bedankte sich für meine bereitwillige Kooperation. Ganz höflich und freundlich, fast schon euphorisch.
Ich spielte mit, wiegelte fröhlich ab, säuselte etwas von Bürgerpflicht und dem Vorteil einer wachen Polizei.
Nur der letzte Satz, mit dem er sich verabschiedete, der macht mich immer noch stutzig. „Dann waren die unmenschlichen Schreie in der besagten Nacht wohl doch von sich paarenden Katzen.“ Dann lachte er, und ich hörte deutlich den feinen Unterton, der mir mitteilen sollte, dass er mir kein Wort glaubte.
Ich werde nicht bis zum Wochenende warten.
Gleich morgen kaufe ich ganz dicke, deckende Außenwandfarbe und streiche den Balkon.
In langweiligem Alltagsgrau.