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Eine kleine Truhe für einen Riesenschatz

Zufrieden trat er einige Schritte zurück und betrachtete sein Tagewerk.
Die Truhe würde sich sicherlich gut an dem dafür vorgesehenen Platz machen. Es war eine Menge Zeit und Schweiß in sie geflossen, aber die Arbeit hatte sich gelohnt. Die Hensons würden begeistert sein, das Entgelt für diesen Auftrag würde die Schuhe für sein Mädchen sichern und noch so einiges mehr.
Jamie strich über die glatte Holzoberfläche, ein wenig stolz und zugleich prüfend, ob da nicht doch noch ein paar Unebenheiten im Holz für Absplitterungen sorgen könnten. Er lieferte gerne perfekte Arbeit ab, das und die Kunstfertigkeit seiner Möbel begann, ihm einen guten Ruf in der Gegend zu sichern und die Aufträge mehrten sich. Bald schon würde sein Einkommen reichen und Anne müsste sich nicht mehr als Erntehelferin und Dienstmagd verdingen.
Sie tanzte so gerne. Elfengleich schwebte sie über den Boden, malte mit ihren Armen und Händen wunderschöne Luftgebilde, und er liebte es, sie dabei zu betrachten. Die schwere Arbeit allerdings ließ sie immer müder werden, das Tanzen wurde weniger, und er fürchtete, dass sie eines Tages ganz damit aufhören würde.
Er war kein Mann großer Worte, die Schönrednerei überließ er anderen. Doch war er immer noch dankbar, dass Annes Vater sich durchgesetzt hatte und all die Schönlinge und Tagträumer von Anne abwehrte und sie ihm zur Frau gab. Lange danach noch hatte er um ihre Liebe kämpfen müssen, aber seine Treue und Zuverlässigkeit hatte sich durchgesetzt. Während sie mit ansehen musste, wie ihre Freundinnen von den begehrten Männern betrogen oder in den finanziellen Ruin gestürzt wurden, hatte er an ihrer Zukunft gebaut, war stets an ihrer Seite gewesen, ruhig, bedächtig, immer für sie da. Aus Ablehnung wurde Respekt, dann eine gewisse Art des Schätzens, fast Sympathie, sagte sie scherzhaft. Und eines Abends dann offenbarte sie ihm, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. An diesem Abend übermannte ihn das erste Mal eine Heftigkeit, die ihn selbst erschreckte, und nur mit Mühe hielt er seine Kräfte im Zaum, sonst hätte er sie sicherlich in seiner Umarmung erdrückt.
Nun endlich begannen seine Bemühungen auch wirtschaftlich ihre Früchte zu tragen und er fand, dass es an der Zeit war, ihr ein Geschenk zu machen. Eine Art Symbol seiner Liebe zu ihr. Es sollte etwas sein, das nur ihr gehören würde, nichts Praktisches oder für den Haushalt verwendbares, und er wollte es selbst für sie anfertigen.
Sein Blick fiel auf die Bretter, die übrig waren vom Truhenbau. Sie hatten die Breite einer Daumesdicke, waren also auf jeden Fall zu breit für sein Vorhaben. Die Hälfte dürfte ausreichen, und so setzte er seine Säge an, schnitt das Holz in die vorgesehenen Teile und halbierte dann die Teilstücke der Länge nach. Dies war keine leichte Arbeit, wollte man vom Ergebnis her eine ebene Fläche erzielen, und so verbat er sich jede Ablenkung und konzentrierte sich ganz auf das Hin- und herziehen der Säge, fühlte wenn sie begann sich zu verkanten und achtete mit seinen Argusaugen darauf, dass er nicht schief schnitt. Stück für Stück arbeitete er sich durch und ließ sich sehr viel Zeit dabei, schließlich war gerade dieser Arbeitsschritt ausschlaggebend für den Erfolg der ganzen Anstrengung.
Beim anschließenden Feinschliff hatte er hinreichend Muße, seine Gedanken wieder aufzunehmen und er rief sich in Erinnerung, welche schönen und freudevollen Momente Anne ihm in den ganzen acht Jahren ihrer Ehe bereitet hatte. Selbst als sie sich ihrer Liebe zu ihm noch nicht bewusst gewesen war, hatte sie ihn mit ihrem Lächeln verzaubert, mit ihrer Tatkraft und einer absoluten Loyalität zu ihm beeindruckt. Immer war er sich sicher gewesen, dass er die richtige Wahl getroffen hatte, selbst als sie ihm vor der Trauung böse Worte an den Kopf geworfen hatte. Ihre Zukunft würde er zerstören, hatte sie ihn angeschrien, und Jamie war froh, dass niemand in der Nähe war und diese unglaubliche Verwandlung der braven, züchtigen und duldsamen Tochter zu einer temperamentvollen Megäre mit ansah. Niemand außer ihm. Und er lächelte in Gedanken daran, dass ihre Worte ihn zwar trafen, aber doch noch einmal bestätigten, dass er nicht falsch lag mit ihr. Eine kleine graue Maus, die ihren Mund nicht aufmachte? Das war nie sein Ziel gewesen.
Versonnen ließ er das Schleifpapier sinken und dachte an die vielen Streitgespräche, die sie seither geführt hatten. Auf den Mund gefallen war sie nicht, oh nein. Jamie hörte sich immer an, was sie zu sagen hatte. Und dann brachte er in seiner ruhigen Art seine Gegenargumente vor. Konnte sie diese entkräften, entschied er auch in ihrem Sinne. Gelang ihr dies nicht, galt sein Wort.
Mit der Zeit wurde ihr klar, dass er mehr auf sie hörte als auch nur einer dieser eitlen Pfauen es jemals getan hätte. Das war der Moment gewesen, als sie anfing ihren Gatten mit anderen Augen zu betrachten.
Kopfschüttelnd wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Holzstücken zu, die nun mittlerweile glattgeschliffen vor ihm lagen. Heute noch zweifelte er manchmal, ob sie nicht recht gehabt hatte, ob sie es nicht bei einem anderen Mann besser getroffen hätte. Bei einem, der ihr ein gutsituiertes Heim und eine gehobene gesellschaftliche Stellung hätte bieten können. Sie hätte auf Gesellschaften glänzen, auf Festen tanzen und in Salons ihren Interessen nachgehen können.
Ein Arzt und eine Hebamme wären bei der Geburt ihrer Tochter zugegen gewesen und sie hätte anschließend genug Ruhe und Pflege genießen können um sich von den Strapazen zu erholen. So musste sie gleich am darauffolgenden Tag wieder aufstehen, den Haushalt führen und bei der Ernte der Nachbarn helfen, das Kind in einem Tuch auf den Rücken gebunden.
Jamie schämte sich immer noch zutiefst, dass er ihr noch nicht einmal da hatte beistehen können, weil er selbst bei einem Hausbau drei Orte weiter helfen musste. Erst bei seiner Rückkehr konnte er seine Tochter das erste Mal sehen.
Er zeichnete die Zinken ein, die er als nächstes aussägen musste, fast schon zu heftig führte er dabei das Messer. Hier war nun besondere Obacht geboten, denn die Zinken mussten perfekt ineinander passen, damit es nicht schief wurde. Er atmete mehrmals tief durch und beruhigte seine Gefühle. Wenn sie wirklich Freude an ihrem Geschenk haben sollte, hieß es nun, ruhig und gelassen zu arbeiten, ein einziger Fehler wäre hier fatal. So blendete er erst einmal alle Gedanken aus und nahm seine kleine Handsäge auf, mit der er nun die Zinken gemäß den Markierungen in das Holz einließ. Er setzte die Teile probeweise zusammen und atmete erleichtert auf: Seine Routine in der Handarbeit hatte ihn nicht im Stich gelassen, alles passte perfekt ineinander.
Vorsichtig trennte er die Bauteile noch einmal, ließ den Leim in die Aussparungen fließen, langsam, damit nicht zu viel überlaufen würde. Dann erfolgte der erneute Zusammenbau und stolz betrachtete er sein Werk. Es war noch viel zu tun, aber das hatte Zeit, bis der Leim getrocknet war. In der Zwischenzeit würde er die Truhe zu den Hensons bringen. Sie würden sich freuen, dass er bereits einen Tag eher als abgemacht fertig war.
Auf dem Rückweg von den Hensons summte er zufrieden vor sich hin. Als Dank für seine schnelle Arbeit hatte er noch eine frisch hergestellte Wurst mitnehmen dürfen. Die würde er gleich Anne überreichen und sie würde sich über die ungewohnte Bereicherung des Abendmahls sicherlich erfreut zeigen. Sie selbst hielten kein Schlachtvieh, deshalb waren solche Güter eher selten bei ihnen anzufinden. Seine Frau hatte viel gelernt, seit sie nach Maine gezogen waren und der Vater keine Haushaltshilfe mehr vorbeischicken konnte, wenn ihr alles zu viel wurde.
Sir Anthony war eine schillernde Persönlichkeit, berühmt und berüchtigt in seinem Umfeld in England. Seine Schauspielkunst wurde verehrt und er wurde zu vielen Festlichkeiten eingeladen. Daher konnte er auch zur rechten Zeit Anne zu einem Debut verhelfen, das sie sonst nie hätte erleben können. Jede andere Tochter eines Schauspielers wäre von der Gesellschaft ausgegrenzt worden, doch ihm zu Liebe wurde Anne vorerst geduldet, ihre liebreizende Art verschaffte ihr aber bald einen Erfolg, mit dem niemand hätte rechnen können.
Nur der Weitsicht “Sir” Anthonys , seinen Titel hatte er sich als eine Art Künstlernamen selbst verliehen, war es zu verdanken, dass Anne nun bei Jamie weilte. Denn auch wenn sich das Mädchen noch so großer Beliebtheit erfreute, war es ihrem Vater dennoch klar, dass eine Ehe mit einer dieser Gecken nur Probleme aufgeworfen hätte. Bei der Jugend angesehen hätte Anne bei den Älteren nur Verachtung und hämische Sticheleien geerntet.
Jamies Antrag kam Sir Anthony nur sehr recht. Er, der jüngste Sohn einer großköpfigen Adelsfamilie hatte sich nur seiner Schwester zuliebe in dieser Saison in den Ballsälen aufgehalten. Im Grunde seines Herzens war er ein einfacher Handwerker und froh darum, dass er niemals die Nachfolge seines Vaters würde antreten müssen. Sein Ziel, über den großen Teich auszuwandern, stand ebenfalls fest, ebenso wie der, in der neuen Welt sein Glück als Schreiner und Tischler zu machen.
Da Jamies Leumund einwandfrei war und Sir Anthony berichtet wurde, dass alles, was er anfasste, durch seine Beharrlichkeit und eiserne Disziplin zum Erfolg führte, war seine Entscheidung auf ihn gefallen, als er zwischen den zahlreichen Bewerbungen um Annes Hand wählen musste.
Niemand hatte ahnen können, dass Annes und Jamies Hab und Gut eine Weile nach ihrer Ankunft in Maine bei einem Brand auf ihrem Gut vernichtet werden würde, so dass sie gezwungen waren, praktisch mit dem, was sie am Leib trugen, wieder neu zu beginnen. Die Freunde, die sie zu diesem Zeitpunkt bereits gefunden hatten, halfen wo sie nur konnten. Aber niemand hier hatte wirklich einen Überfluss, und so lernte das Paar, mit dem Nötigsten auszukommen.
Und sie hatten ihr Schicksal gemeistert. Überraschenderweise hatte seine kapriziöse Anna alles mitgetragen und war eine große Hilfe für ihn, sei es durch bedachtes Haushalten, durch ihre tatkräftige Mithilfe beim Neubau oder bei den Nachbarn, oder einfach nur, weil sie da war, ihm zuhörte, Rat gab, ihn liebte.
Jamie lenkte sein Gespann in Richtung Schmiede, dort hatte er noch zu tun. Er besprach mit dem Besitzer den neuen Auftrag: Ein Ehebett sollte es sein; Langston hatte sich entschieden zu heiraten. Jamie und er besprachen die Einzelheiten des Entwurfs. Als sie sich geeinigt hatten, stand Langston umständlich auf, ging in den Werkraum hinüber und kehrte kurze Zeit später mit einem Kasten zurück.
Er schlug das darüber liegende Tuch zurück und grinste Jamie an: “War es das, woran du dachtest?” Behutsam nahm der Schreiner die zierlichen Scharniere und Beschläge aus dem Kasten, starrte sie bewundernd an und strahlte über das ganze Gesicht. Der Schmied war tatsächlich ein Meister seines Fachs. Das, was dort in Jamies Händen lag, waren wundervolle Schmiedearbeiten, die der Schatulle einer Königin gerecht geworden wären, und genau das brachte er nun auch zum Ausdruck: “Langston, ich verneige mich vor Dir. Es ist haargenau das, was ich mir vorstellte. Selbst des Königs Schmied hätte das nicht schöner hinbekommen.” Sein Freund lachte und winkte ab. “Nach Deinen Zeichnungen zu arbeiten war einfach genug. Du hattest es ja präzise genug zu Papier gebracht.”

Mit einer schon fast unhöflichen Eile legte Jamie die Arbeiten zurück in den Kasten. Nun hielt ihn hier nichts mehr; er hatte alles, um sein Geschenk an Anne fertigzustellen. Langston hielt ihn noch kurz am Arm fest und verabschiedete ihn: “Lass es mich sehen, wenn es fertig ist. Ich suche noch nach einem Hochzeitsgeschenk für Lara.”
Sie nickten sich zu und verabschiedeten sich endgültig.
Der lange Weg zu seinem Hof ließ Zeit für weitere Gedanken, und so dachte Jamie über die Schnitzarbeiten nach, die ihm noch bevorstanden. Es sollte eine kleine Tänzerin sein, die den Deckel des Kästchens zierte. Wild und frei, nicht dem Protokoll der Gesellschaft angepasst, die Haare im Wind flatternd, das Kleid sollte sich mit ihr wirbeln, der Tanz nur angedeutet, damit Anne es gerade noch erkannte, aber niemand anderes etwas Anrüchiges daran entdecken konnte. Erst wollte er als Vorbild seine Frau nehmen, er entschied sich aber dann, seine Tochter auf dem Schatullendeckel zu verewigen.
Lucinda war mit ihren drei Jahren genau richtig für ein unschuldiges Bild einer ungebärdigen Tänzerin und Anne würde es verstehen und sich doppelt freuen: Eine Hommage an sie und die bleibende Erinnerung an ihr Töchterchen. Als er diesen Entschluss fasste, spürte Jamie, dass es richtig war, und er brannte darauf, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Erst aber lief ihm seine Tochter über den Weg, ihr hinterher krabbelte der kleine George, und für eine Stunde oder zwei stellte der stolze und liebevolle Vater seine Arbeiten an der Schmuckschatulle zurück um mit ihnen zu spielen.
Anne stand im Garten und erntete die Kräuter, mit denen sie das Essen verfeinerte und hilfreiche Medizin anrührte. Sie lächelte ihm dankbar zu, konnte sie sich doch nun ganz in Ruhe auf ihre Arbeit konzentrieren. Beide Kinder waren arge Wirbelwinde, sie im Zaum zu halten, zu beschäftigen und noch einer konzentrierten Arbeit nachzugehen war ein schier unmögliches Unterfangen.
Schneller als geplant war es Zeit für das Nachtmahl und am Tisch erzählte Jamie seiner Frau von den Heiratsplänen des Schmieds und dem dazugehörigen Auftrag. Nur über das Hochzeitsgeschenk schwieg er sich aus, er wollte sich nicht verraten.
Anne freute sich sehr über die Pläne, zumal Lara ihr eine gute Freundin geworden war und sie auch Langston als sehr angenehm empfand. “Eine gute Wahl”, meinte sie und dachte laut weiter: “Sicher ist Lara keine Schönheit, aber sie ist eine hervorragende Köchin und Haushälterin, und sie ist eine ehrliche und treue Seele. Wenn Langston ihr Temperament zu nehmen weiß, werden die beiden sicherlich glücklich miteinander.“
Neugierig blickte sie ihren Mann an. „Hast Du schon Pläne für das Bett?” fragte sie in gleichmütigem Ton. “Ich könnte als Hochzeitsgeschenk eine Überdecke anfertigen, hinreichend Flicken habe ich noch.”
Jamie grinste in sich hinein. Sein Weib hatte tatsächlich gelernt, ihre Neugierde geschickt zu tarnen. “Ja, Langston hat genaue Vorstellungen davon, wie ein Ehebett auszusehen hat. Und ich denke nicht, dass er sich da von einer Frau – ganz gleich von welcher – hineinreden lassen will.”
Damit war das Thema für ihn abgehakt, denn er wusste genau, dass sie die Pläne sehen wollte, und was sie dann sehen würde, könnte ihr nicht gefallen. Als sie alles neu bauen mussten, hatte sie mit ihm um jede Verzierung an der Bettumrahmung gefeilscht, alles was er als überflüssigen Tand abtat, war ihr wichtig. Jamie hörte noch genau ihr Flehen: “In einem gemeinsamen Bett müssen sich beide wohlfühlen. Du siehst es meist nur im Dunkeln von innen, aber ich halte den Raum sauber und in Ordnung, also sehe ich es auch im hellen Tageslicht, und das sind die Bilder, die ich mitnehme in den Schlaf…” Damals hatte seine Frau ihn überzeugt, aber diesmal war es eine Auftragsarbeit, und da hatte sie nicht hineinzureden.
An diesem Abend machten sie es sich gemütlich, und es war nicht mehr an ein Weiterkommen an dem Schatzkästchen zu denken. Es hätte sie neugierig gemacht, was er noch so Wichtiges zu erledigen hätte: Die Truhe war abgeliefert, das Bett hatte ganz sicher noch Zeit bis zum nächsten Tag. Sich dessen bewusst, harrte er geduldig den Abend bei ihr aus. Die Nacht mit ihr belohnte ihn dafür.
Am nächsten Morgen ließ er sich jedoch durch nichts mehr aufhalten. Er wollte unbedingt weiter an seiner Überraschung für Anne arbeiten, und so ging er gleich nach dem Frühstück in seine Werkstatt, vorgeblich um mit dem Bett zu beginnen.
Er prüfte das Kästchen auf eventuelle Fehler und lockere Verbindungen und nickte zufrieden. Es war perfekt und bereit für den nächsten Schritt.
Nun hieß es, das Kästchen an der Stelle aufzusägen, wo anschließend Deckel und Kasten aufeinandertreffen sollten. Er platzierte das Senklot an der entsprechenden Stelle und begann, fein säuberlich mit dem Messer eine Markierung anzubringen. An dieser Stelle würde er später die Handsäge ansetzen.
Er betrachtete aufmerksam die Linie, die er in die Schatulle geritzt hatte. Es war ihm wichtig, dass es hier zu keiner Unebenheit kam. Dann hätte der Schmuckkasten nicht richtig geschlossen, und wieder machte er sich klar, dass er nun sehr aufpassen musste.
Sich nun vorzustellen, wie sie sich freuen würde, wie sich ein Strahlen über ihr müdes Gesicht ausbreitete, war zwar verführerisch, aber er schob diese Gedanken an die Seite, nahm seine Handsäge zur Hand und begann mit der Öffnung des Kästchens. Zügig und mit festem Griff zog die Säge entlang der Markierung, wohlweislich darauf achtend, dass sie auch hier nicht verkantete. Das gleichmäßige Hin und Her ließ ihn in seiner Routine wieder seine Gedanken aufnehmen.
Anne hatte nur einen schäbigen kleinen Beutel, in dem sie ihre paar Schmuckstücke verwahrte, und ständig musste sie ihn vor den neugierigen Fingern ihrer beiden Kinder verstecken. Gerade George war sehr neugierig und in einem Alter, in dem er noch alles in den Mund steckte; einfaches Begreifen langte ihm noch nicht. Er ließ schon jetzt erahnen, dass er ein kleines Temperamentbündel war, gerade so wie seine Mutter, und der Gedanke rief in Jamie ein zärtliches Lächeln hervor.
Er liebte sie alle drei, sie waren seine Familie, sein ein und alles. Sein zu Hause, das ihm das Gefühl gab, was auch immer passieren würde, angekommen zu sein.
Hier in Maine hatte er es endlich geschafft, die Träume seines Lebens umzusetzen: Ein einfaches Leben, eine ehrliche, gute Arbeit, ein Heim, Frau und Kinder, Freunde – und Glück. All das gab es für ihn nun im Überfluss. Er wusste, dass er einen wesentlichen Teil durch Ehrgeiz, Fleiß, Gelassenheit und Freude dazu beigetragen hatte. Aber er wusste auch, dass er es ohne Anne nie geschafft hätte.
Wo er ruhig war, distanziert, schaffte sie es mit ihrer sittsamen aber lebhaften Art schnell, Brücken zu schlagen, Freunde zu finden und ihrer beider Platz in der hiesigen Gesellschaft zu sichern. Selbst in den Haushalten, wo sie ihre Dienste anbot, wurde sie des Abends als Gast an der Tafel empfangen, und niemand verlor ein Wort darüber, dass sie morgens noch am Waschzuber oder im Feld gestanden hatte.
Endlich näherte er sich dem Ende der Sägerei. Noch einmal gut aufgepasst, dass am Ende nichts herausbrach, und dann hielt er die beiden Teile, Kasten und Deckel in Händen. Prüfend strich er über die Kanten. Er liebte dieses Gefühl des rauen Holzes und fast tat es ihm leid, es glatt schleifen zu müssen. Dennoch war es notwendig, das wusste er, und so holte er noch einmal das Schmirgelpapier hervor und glättete die unebenen Stellen.
Nun folgte der unangenehmste Teil der Anfertigung: Aus dem Abort geschöpftes Urin wurde erhitzt und das Werkstück musste in die Dämpfe gehalten werden. Nur so dunkelte das Eichenholz innerhalb kurzer Zeit zu einem zufriedenstellenden Ergebnis nach. Hierfür sorgten die Ammoniakanteile im Urin. Es roch zwar bestialisch, aber es tat seinen Zweck, also hielt Jamie sich ein Tuch vor sein Gesicht, während der Gestank ihm die Sinne betäubte.
Urin war eine Beize, die nicht nur bei seiner Arbeit half. Auch Stoffe und Garne wurden vor dem Einfärben in Urin gekocht, um alle störenden Inhaltstoffe zu beseitigen, die die Aufnahme der Farben beeinträchtigt hätten und somit die Fasern nur fleckig und ungleichmäßig eingefärbt hätten. Anne und die anderen Frauen der Siedlung trafen sich in regelmäßigen Abständen rundum in den Häusern zur Stoff- und Garnbeize. Eine gute Sache, denn so hatte nicht jeder Haushalt im kurzen Abstand den aufdringlichen Geruch im Haus, und die Frauen konnten einander beobachten, wann eine durch die Dämpfe zu sehr benommen wurde.
Mittlerweile war er mit der Dunkelheit des Holzes zufrieden. Er goss die Beize zurück und stellte sie auf die Fensterbank zum Abkühlen. Während der Mittagsmahlzeit hatte der Raum und das Kästchen Zeit, den alles durchdringenden Geruch zu verlieren. Im Anschluss daran könnte er mit der Anfertigung der Intarsien und der Zierleisten beginnen.
Anne verzog das Gesicht, als er die Küche betrat, legte ihm frische Kleidung hin und befahl ihm, sich draußen am Brunnen zu waschen. Seine Erklärung, dass er mit Holz und Beize für den neuen Auftrag experimentiert habe, akzeptierte sie nur widerwillig. “Du willst doch wohl nicht ein ganzes Bett abbeizen? Und der Gestank hängt dann tagelang hier auf dem Hof herum? Bei aller Liebe zu deinem Freund, Jamie, aber das mache ich nicht mit!”
Er grinste sie an und versicherte ihr: “Keine Sorge, meine Liebe. Wenn überhaupt, dann werden nur die Zierleisten gebeizt, und das werde ich nicht hier sondern bei Langston machen. Das ist bereits geklärt.” Auch wenn es bedeutete, dass er wieder einmal einige Tage nicht da sein würde, stellte sein Eheweib diese Erklärung zufrieden.
Überhaupt war sie in letzter Zeit so in sich gekehrt… Das würde doch nicht bedeuten, dass sie schon wieder…? Er hoffte für sie, dass dem nicht so sei. Schon Georges Geburt war ihr sehr schwer gefallen, das wusste er, denn er war in jener Nacht bei ihr gewesen; es hatte keinen Sinn mehr gemacht, den Doc zu holen. Und doch konnte er ein kleines Frohlocken nicht unterdrücken, denn es war schon immer sein Wunsch gewesen, einer großen Familie vorzustehen.
Gereinigt trat er in die Küche und sah sie versonnen in das Kochfeuer schauen, die Augen signalisierten, dass sie in weiter Ferne war. Ja, ihre ganze Haltung, dieser Blick – er war sich fast sicher.
“Anne….? ” Sie zuckte regelrecht zusammen und nahm rasch die Hände von ihrem Bauch, ein weiteres Zeichen für ihn und er lächelte sie vorsichtig fragend an. “Ist es wahr? Trägst du ein weiteres Kind unter deinem Herzen?” Wie ertappt lächelte sie ihn an und er breitete die Arme aus. Sie flog förmlich hinein, schmiegte sich an ihn und flüsterte: “Ja, Liebster. Ich wollte noch ein paar Tage warten und sicher gehen, bevor ich es dir sage, aber ….”
Er unterbrach ihre Worte mit einem heftigen Kuss. Dann löste er sich von ihr und fragte sie besorgt, ob es ihr gut ginge, und sie lachte ihn aus. “Bis gerade eben wusstest du noch nichts davon, und nur weil du es nun erfahren hast, geht es mir nicht besser oder schlechter als vorher”, schmunzelte sie. “Und nun lass mich aus, die Kinder kommen gleich herein!”
Während des Essens lächelten sich die Beiden häufig an und berührten einander oft, keiner wollte den anderen weiter von sich wissen als unbedingt nötig. Auch die Kinder spürten die Magie dieser Stimmung und benahmen sich außerordentlich sittsam.
George schaute staunend vom Vater zur Mutter, so viel Nähe gönnten sie sich vor den Kindern sonst nie! Aber Jamie hatte so ein komisches Gefühl in seiner Brust, so als müsse er jeden Moment mit ihr ausnutzen. Wer weiß, was alles bei so einer Geburt passieren konnte, und er begann sich um sie zu sorgen. Wie bei den beiden Kindern zuvor verfluchte er sich, weil er ihr die beschwerlichen Wochen zur und die Gefahr bei der Geburt aufbürdete, und er wusste, dass er ihr dabei nicht helfen konnte. So ließ er sie keinen Augenblick aus seinen Augen, und sie war sich dessen sehr bewusst.
Nach dem Essen zogen sich die Kinder für eine Mittagsruhe zurück. Anne lachte immer wieder darüber und spottete: “Die Frage ist immer, wer hier mehr Ruhe benötigt, die beiden kleinen Teufel oder ich …”
Sie führte in dieser Zeit die Bücher, denn abends dafür ein Kerzenlicht zu vergeuden sah sie nicht ein, und tagsüber, wenn die Kinder wach waren, fehlte ihr die Konzentration. Jamie ließ sie bewusst dabei in Ruhe, nicht ohne seine Frau noch einmal sachte an sich zu ziehen und ihr einen zärtlichen Kuss dazulassen.
Er ging zurück zu dem unfertigen Geschenk, das nun ohne sein Zutun doch noch einen Anlass gefunden hatte. Der Geruch war noch nicht völlig aus dem Zimmer verschwunden, und auch das Kästchen benötigte noch ein bisschen Ruhe, also griff der Schreiner nach einem Übungsholz und seinem Schnitzwerkzeug und ging an den nahegelegenen Bach, um dort in Ruhe die Verzierungen des Deckels zu entwerfen. Er setzte sich auf einen großen Felsen, der dort schon seit Ewigkeiten stehen musste, sein Lieblingsplatz.
Das ruhige Murmeln des Baches, der Geruch der Frühlingsblumen, die Stille, nur vom Rauschen des Windes in den Bäumen und vom Vogelgezwitscher unterbrochen – das alles verwob sich ineinander zu einer zauberhaften, fast magischen Atmosphäre, die ihn immer wieder hier her zog, wenn er Ruhe benötigte. Dieser Ort war auch ausschlaggebend gewesen für die Wahl des Standortes seines Hauses. Anne hatte ihn davon abgehalten, direkt am Bach zu bauen. Praktisch, wie sie war, wies sie ihn auf die kommenden Kinder und eventuelle Hochwasser hin, und so ließ er sich dazu überreden, dass er ein gutes Stück vom Bach entfernt den Grundstein legte.
Am Ende war es eine weise Entscheidung, denn so blieb ihm dieser Ort der Ruhe erhalten, der sonst von Kindertoben und einer aufgeregten Mutter entweiht worden wäre. So verbrachte Jamie den Mittag hier am Bach, ritzte seinen Entwurf in den Holzblock, schnitzte das Motiv grob vor und besserte es aus, bis es ihm wirklich gefiel. Als die Sonne hinter den Bäumen langsam ihr Tagewerk beendete, klopfte er die Holzspäne von seiner Hose und steckte den Block zufrieden ein, denn er wusste, dass er das richtige Motiv gefunden hatte.
In dieser Nacht hielt er seine Frau eng bei sich, als habe er Angst, sie zu verlieren. Er träumte, dass die kleine Tänzerin von seinem Holzblock sich davon löste und lebendig durch den Raum tanzte. Sie warf die Hände in die Luft und tanzte wie ein Wirbelwind durch die Räume, machte einen Satz und sprang aus dem Fenster, bevor er sie aufhalten konnte. Laut rufend wollte er ihr hinterhereilen, aber ein Rütteln an der Schulter und eine sanfte Stimme weckte ihn auf.
“Jamie… ist alles in Ordnung?” Annes besorgtes Gesicht schwebte über dem Seinen in der dunklen Nacht. Ihre Augen schimmerten und er konnte nicht anders, er musste sie an sich ziehen und küsste sie, leidenschaftlich, im Wunsch, sie für immer zum Halten zu bewegen.

Am nächsten Morgen stand Jamie schon beim Morgengrauen auf. Heute galt es, das Kästchen fertigzustellen: Sie sollte wissen, dass dies nichts mit der erneuten Schwangerschaft zu tun hatte, dass er sie nicht wie eine fruchtbare Kuh mit einer Extraportion Heu belohnen wollte.
Nein.
Dieses Kästchen sollte nur das sein, was er ursprünglich darstellen wollte. Er hatte lange noch in der Nacht wachgelegen, die Arme eng um sie geschlungen, hatte darüber nachgedacht und sich ausgemalt, was sie von seinem Geschenk noch halten würde, wenn sie es mit dem Anlass der Schwangerschaft gleichsetzte.
Es wäre nicht mehr das Selbe. Selbstverständlich hätte sie sich gefreut, aber dann wären ihr eine neue Schürze, ein neues Unterkleid lieber gewesen, denn mit diesem Kästchen würde sie dann nicht einen persönlichen Besitz verbinden und immer wieder versucht sein, in dem Mädchen auf dem Deckel einen Wunsch nach einer weiteren Tochter zu sehen oder das Kästchen für die ersten Haare, für den ersten Zahn beiseite zu legen.
Also bereitete er im Halbdunkel schon einmal den Samt vor, schnitt ihn zurecht, befestigte ihn mit winzigen Nägeln im Boden der Schatulle, schraubte die Scharniere an und suchte Muster für die Zierleisten aus. Als das Tageslicht zum Schnitzen ausreichte, stellte er alles andere an die Seite und schloss die Tür zur Werkstatt zu, ein Zeichen, dass er nicht gestört werden wollte. Dann nahm er den Deckel in seine linke Hand, in die rechte ein Schnitzmesser und begann, das Motiv vom Übungsblock ins Reine zu übertragen.

Stunde um Stunde konzentrierte er sich darauf, die wehenden Haare und Röcke zu verdeutlichen, das Gras unter den bloßen Füßen zu verfeinern, das Gesichtchen klar und doch schemenhaft wirken zu lassen. Die Arme, sie streckten sich im rechten Winkel voneinander fort, ein Beinchen war angewinkelt, die kleine Tänzerin schien es gleich in die Luft zu werfen. Leichte Wolken, sogar den Baum, der direkt neben dem Felsen unten am Bach stand, deutete er an.
Die Zierleisten bestanden aus ineinander verschlungenen Herzen und so bekam der Betrachter ein Rätsel nach dem Anderen aufgezeigt. Alles wirkte vage, doch die Nachricht war für die Empfängerin klar:
“Ich liebe Dich, so wie Du bist, und ich will Dir Deine Freiheit zum Tanz durchs Leben lassen, solange Du in meinem Herzen und ich in dem Deinen bin.”
So fieberhaft arbeitete er, dass er die Zeit vergaß. Das Mittagsmahl, das Abendessen, all das ging an ihm vorüber, und er ruhte nicht, bevor er nicht letzte Hand an die Schatulle gelegt hatte und sie mit wohlriechendem Bienenwachs versiegelt hatte. Am Ende schlief ein, vor lauter Erschöpfung: Sitzend, den Kopf in der linken Armbeuge, das Kästchen mit der rechten Hand fest umschlossen.
Am späten Abend, als die Kinder schon ruhten, klopfte Anne an die Tür. Als sie keinen Mucks hörte, trat sie dennoch ein, beunruhigt, denn sie hatte ihren Gatten den ganzen Tag nicht gesehen, und das geschah sonst nur dann, wenn er außerhalb zu tun hatte. Darüber aber gab er ihr immer frühzeitig Bescheid.
Sie schaute sich in seinem Refugium nur kurz um, sah ihn am Tisch sitzen, eingenickt. Warum auch immer er sich den ganzen Tag hier herumgetrieben hatte, sollte nicht mehr das Problem von heute Nacht sein. Das konnten sie immer noch am nächsten Morgen klären, dachte sie liebevoll. Leise schlich sie zu ihm, legte ihre Hand sanft auf seine Schulter und weckte ihn auf: “Jamie… es wird Zeit zu schlafen. Komm mit herüber, ich bitte Dich…”
Er schrak hoch, schlaftrunken noch und völlig verspannt, sah sich um und bemerkte die Dunkelheit sowie ihren sorgenvollen Blick.
“Liebste… ich musste doch noch das Herz zurechtschneiden…”
“Schhhhhhhhhhhh…….” Anne legte ihrem Mann einen Finger auf den Mund und wollte ihn zum Schweigen bringen, doch da hielt er ihr schon ein kleines, dunkelbraunes Etwas entgegen, schaute sie bittend an.
“Du sollst wissen, dass ich damit anfing, bevor ich es erfuhr… sie ist für Dich.”
Anne nahm staunend und ehrfürchtig die Schmuckschatulle aus seinen Händen. Selbst im Dunkel des Raumes erkannte sie, welches Kleinod ihr Gatte dort für sie angefertigt hatte, wieviel Liebe und Geduld, wieviel Arbeit dort herinnen steckte. Sie schluckte, und Tränen der Freude und der Rührung traten ihr in die Augen. Dass er gleich erkannt hatte, dass es ein paar Tage später einen Nachgeschmack gehabt hätte, das war so typisch für ihn und seine Aufmerksamkeit. Ein Schmuckkästchen nur für sie allein, und mit einem wunderschönen Motiv, wie sie erahnen konnte. Er musste Stunden um Stunden daran gearbeitet haben…
Sanft und vorsichtig, als sei es ein Heiligtum, legte sie das Kästchen in die Mitte des Tisches. Sie zog an seinen Händen, und er hielt dagegen, nahm sie auf seinen Schoß.
Anne schlang die Arme um seinen Hals, stumm, jeder Sprache beraubt, und küsste ihn.
Und Jamie wusste, dass sie es nicht aus Dank für das Kästchen tat.

Spinatgrün

Spinatgrün

Es ist spät am Abend und ich überlege gerade, ob ich nicht langsam schlafen gehen sollte. Im Fernsehen kommt nichts Gescheites mehr, Musik hören kann ich nicht, weil meine Boxen den Geist aufgegeben haben, und Bücher kann ich im Augenblick nicht mehr sehen.
Einen Moment lang überlege ich, ob die Garantie für die Lautsprecher schon abgelaufen ist. Es könnte sein, dass ich Glück habe. Morgen im Büro kann ich das überprüfen, dort steht der Ordner mit den Rechnungen.
Ich gebe mir einen Ruck und schlurfe zum Bad, doch bevor ich dort ankomme, klingelt mein Handy. Einen unfreundlichen Fluch auf den Lippen laufe ich zurück ins Wohnzimmer.
Oh nein: Anita.
Wenn Anita um diese Zeit anruft, bin ich versucht, das Gespräch nicht anzunehmen. Anita neigt zu Katastrophen, die nicht gerade den Weltfrieden in Gefahr bringen, aber mich bis tief in die Nacht vom Schlaf abhalten, und morgen habe ich einen anstrengenden Tag vor mir, der einiges von mir abfordern wird.
Ich starre das Handy in meiner Hand an, als könne ich es beschwören. „Los, sei endlich still!“, raune ich ihm in Gedanken zu. Und tatsächlich verstummt es. Ich atme auf und lege es an seinen Platz zurück.
Bevor ich die Wohnzimmertür schließen kann, klingelt es erneut. Es scheint dringender zu sein, als ich dachte. Auf jeden Fall wird sie keine Ruhe geben, bis ich das Gespräch annehme.
„Ja?“ Zu mehr Gesprächigkeit bin ich gerade nicht aufgelegt.
„Evchen?“ Ich kenne Anita seit meiner Kindheit. Sie war die Enkeltochter unserer Nachbarn. Aus einem Grund, der sich mir nie erschloss, hängte sie sich an mich und ließ nicht mehr locker und ich brachte es nicht übers Herz, sie abzuwimmeln.
Anita ist wie ein Hundewelpe, der erst noch lernen muss, seinen Weg im Leben zu finden. Gemessen daran, dass Anita – wie ich – über Vierzig ist, ist es bemerkenswert, dass sie sich diesen Wesenszug bis heute behalten hat.
Andere würden Ihr kurzerhand die Fähigkeit zu reflektieren und Schlüsse zu ziehen absprechen und über sie lachen, mich aber bekommt sie mit ihren unterschiedlichen Stimmlagen dran.
Anitas Stimme ist wie ein Regenbogen: Sie birgt so viele Klangfarben in sich, dass sie für jede Situation eine passende findet: Dunkellila für Schmerz, helles Blau für Unbesonnenheit, gelb für ihre Wutanfälle, die sie manchmal bekommt, meistens dann, wenn es gar nicht angebracht ist.
Das, was ich heute aus dem einen Wort heraushöre, ist Rot und bedeutet Panik.
„Anita“, seufze ich, und frage: „Was ist passiert?“
„Spi…“, sie schluchzt. „Spinat..“, wieder stockt sie. „Evchen…“ Die Stimme verliert sich zwischen uns, Stille kehrt ein.
„Nun erzähl schon“, rede ich ihr zu. „So schlimm kann es doch nicht sein.“
„Sie sind spinatgrün!“, bricht es endlich aus ihr heraus, und sie fängt an zu weinen.
Ich bin verwirrt. Bisher kann ich nicht erkennen, was der Anlass für die Tränen ist, und es scheint so, als würde es noch dauern, bis Anita in der Lage sein würde, mich darüber aufzuklären.
Ich lasse sie weinen, bis ich sicher bin, dass sie sich so weit im Griff hat um mir zu antworten.
Ich wage einen erneuten Vorstoß. „Anita?“
„Ja?“ Noch ein Schluchzer. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie bald einen Schluckauf bekommen.
„Sag mir bitte: Was ist spinatgrün?“
Ein Aufheulen dringt durch den Hörer an mein Ohr und ich überlege, ob bei Anita ein Krankenwagen vorbeifährt. Weit gefehlt; als Anita wieder verständliche Worte von sich gibt, bricht das Geräusch ab.
„Du musst herkommen, sofort!“
Und schon hat sie aufgelegt.
Klick.
Ohne ein weiteres Wort.
In einer Mischung aus Verblüffung und Ärger schaue ich meine Hand an, in der das Handy das Freizeichen von sich gibt. Im ersten Moment bin ich versucht, ins Bad zurückzugehen. Es folgen zwei Gedanken:
1. Was ist, wenn es wirklich etwas so Schlimmes ist, dass sie meine Hilfe braucht?
Diesen Gedanken verwerfe ich sofort. Egal, was bei ihr eine spinatgrüne Farbe angenommen hat, es kann bis morgen warten. Eine falsche Farbe ist nichts, was lebensbedrohlich ist.
2. Sie wird wieder anrufen, wenn es sein muss, auch auf dem Festnetz. So lange, bis ich kapituliere und zu ihr fahre.
Das lässt sich nicht von der Hand weisen. Bevor ich mich weitere Stunden vom Telefon terrorisieren lasse, schnappe ich mir den Autoschlüssel und meine Jacke und mache mich auf den Weg zu Anita und ihrem neuesten Problem.
Nach gut einer Viertelstunde Fahrt, einer weiteren Viertelstunde Parkplatzsuche und einem zehnminütigen Spaziergang vom Wagen bis zu Anitas Wohnung stehe ich vor ihrer Haustüre und klingele. Bevor ich ein zweites Mal auf die Klingel drücken kann, reißt sie die die Tür auf.
Im ersten Moment möchte ich laut loslachen, weil ihr Aufzug befremdlich wirkt. Die Rosa- und Pinktöne ihres Schlafanzugs beißen sich mit dem Braun ihres Morgenmantels, und zu allem Überfluss hat sie sich eine feuerrote Mütze aufgesetzt.
Wären ihre Augen nicht vom Weinen so geschwollen, dass man kaum noch die Augenfarbe erkennen kann, hätte ich darüber gespottet.
„Ist heute das Farbenfest und du hast nicht gewusst, was du anziehen sollst?“
So ungefähr ist meine Art Humor und ich lasse ihn gnadenlos an ihr aus. Aber ich sehe ihr an, dass ihr für Sticheleien die Gelassenheit fehlt. Also bemühe ich vorerst darum, die Stimmung auf halbexplosiv zu entschärfen. Für Witze ist später noch Zeit.
„Magst du mich nicht hereinbitten?“ frage ich, und ohne ein Wort tritt sie zur Seite. Gerade eben bin ich im Hausflur, als sie auch schon in Windeseile die Türe hinter sich zuschlägt und sich davor stellt, als sei auf der anderen Seite eine Meute von Meuchelmördern, die sich ihrer annehmen wollen.
Ich übersehe diese Reaktion um nicht noch mehr Dramatik zuzulassen, gehe ins Wohnzimmer und schaue mich um.
Dann frage ich in neutralem Ton: „Und? Was ist denn jetzt so grün wie Omis Blubb?“
Wenn Blicke töten könnten, könnte ich jetzt beim Pfarrer anrufen und ein Begräbnis für mich ordern.
„Komm schon, Anita. Was auch immer es ist, die Welt geht nicht deswegen unter. Zeig es schon.“
Sie zupft an der Mütze und wirft mir Blicke zu, die an ein Kind erinnern, das sich nicht traut, zum ersten Mal vor der Klasse ein Gedicht aufzusagen. Überhaupt befremdet mich der Umstand, dass sie bisher noch keinen Laut von sich gegeben hat.
„Anita. Ich möchte nicht die ganze Nacht hier in deinem Wohnzimmer stehen und raten. Warum zeigst du mir nicht einfach, was so schrecklich grün wurde?“
Meine Freundin beißt sich auf die Lippe, die Hände senken sich, ihr Blick flattert. Ich merke ihr die Unentschlossenheit an. Sie will es mir zeigen, aber sie traut sich nicht.
„Na?“
Und nun gibt sie sich einen Ruck, greift wieder zu der Mütze und reißt sie sich vom Kopf.
Mir fällt die Kinnlade herunter.
Schnell suche ich alles zusammen, was ich noch an Fassung übrighabe, damit ich sie nicht in ihrem Elend bestärke. „Hm… schön ist das nicht, aber…“
Weiter komme ich nicht. Sie schluchzt erneut auf, wirbelt herum und rennt aus dem Zimmer. Ich höre, wie die Schlafzimmertüre aufgerissen wird.
Peng! Nun ist sie zu, die Tür, und es kehrt Stille ein.
Ich nutze den Moment um meine Gelassenheit wiederzufinden. Von Anita bin ich eine Menge gewöhnt. Sie hat unzählige Katastrophen vom Zaun gebrochen; das Chaos, das sie dabei anrichtet, ist legendär.
Nichts aber gleicht dem, was sie sich nun eingebrockt hat: In dem Moment, als sie die Mütze vom Kopf zog, offenbarte sich mir ihr üblicherweise seidiges, blondes Haar in gesundem Spinatgrün. Dass dies für Anita eine Katastrophe ist, kann ich mir gut vorstellen, und ich wollte in einer ähnlichen Situation ebenfalls nicht alleine sein.
In aller Kürze überlege ich mir ein paar Worte, die sie beruhigen können und lege mir einen Schlachtplan zurecht, dann folge ich Anita und setze mich zu ihr auf die Bettkante.
Wie ein Häufchen Elend liegt sie da, hat sich zusammengerollt wie ein Baby im Mutterleib. Sie hat Die Arme um ihr Kopfkissen geschlungen und presst es an sich, den Kopf darin versteckt. Die grünen Haare fallen mit einem Misston auf das helle Betttuch.
„Ach Liebes, das kriegen wir schon wieder hin“, murmele ich ihr zu und streiche sanft über ihren Rücken. Ich weiß, sie ist nicht meine Lieblingsfreundin, eigentlich habe ich sie nie als Freundin gewollt. Aber in einem solchen Moment könnte ich noch nicht einmal meine ärgste Feindin im Stich lassen.
„Es sieht so scheußlich aus“, jammert sie durch das Kissen, und ihre Schultern zucken, weisen darauf hin, dass sie wieder weint.
„Wie ist das denn überhaupt passiert? Du bist doch Profi im Haare färben?“ Anitas Gesicht taucht über dem Kissen vor.
Sie fasst sich und beginnt stockend zu berichten. „Ich weiß es nicht. Ich habe die gleiche Farbe wie immer gekauft. Naja, eigentlich eine andere Marke, die war billiger und der Farbton sah nur geringfügig anders aus als bei der, die ich sonst nehme.“ Sie schnieft, und ich reiche ihr eine Schachtel Papiertücher.
Bei Frauen stehen überall Papiertücher herum. Wir brauchen diese Dinger wie Männer das Bier beim Fußball: Egal ob es zum Tränen trocknen, Nase putzen, Lippenstift abwischen, Brille reinigen oder eine kleine Lache wegwischen ist, diese Tücher vermögen all das und noch eine Menge mehr.
Anita setzt sich auf und putzt sich die Nase. „Zuhause habe ich dann alles wie immer gemacht: Die Flasche geöffnet, den Inhalt der Farbtube hineingedrückt und das alles dann so schnell wie möglich auf dem Haar verteilt.“ Sie hält kurz inne, überlegt. „Es war ein bisschen seltsam, die Konsistenz war ganz anders als ich es von allen anderen Produkten kenne. So klebrig. Ich habe mich fast ein bisschen geekelt.“
Sie drückt mir die Tücher in die Hand und fährt fort. „Naja, als die Zeit dann um war und ich alles ausspülte, war das schon komisch: Alles war dunkel, das durfte eigentlich nicht sein, weil ich ja blonde Haare haben wollte. Als ich dann in den Spiegel sah, wusste ich schon, dass etwas falsch war, ganz falsch.“ Ihre Stimme zittert erneut, und sie sieht mich mit großen Augen an.
„Ich hab sie dann ganz schnell trocken geföhnt, und je trockener sie wurden, desto grüner wurden sie…“ Der folgende Tränenstrom kommt nicht unerwartet, und ich stöhne innerlich auf.
Dieses Mal braucht Anita wirklich meine Hilfe: Mit grünen Haaren ist der Weg durch den Alltag ein Spießrutenlauf.
„Was soll ich denn jetzt nur machen?“ Ihre Stimme wirkt auf mich, als meine Freundin um zwanzig Zentimeter geschrumpft und würde aus einer großen Entfernung zu mir sprechen. Ich lege meinen Arm um sie und drücke sie kurz an mich.
„Das kriegen wir schon wieder hin“, muntere ich sie auf. „So schlimm ist das gar nicht. Ich rufe morgen Deinen Chef an und sage, dass Du über Nacht krank geworden bist. Dann machen wir ein paar Fotos von den Haaren und rufen meinen Anwalt an. Zu guter Letzt -“
„Nein! Keine Fotos!“ Das Entsetzen in ihrer Stimme ist enorm, fast könnte man es greifen.
„Aber Anita, damit können wir dann Schwenkel verklagen, die Farbe war nicht in Ordnung!“
Irgendetwas stimmt nicht. Das sehe ich ihr an. Sie druckst herum, blickt zu Boden, der Oberkörper ruckt ein winziges Stück vor, dann zurück, mehrmals. Schließlich schaut sie mich an, und diese verdammte Treuherzigkeit in ihren Augen sagt mir alles.
„Es war nicht ganz so“, rückt sie mit der Sprache heraus, „schon auch ein bisschen meine Schuld. Ich wollte mal was anderes ausprobieren, und weil die Agnes vom Büro nebenan immer so tolle schwarze Haare hat, nahm ich eben schwarz statt blond.“
Ich starre sie an. „Nicht dein ernst!“
„Doch…“, ich sehe, dass sie das nicht gerne zugibt. „Das Schwarz sah aber so hart aus, ich fand das überhaupt nicht gut, und dann bin ich nochmal hingegangen und habe…“
„Blond übergefärbt“, ergänze ich, und mir wird klar, wie diese Farbe zustande kam.
„Liebes. Hat man dich noch nie darüber aufgeklärt, dass man so etwas auf keinen Fall macht?“
Das Schuldbewusstsein steht ihr ins Gesicht geschrieben, und ich schüttele nur noch mit dem Kopf.
Mein Sinn für Pragmatismus verbündet sich mit meinem Galgenhumor. „Gut, dann können wir uns die Zeit beim Anwalt sparen und sind schneller fertig.“
„Was hast du denn vor?“ Diese Kleinmädchenstimme, argh… Mit dieser Stimme bekommt sie mich immer wieder herum und dann helfe ich ihr aus dem größten Schlamassel heraus, egal ob sie es verdient hat oder nicht.
„Ich bring dich zu Luigis Haarklinik, der rasiert alles ab.“ Ich habe mich entschlossen, ihr einen kleinen Denkzettel zu verpassen. „Dann kann es wieder in seiner gewohnten Farbe nachwachsen.“
Das Entsetzen tut mir gut. Die Wärme, die sich gerade in meinem Bauch ausbreitet, habe ich mir verdient.
Natürlich ist Luigi niemand, der gnadenlos Haare vom Kopf schert. Ich kenne ihn länger, seit der Zeit, in der mir selbst so ein eklatanter Fehler unterlaufen ist. Damals brachte mich meine Mutter zu ihm, und ich weiß, was auf Anita zukommen wird: Er wird sich den Schaden ansehen, den sie verursacht hat, ihr eine Strafpredigt halten und anschließend das Beste, was man noch aus diesen Haaren machen kann, herausholen.
Aber das weiß sie noch nicht, und ich erfreue mich an ihrer Unsicherheit, als ich sie dränge schlafen zu gehen und mich auf der Wohnzimmercouch für die Nacht einrichte.
„Evchen?“ Die Stimme kommt aus dem Korridor.
„Hm?“ Ich gebe vor schon fast eingeschlafen zu sein.
„Muss wirklich, wirklich alles ab?“
Ich grinse in die Kissen und kämpfe mit Mitgefühl und Schadenfreude. Plötzlich fällt mir ein, dass auch ich morgen meinen Tag noch umwerfen muss, damit ich meiner Freundin aus der Patsche helfen kann.

Ich denke, ich werde sie noch ein bisschen zappeln lassen.

Ruhestörung

Es ist noch früh am Morgen und der Tag verspricht schön zu werden. Ich habe gut geschlafen, endlich mal wieder, und mein Sohn hat die Wohnung vor wenigen Minuten verlassen; er sitzt sicherlich schon im Bus und fährt zur Schule.
Ich genieße meinen Kaffee, das Schweigen, lese in meiner Zeitung.
Ich mag das: Keine Verpflichtungen, auf nichts achten müssen. Ein bisschen die Seele baumeln lassen, bevor ich mich in die Hektik des Alltags stürzen muss. Alleine in der Stille langsam richtig wach werden.
Nur der Geruch von Kaffee und das leise Rauschen des Windes in den Bäumen, von gelegentlichem Läuten der Kirchenglocken unterbrochen, umgeben mich, hüllen mich ein in eine dezente Kulisse der Ruhe und des Friedens.
Es ist fast so, als habe jemand die Welt angehalten, und sie würde sich erst weiterdrehen, wenn die Turmuhr zur neunten Stunde läutet.

Doch heute wird diese Ruhe gestört.

Ich höre im Hausflur eine Tür zuschlagen. Es folgt wildes Kreischen: eine hohe Stimme, die zu kippen droht. Worte verstehe ich nicht, will ich auch nicht.
Ich erkenne sofort, um wen es sich handelt.
Vor ein paar Monaten zogen sie bei uns ein, eine Familie mit zwei Kindern. Freundliche Menschen, stets höflich, hilfsbereit. Einer der beiden Jungen hat mir des Öfteren angeboten, meine Einkäufe in den zweiten Stock zu tragen. Er hält mir die Tür auf, grüßt freundlich, kurz: Ein wohlerzogener Teenager, fast schon eine Seltenheit.
Von dem anderen Jungen hörte ich lange Zeit nur immer wieder diese hohe, überbordende Stimme.
Die Klangfarbe seiner Stimme ordne ich für meine Ohren bei einem grellen Gelb ein: Aufdringlich, in den Ohren stechend, die Gedanken blendend, Abwehr auslösend. Ein hoher, anklagender Ton, der sich bei mir festsetzte als das Heulen eines unzufriedenen, verzogenen Kindes. Anfangs war das sehr störend, da der Junge meist den ganzen Mittag über zu hören war.
Dann erfuhr ich die Hintergründe für dieses alltäglich wiederkehrende Theater: Der Junge ist Autist. Zurzeit verträgt er die Medikamente nicht mehr und soll umgestellt werden. Dass so eine Umstellung eine langwierige Sache sein kann, weiß ich, und so übe ich mich in Geduld.
Mit der Zeit gelang mir das auch immer besser, und ich höre kaum noch hin, wenn von den Nachbarn noch Lärm zu mir nach oben dringt.
Heute aber ist irgendetwas anders.
Noch nie habe ich den Jungen im Hausflur kreischen hören, noch nie rannte er ohne seine Mutter aus dem Haus. Jetzt aber höre ich ihn schon vor der Tür, und er randaliert. Er wirft die Mülltonnen um, brüllt laut und aggressiv – sein Tonfall klingt verzweifelt.
Nun folgt die Mutter. Sie ruft ihm hinterher, fragend. Die Stimme des Jungen ist nun von der Straße zu hören, man versteht immer noch keine Worte, es bleibt unverständliches Geschrei.
Ich gehe zum Fenster und schaue nach, ob ich helfen kann. Zeigen mag ich mich nicht, ich kann mir denken, dass die Situation an sich bereits schlimm genug für die Mutter ist.
Oft genug hat sie sich schon bei den Nachbarn entschuldigt, händeringend um Verständnis gebeten. Dabei müsste sie das nicht tun, denn Kinderlärm ist in einem Mietshaus unumgänglich und kein Grund zur Beschwerde.
Und dennoch hat eine Mitbewohnerin es tatsächlich gebracht und bei unserem Hausverwalter eine Abmahnung für die Familie gefordert; der Familie selbst hat sie mit einer Anzeige wegen Lärmbelästigung gedroht.
Gut, diese bestimmte Mieterin ist eine egoistische, herzlose Megäre, die sich bei jedem unbeliebt macht, und der Rest der Mietergemeinschaft hat sich auf die Seite der Familie gestellt.
Aber ich kann mir denken, dass eine solche Androhung nicht gerade geringfügig belastend wirkt. Also bleibe ich lieber im Hintergrund und schaue nur nach, ob Hilfe benötigt wird.
Wird es nicht, nicht akut. Sie läuft ihrem Sohn hinterher, seine Mütze in der Hand. Er steht auf dem Bürgersteig, die Hände zu Fäusten geballt, so als wolle er gleich seine Mutter boxen, und brüllt seine ganze Wut und seine Verzweiflung heraus.
Schlimm klingt das, und es tut beinahe weh, ihm zuzuhören. Nur beinahe?
Sie spricht auf ihn ein, nimmt seine Hand – und auf einmal lässt er sich widerstandslos mitziehen. Einen Moment lang schaue ich den beiden hinterher, sie erreichen das Ende der Straße ohne weiteren Zwischenfall.
Nun herrscht wieder Ruhe.
Nachdenklich streife ich mir eine Jacke über und ziehe meine Schuhe an. Zumindest kann ich die Mülltonnen aufrichten, damit unsere Ego-Mieterin keinen Anlass findet, erneut beim Hausverwalter zu insistieren.

Wie mag sich ein solches Kind fühlen? In seiner Welt eingeschlossen, abgekappt von den Gefühlswelten anderer zu leben. Nicht in der Lage zu sein, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, nicht zu wissen, was andere fühlen. Wie mag das sein, wenn es einem nicht möglich ist, die eigenen Gefühle zu äußern? Was für eine Frustration muss das mit sich bringen, welche Angst?
Ich fühle in diesem Moment eine Art Kummer in mir. Eine Traurigkeit, die mich von innen heraus aushöhlt. Ich möchte die Luft anhalten, damit diese Leere sich nicht ausweiten kann.
Schließlich bleibt mir nichts anderes übrig: Ich muss atmen, also hole ich tief Luft und schlucke hart.
Ja, mir tut es weh, mir das vorzustellen.

Während ich den Müll einsammle, der sich auf dem Weg verbreitet hat, denke ich weiter darüber nach, und mich überkommt eine Dankbarkeit von unbeschreiblichem Ausmaß. Meine Kinder sind gesund. Natürlich haben sie ihre Probleme, und sie mussten sehr schwierige Zeiten hinter sich bringen. Dankenswerterweise sind diese schlimmen Zeiten vorbei.
Vorerst.
Es gibt keine Garantie für Glück und Zufriedenheit, für Gesundheit.
Und während meine Hände gerade eine mit klebrigen, undefinierbaren Resten eingeschmierte Spinatpackung aufnehmen, freue ich mich. Über meine Kinder. Mein Glück.
Und darüber, dass ich Handschuhe angezogen habe.