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Von Tapeten und Bällen

Still sein. Still wie ein Mäuschen. Oder besser doch nicht wie ein Mäuschen, denn Mäuse sind in Wohnungen nicht erwünscht. Lieber wie… die Tapete an der Wand, ja, genau! Die Tapete guckt man an und nimmt sie gar nicht mehr wahr, so speckig und alt wie sie schon ist. Die Wand kann zwar auch gehauen werden, oder getreten. Manche schreien auch die Wand an, aber die Tapete ist damit nicht gemeint, die nimmt niemand wahr.

Nele beschließt, dass sie ab sofort eine Tapete ist. Still und unbewegt hockt sie auf ihrem Bett und versucht, mit dem vergilbten Weiß hinter sich zu verschmelzen. Vielleicht würde sie dann nicht hören, wie Kai vor Schmerz brüllt. Vielleicht würde sie dann nicht das Keifen ihrer Mutter hören: „Harald, hör endlich auf damit!“ Vielleicht würde sie dann nicht das Aufjaulen hören, wenn Harald, der Freund ihrer Mutter, dieser „eine langt“, wie er das ausdrückt. Und vielleicht würde er sie dann übersehen, wenn er, weil er ja schon mal dabei ist, ein Exempel zu statuieren, in Neles Zimmer gestapft kommt, um auch ihr eine Tracht Prügel zu verabreichen.

Alles nur, weil Kai kein Toilettenpapier mehr bekommen hat. Und weil sie die letzte Rolle eingelegt und vergessen hatte, Bescheid zu geben. Und weil Harald eben… Harald ist.

Es war schon früher schlimm gewesen, erinnert sie sich. Seit Mama ihn kennenlernte und er bei ihnen einzog. Seither kann Nele keine Freundinnen mit nach Hause nehmen, welche besuchen oder mit ihnen telefonieren. Mittlerweile hat sie gar keine Freunde mehr.

Viel zu klein, zu dünn, ständig müde, weil sie wegen der ganzen Streitereien nachts nicht schlafen kann. Selten ist genug Geld für Essen da, für neue Kleidung eh nicht. Sie muss die abgetragenen Sachen von Kai tragen. Jungenklamotten. Und Kai „darf“ bei der Kleiderkammer vorsprechen, da bezahlt man nur ein, zwei Euro für einen Pulli oder eine Hose, wenn man nachweisen kann, dass man bedürftig ist. Die Sachen von Kai sind ihr zwar immer viel zu groß, aber das ist für Nele eher ein Grund zur Erleichterung, denn so sieht niemand die blauen Flecken, die sie manchmal davonträgt.

Schule, das bedeutet für Nele: Pause von Harald, Pause vor Mama, die Sicherheit, nur ausgelacht, aber nicht gehauen zu werden – und eine warme Mahlzeit. „Schulspeisung“ nennt man das. Für Nele und Kai gibt es das kostenlos, weil ihre Mutter Harzerin ist.  

In der Schule ist Nele eine Außenseiterin, eine von den Losern, aber das ist immer noch besser als das hier.

Seit der Ausgangssperre hocken nun vier Personen in einer Vierzimmerwohnung. Das Wohnzimmer belegt „er“ immer mit Beschlag. Hockt da herum, sieht fern und kommandiert von „seinem“ Sessel aus alle herum.  Verlangt „Fleisch auf dem Teller“, auch wenn dadurch alle anderen nur Nudeln und Sauce bekommen. Salat und Gemüse gibt es nur, wenn bei der Tafel nicht zu viele Leute anstehen.

Aber die Tafeln haben jetzt zu, genauso wie die Schule und Klopapier gibt es eben auch nicht mehr.

Dafür aber Prügel, und das nicht zu knapp.

Sie hört die Schritte, die durch den Flur auf ihr Zimmer zukommen und will sich zusammenrollen. Aber dann ist sie keine Tapete mehr, sondern ein Ball, den man treten darf. Der dann im hohen Bogen davonfliegt. In ihrem Fall nur nicht sehr weit und auch nicht ins Tor, nein. Wenn sie, der Nele-Ball, getreten wird, fliegt sie gegen den Tisch. Oder den Schrank. Oder gegen die Wand, wo sie dann Flecken hinterlässt. So wie „er“ auf ihr Flecken hinterlässt.

Also, nein. Nicht zusammenrollen. Verschmelzen, mit der Tapete. Und hoffen, dass sie davonfliegt, bevor er den Ball treten kann.

„Für manche Kinder ist Schule der einzige sichere Ort“

Susanna Krüger, Geschäftsführerin der Organisation „Save the Children“

Ich doch nicht!

Ich doch nicht.

Neh. Kann ja gar nicht sein.

Ich halte mich doch an die Regeln. Nicht rausgehen. Keine Umarmungen. Abstand halten. Hust- und Niesetikette und all der andere Mist. Mir kann also gar nichts passieren.

Und doch…

Seit heute morgen habe ich einen leichten Schnupfen. Nicht wirklich schlimm, nur eine Nasenhälfte, die andere ist noch völlig frei, wirklich! Und das Kratzen im Hals ist bestimmt nur Raucherhusten. Ich habe mich doch an alle Regeln gehalten, wie also könnte ich mich infiziert haben?

Okay, ich erinnere mich, dass ich in der letzten Woche in diesem Bus gesessen habe. Da musste ich Halteknöpfe drücken. Hatte ich mir danach die Hände gewaschen?

Und am Tag drauf, da war ich unterwegs, habe eingekauft. Da konnte ich nicht immer den Sicherheitsabstand einhalten. An der Kasse ist es viel zu eng dazu.

Ich sitze hier und wäge ab. Leichter Schnupfen. Halskratzen. Eine leichte Abgeschlagenheit. Alles Dinge, die mich nie daran gehindert hätten, meiner Arbeit nachzugehen. Und heute habe ich einen Termin. Einen, der mir sehr wichtig ist.

Soll ich abwarten, es darauf ankommen lassen? Vielleicht ist es ja gar nicht dieser unsägliche Virus.

Aber dann denke ich daran, was die Praxis, zu der ich gehe, anderen Menschen ermöglicht, auch für andere Menschen eine Art Ankerpunkt ist. Einer der letzten Orte, zu denen man hingehen kann, etwas Gutes für sich tun kann.

Und dann denke ich an meinen Coach, den ich morgen treffen sollte. Marja ist eine der Personen, die zu jenen gehören, die man als “gefährdet” betrachten sollte. Asthmakrank.

Wenn ich jetzt also nichts mache, einfach weitermache, als wäre dieser Schnupfen nur ein harmloser Schnupfen, könnte ich dafür verantwortlich sein, dass diese Praxis schließen muss und dass ein Mensch, den ich sehr schätze, an Covid erkrankt. Ich könnte im Bus, den ich heute nutzen müsste, noch weitere Menschen anstecken.

Seufzend greife ich zum Telefon, sage den Termin für heute ab. Dann rufe ich meinen Coach an. Und während wir reden, laufen mir auf einmal Tränen übers Gesicht, denn mit diesen Absagen verschwinden auch für mich zwei wichtige Ankerpunkte.

Ich fühle mich hilflos. Ja, ich weiß, was ich zu tun habe. Abwarten, die Symptome beobachten, mich beim Arzt wegen eines Tests melden. Doch wie soll ich dahin kommen? Und was, wenn ich schlimm erkranke? Was passiert dann mit meinem Sohn?

Was am meisten aber schmerzt, ist die Tatsache, dass ich mich mit diesen Anrufen der letzten Kontakte beraubt habe, die mir so wichtig sind. Stützen meines Alltags. Ankerpunkte, die ich so dringend brauche, um selbst einer sein zu können, für meinen Sohn.

Hier in unserer kleinen Zweisiedelei wird es erst einmal so weitergehen wie bisher, obwohl sich die Anzeichen einer sich auflösenden Tagesstruktur mehren. Die kleineren und größeren Probleme werden wir in den Griff bekommen, das ist kein Thema.

Doch in dem Moment, in dem ich nicht mehr sagen konnte: “Ich doch nicht”, hat sich etwas geändert. Es ist etwas verloren gegangen. Meine Unantastbarkeit. Diese Unbesiegbarkeit der Gesunden. Die Sicherheit, dass mir nie wirklich etwas Schlimmes passieren wird.

Das schafft Raum für Demut.

Jetzt halte ich wirklich inne.

Wenigstens für einen kurzen Moment.

Dann werde ich wohl ins Taschentuch schniefen, meine Hände waschen gehen und dafür sorgen, dass in unserem kleinen Reich die Fahnen hochgehalten werden.

Der Verrat der Stille

Es gibt Zeiten, in denen jedes Wort zuviel ist.
Selbst das gedachte Wort kann eines sein, das Katastrophen auslöst.
In solchen Zeiten hilft es, seine Gedanken abstrakt zu strukturieren. Man spielt die Konzentration fördernde Spielchen, malt Bilder ohne Motiv, man sieht anderen Leuten beim Leben zu und versucht dies in Einklang mit seinem Weltbild zu setzen.

Irgendwann taucht man aus der Tiefe des Schweigens auf, in der Hoffnung, etwas gelernt zu haben. Es steigen Worte auf. Worte, die die abstrakten Gedanken zu einem Gebilde formen, das die besagte Lehre verdeutlichen soll. Manchmal lebt man dann mit diesem Gebilde einige Zeit; sicher, endlich einen Weg gefunden zu haben. Das geht so lange gut, bis das Gebilde anfängt zu zerfallen. Das kann am Alter des Gebildes liegen. Erosion, Erruption, ein Sturm – was auch immer – kann dazu führen, dass das Gebilde brüchig wird und langsam oder auch blitzschnell in sich zusammenfällt.

Die Twintowers waren ein solches Gebilde. Gebaut nicht unbedingt für die Ewigkeit, aber zumindest für unzählige Epochen. Ein Tag, also ein winziger Bruchteil der Ewigkeit reichte, um sie zu Fall zu bringen.

Aber sie standen lang genug, um sie in das Gedächtnis der Welt einzubrennen. Die Menschheit wird sich an sie erinnern. Einerseits aufgrund ihrer Beliebtheit und ihres ursprünglichen Symbolcharakters. Andererseits aber auch durch den Tag, die Ereignisse, die zu ihrem Untergang führten.

Solche Momente bleiben uns auch oft länger im Gedächtnis als das, was unser Weltbild, unser Konstrukt, das wir aus den Tiefen unseres Schweigens mitbrachten. Die Ereignisse, die zu dem führten, was unsere Zuversicht, unsere Sicherheit, was uns kleinkriegte.

~

Lucy war noch immer gefangen. Gefangen in dem Kokon, der die Erkenntnisse aus den Ereignissen der letzten Jahre von ihrer Seele fernhalten sollte. Ein Schutz, einer Mauer gleich. Einer Mauer, die über der Erde hoch bis in die Himmel ragte, unterhalb bis in die Tiefen der Hölle reichte. Niemand würde diese Mauer überwinden können, und da der Kokon fester als die Hülle eines Panzers war, konnte ihn auch niemand durchdringen.

Schutz ist gut und gesund, dann vor allem, wenn Gefahr droht. Man kennt das genug aus Kriminalromanen: Zeugen zum Beispiel, die in wichtigen Fällen aussagen sollen, werden in Schutzhaft genommen. Prominente, Politiker, Wirtschaftsgrößen, all diese Menschen haben Leibwächter, die sie schützen.

Aber auch Menschen, die ungebetene Gäste von sich fern halten wollen, beauftragen Wachmänner, errichten Mauern und Zäune, die andere fernhalten sollen. Patienten mit enormer Immunschwäche müssen ihr Leben in isolierten Räumen oder Zelten verbringen.

All diese Vorsichtsmaßnahmen erfordern Kraft, Kraft, die für das eigentliche Leben wesentlich notwendiger wäre, und sie isolieren.

Zwei Faktoren, die deutlich dazu beitragen, die Vulnerabilitätsgrenze deutlich zu senken, sprich: Sie tragen dazu bei, Menschen verletzbar zu machen. Also wirkt die Schutzmauer, mit der man sich umgibt, wie eine Art Virus: Sie hält Faktoren ab, die uns helfen können, mit Verletzungen umzugehen, und sie trägt dazu bei, dass die Einsamkeit uns krank macht.

Lucy allerdings sah das nicht. Oder sagen wir besser: Lucy wusste es, aber sie empfand es nicht so.

All diese Verletzungen, die ihr in ihrem Leben zugefügt wurden, hatten sie gelehrt, dass Vertrauen und Offenheit, Nähe und Zuneigung Ausgangsfaktoren für furchtbare Verletzungen sind. Reden und Zuhören führte zu Vertrauen und Nähe, also schwieg sie. Und sie hörte nicht zu.

Seit der Schießerei in dieser Diskothek, bei der sie eigentlich mit einem Schrecken davongekommen war, war Lucy taub. Sie sah die Menschen reden, aber sie hörte nichts. Von Zeichensprache oder Lippenlesen wollte sie nichts wissen und die meisten Notizen warf sie ungelesen weg.

Sie saß in ihrem Zimmer in dem Pflegeheim, in dem sie seither wohnte, sah auf den Fernseher und schaute Serien. Eine Serie nach der anderen. Die Untertitel reichten ja, um zu verstehen, was diese Menschen von sich gaben. Pfleger holten sie zum Essen, brachten sie zu ihrer Therapiestunde, begleiteten sie in den Park, wenn sie an die frische Luft sollte. All das ließ sie zu. Schweigsam, regungslos, unbeteiligt.

Nur nachts, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, weinte sie leise in ihre Kissen.
Der Schmerz der letzten Verletzung war zu groß um nicht zu weinen.

Niemand wusste davon, und niemand würde je erfahren, dass der Mann, der diesen Anschlag auf die Diskothek ausgeübt hatte, dort durch sie Zutritt erhalten hatte. Die einzigen Zeugen hierfür waren tot, und sie hatte nur überlebt, weil sie sich im Küchenhof des Etablissements in einem Müllcontainer versteckt hatte.
Als die Schießerei begann, war sie gerade in der Damentoilette und war von dort aus in die Küche gekrochen, auf allen Vieren.

Die Tür zum Hof stand offen. Es war dunkel dort, dunkel wie in einer Neumondnacht. Die einzigen Lichtquellen stammten aus dem Flur hinter ihr und von einem laternenartigen Außenlicht, das schon bessere Nächte gesehen hatte. Der Boden war von Nässe durchtränkt, es stank nach Müll und Urin. Der Koch und die Küchenhilfen nutzten den Hof scheinbar auch als Austritt.

„Sie waschen sich nicht die Hände“, schoss es Lucy durch den Kopf, während sie weiter in die Mitte kroch. Ekel stieg in ihr auf, sie musste würgen. “Sie pinkeln in den Hof und waschen sich danach nicht die Hände, die Schweine.”

Die Küchenmannschaft stand in einer Ecke zusammengedrängt und starrte sie an, als wäre sie einem Horrorfilm entstiegen. In gewisser Weise war sie das ja auch. Auf diese Leute musste sie so wirken, ein Alien oder ein Todesengel, der ihnen nun den Tod ankündigte. Sie überbrachte das Todesurteil jenen, die andere Menschen durch ihre Unreinheit mit Krankheiten infizierten.

„Du denkst unlogisch“, dachte sie weiter und bemühte sich darum, den Ekel und die Wut auf diese Leute zu vergessen, denn die ungewaschenen Hände des Küchenpersonals war zurzeit das geringste Problem.
„Merks dir und melde es dem Gesundheitsamt, wenn du hier heil wieder herauskommst“, befahl sie sich. „Jetzt brauchst du erst einmal ein Versteck um zu überleben.“

Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Einen Ausgang hatte dieser Hof wohl nicht; zumindest war keiner zu entdecken, und wäre dort einer, dann hätte das Personal ihn sicher schon als Fluchtweg benutzt. Es gab nur diese dunkle Ecke, in der die Küchencrew stand und die Müllcontainer, die an einer der Seitenwände aufgereiht waren. Wieder schüttelte sie der Ekel, aber sie sah keinen anderen Ausweg: Schnell stand sie auf, lief zu der Seitenwand, kletterte in den ersten Container und zog den Deckel über sich zu.
Hier roch es noch grauenvoller und sie hatte das Gefühl, dass sie nicht atmen konnte.
Sie wollte sich übergeben, aber sie hatte Angst, dass die Würgegeräusche auf sie aufmerksam machen würden.
Vielleicht würde der Mörder ja gar nicht auf den Hof gehen? Vielleicht würde er sich mit den Opfern in den Gasträumen begnügen?

Sie hörte die Sirenen. Ein Klang der Hoffnung, und vorsichtig zog sie den Deckel ihres Verstecks einen winzigen Spalt breit auf, um hindurchzuspähen.

Sie sah… nichts.

Aber sie hörte kreischende Bremsen, die darauf hinwiesen, dass etliche Autos sich dem Etablissement in hoher Geschwindigkeit genähert hatten. Eine Stimme rief etwas durch ein Megaphon, eine Nachricht für den Täter?

Da! Ein Geräusch hinter ihr ließ sie erstarren. Wer war das? Ein rauschendes Knarzen erklang, eine gedämpfte Stimme antwortete.

„Habe Stellung bezogen. Hier kann der Kerl nicht raus.“

Eine Pause, wieder dieses Knarzen. Die Antwort des Einsatzleiters? Noch einmal vernahm sie die leise Stimme: „Verstanden. Over und out.“

Dann: Stille. Wo das Küchenpersonal abgeblieben war, konnte sie nicht erkennen, nicht von diesem Standort aus.

Wie eine ungebetene Antwort auf diese Frage hörte sie leises Wimmern, darauf eine zischende Stimme: „Was machen sie da? Los, verstecken sie sich hinter den Containern! Schnell!“

Eilige Schritte trampelten über den Hof, von der Stimme begleitet: „Chef, das Küchenpersonal ist hier im Hof, keine gute Idee, die Täter hierher zu scheuchen, Aktion abbrechen, schn…“

Schüsse.

Von der Küche aus ertönten Schüsse, begleitet von Schreien, Schreien vor Entsetzen und Schmerz. Hinter ihr antworteten weitere Schüsse, unzählige, schnell hintereinander.
Lucy zog sich zurück, ganz tief in den Container, so tief, dass sie nichts mehr hören und sehen konnte.

Die Stille blieb, als man den Container öffnete und sie daraus befreite: Sie war nun ihr steter Begleiter.

Niemand wusste, dass dieser Mann, der all diese Menschen für seinen kleinen Privatkrieg geopfert hatte, mit ihr gemeinsam die Diskothek betreten hatte. Dass dieser Mann ihr Avancen gemacht, sie zu einem Date eingeladen hatte. Dass er durch sie in diese Diskothek Zutritt erhalten hatte, zu der nur Eingeweihte Zutritt bekamen. Eingeweihte wie sie, denn sie ging regelmäßig dort zum Tanzen hin.

Sie würde nie wieder tanzen.

Nein, das lag nicht daran, dass sie taub war. Sie konnte ja die Bässe noch hören und spüren, das also wäre nicht der Hinderungsgrund. Aber bei jedem Tanzschritt hörte sie die Schüsse. Die Schüsse und die Schreie, und sie wurden von einem ganz besonderen Lied begleitet: Ihr Lieblingslied, das, zu dem sie immer so gerne getanzt hatte, nur hatte dieses Lied einen anderen Text: Die Worte des Mannes, der ihr so sehr geschmeichelt hatte, dort in der Bibliothek. Der ihr so sehr geschmeichtelt hatte, dass sie Vertrauen zu ihm fasste.
Sie hatten sich ein paar Mal dort gesehen, und irgendwann standen sie beide am gleichen Regal, griffen nach dem gleichen Buch. Eine Berührung, die sie ein bisschen elektrisierte.

Sie unterhielten sich, öfter. Er sei Hobbyzauberer, auf der Suche nach neuen Inspirationen für seine Geschichten rund um die Kunststückchen. Sie erzählte ihm, dass sie einfach gerne las, weil sie viel allein lebte und nicht besonders begeistert vom Fernsehprogramm war. Warum sie allein sei, wollte er wissen, und sie erklärte es ihm zögernd. Sie war eben ein bisschen schüchtern, nicht gut darin, Bekanntschaften zu schließen.

Er verstand das nicht. Die Männer müssten sich doch um sie reißen, denn sie habe etwas Magisches an sich, hatte er gesagt. So etwas Magisches, dass er sie – entgegen seiner Gewohnheiten – sogar an einer Supermarktkasse angesprochen hätte.

Als man sie befragte, zeigte man ihr ein Foto von dem Attentäter. Er war tot, von mehreren Kugeln durchsiebt. Dieses Wissen ließ sie endgültig in der Stille verschwinden. Nun brauchte sie all diese Magie für sich selbst. Mit dieser Magie hielt sie allen Einflüsterungen stand. Sie hörte einfach nicht mehr zu. Nicht den Pflegern, nicht den Therapeuten, nicht den Arbeitskollegen. Niemandem. Seit fast einem Jahr nun lebte sie in ihrer selbstgewählten Stille, wob ihren Kokon immer dichter um sich, stieg immer tiefer hinab, auf den Grund ihres Seins.

Sie hatten lange um sie gekämpft, versucht, diesen Wall zu durchbrechen. Sie sprachen zu ihr, laut, leise. Sie sangen, spielten Musik, lasen ihr vor. Sie legten ihr Bücher auf den Tisch, die sie sorgsam vor ihrer Zimmertür ablegte, ungelesen. Nichts erreichte sie, weder Bewegungstherapie, noch Gestalttherapie, Berührungen – gar nichts. Schlimmstenfalls wehrte sie sich mit Gewalt, bestenfalls blieb sie einfach unberührt.

Irgendwann hatten sie aufgegeben. Sie schlief, wusch sich, ging essen, saß zwei Mal in der Woche die 50 Minuten ihrer Therapiestunde ab und schaute ansonsten von morgens bis abends Fernsehen.

Nachrichten sah sie nicht, Dokumentationen ebenfalls nicht; gegen Kinofilme hegte sie Aversionen. Statt dessen sah sie sich Soaps an, begleitete aufmerksam jeweils eine Serie von Anfang bis zum Ende, und fing erst dann eine neue Serie an.
Es schien, als suche sie dort etwas, etwas, was niemand ihr zeigen, niemand ihr geben konnte.
Und so verbrachte sie ein ganzes Jahr dort. Vier Jahreszeiten gingen an ihr vorbei, ohne dass sie ihnen Aufmerksamkeit schenkte, ohne dass sich etwas änderte.

Und nun war sie wieder im Park und absolvierte ihre tägliche Runde, die sie bei trockenen Wetter stoisch hinter sich brachte.

Der Frühling begann soeben, lag noch im Widerstreit mit dem Winter. An manchen Tagen war es glatt auf den Wegen, so wie auch heute, und Mark, ihr Bewegungstherapeut, nahm sie an den Arm, um sie zu stützen, damit sie nicht fiel. Heftig zog sie ihren Arm weg und sah ihn finster an.

„Lucy. Ich will nur Halt geben, denn hier ist es stellenweise sehr glatt“, tadelte er ihre Reaktion und griff erneut nach ihrem Arm. Ihre Gegenwehr fiel noch stärker aus, sie riss ihm den Arm richtiggehend aus der Hand. Mark aber verstärkte reflexartig seinen Griff, gerade zu dem Zeitpunkt, als sie über nasse, halb gefrorene Blätter liefen. Das Unvermeidliche geschah: Sie verloren beide das Gleichgewicht und fielen übereinander.

Entsetzt kroch Lucy unter Mark hervor, Panik stand in ihren Augen. Sie rappelte sich auf, verzog vor Schmerzen das Gesicht und fiel wieder hin: Irgendetwas war mit ihrem Bein. Sie konnte nicht aufstehen. Sie sah zu Mark. Er lag regungslos am Boden, aber die Kälte ließ seinen Atem wie kleine Dampfwolken in die Luft steigen.

Lucys Panik ebbte ab: Er lebte. Er lebte, und es war still. Keine Sirenen. Kein Blut. Aber es war kalt, und es war nicht seine Schuld, dass sie hier war, das wusste sie. Also kroch sie zu ihm und versuchte ihn zu wecken. Sie rüttelte an seiner Schulter. Keine Reaktion. Lucy boxte ihn in die Seite, aber auch das half nicht. Schließlich zog sie ihn zu sich, um ihn wenigstens ein wenig wärmen zu können, und wartete.

Das konnte sie gut. Seit sie stundenlang in diesem Container gesessen hatte, ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde, konnte sie verdammt gut warten und still halten.

Sie konnte sich nicht melden. Nicht melden, nicht rühren, nicht hören, nichts. Sie war stumm, taub, gelähmt vor Schreck. Sie spürte die Bewegungen um sich, um den Container herum. Schritte. Schweres Gerät, das auf dem Boden abgestellt wurde. Die Container wurden hin und hergeschoben. Aber Lucy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie auf sich aufmerksam machen konnte. Sie spürte, wie jemand gegen den Container schlug, einmal, zweimal. Sie sah, wie jemand den Decke aufriss, sah die Hand, die auf sie zeigte. Aber sie konnte sich nicht rühren, nicht reden, nicht hören.

„Zumindest bin ich nicht blind“, dachte sie und ließ zu, dass sie aus dem Container gehoben wurde. „Und riechen kann ich noch.“
Der Gestank blieb, selbst als man sie gewaschen und neu eingekleidet hatte.
Der Gestank und die Stille.

„Azarro“, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Rasierwasser, das sie schon seit gefühlten Ewigkeiten kannte. Sie hatte es irgendwann einmal ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt, und er trug seither kein anderes mehr. Ob das nun auch noch so war? Nachdem sie ihn, ihre ganze Familie verlassen hatte? Sie wusste es nicht. Wollte es nicht wissen. Ihr Vater war auch nur so ein Worthülsenmensch. Warum erinnerte sie sich jetzt an den Geruch?

Wo war der Gestank geblieben?

Lucy sog den Atem tief durch die Nase ein. Der Duft des Rasierwassers blieb, es kam von Mark. Also keine Erinnerung, ein Geruch. Ihre Nase reagierte wieder.

Wieder stieg Panik in Lucy auf. Das war nicht richtig! Es war ihre Schuld, dass diese Menschen gestorben waren! Warum sollte sie Gutes riechen dürfen, wenn der Gestank sie gerettet hatte, aber sonst niemanden? Selbst die Küchencrew hatte es letztendlich erwischt, weil sie auf dem Weg hinter den Müllcontainer vom Mörder abgeknallt worden waren, wie die Enten in einer Kirmesbude, einer nach dem anderen.
Nur sie hatte überlebt, im Müll. Im Gestank. Sie, die das Monster eingeschmuggelt hatte. Was für eine Ironie, dass sie genau dort überlebt hatte, wo sie eigentlich hingehörte. Ausschussware. Müll. Dreck. Abschaum.

Sie verbot ihrer Nase den Geruch des Rasierwassers, und die Rückkehr des Müllgestanks war beinahe tröstend für sie.

Magie. Mit dieser Magie konnte sie den Gestank bei sich behalten, und sie konnte ihre Stille erzwingen.

Aber ihr Therapeut, Mark, der musste dringend Hilfe bekommen, das wusste Lucy. Vorsichtig tastete sie in den Taschen seines Kittels und fand sein Handy. Sie wählte die Notrufnummer, die Nummer, die die Pfleger und Therapeuten wählen sollten, wenn die Irren ausrasteten, so wie Lucy das im Stillen bei sich nannte.

„Hallo, Mark? Was ist passiert?“ Die Stimme klang sachlich und auffordernd, so dass jeder, selbst in einer hektischen Situation oder in Panik wieder einen klaren Kopf bekommen konnte. „Mark, was ist los? Wo sind sie?“ Die Stimme wurde energischer, forderte eine Antwort. Aber Lucy konnte ja nicht hören und reden.

Warum hörte sie dann diese Stimme?

Nein… nein… das durfte nicht sein! Sie durfte nicht hören können! Sie war taub! Wo war die Stille?

Hektisch lauschte Lucy in sich hinein.

Schüsse! Schreie! Das Lied mit seinen Worten! Nichts davon war da! Statt dessen hörte sie diese Stimme aus der Notfallzentrale, und die eines Vogels, der auf einem Baum saß und eine muntere Melodie zwitscherte.

~

Minuten später erreichten Sanitäter die Unfallstelle im Park. Einen Moment lang standen sie wie erstarrt, kaum in der Lage das zu erfassen, was sie vor sich sahen:
Mark lag regungslos auf dem Boden. Blut sickerte aus einer Wunde an seinem Hinterkopf. Ein Stück weiter weg kroch seine Patientin auf allen Vieren von ihm fort und schrie ihre Qual hinaus in die Frühlingswelt.

Doch es war totenstill, bis auf das Lied des Vogels, hoch über ihr.

 

 

Verrat der Stille

Kate Havnevik ~ Grace

Klassentreffen

Es ist wieder einmal soweit: Klassentreffen.

Helga hat sich unglaublich viel Mühe gemacht: Zehn Jahre nach dem letzten Treffen sind viele Klassenkameraden umgezogen, haben sich scheiden lassen, neu geheiratet. Namen, Anschriften, all das hat sich geändert, und da natürlich niemand daran dachte, unsere selbsternannte Präsidentin des Festkomitees darüber zu informieren, sind etliche Einladungen wieder zurückgekommen.

Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie sich davon aufhalten ließe. Ein bisschen im Internet recherchieren, die Beziehungen zum Einwohnermeldeamt spielen lassen, andere Ehemalige nerven und ausfragen – und endlich hat sie alle erreicht. Der Termin ist so gelegt, dass eigentlich jeder zusagen kann: Genug Zeit zu planen und einen Abend freizuhalten hat sie klugerweise eingeräumt. Das Treffen findet in einer Pension statt, die moderate Preise bietet, weil Paul, der Inhaber der Pension, der Bruder von Erwin ist und Erwin unser Klassensprecher war. So können auch die, die weit weggezogen sind, ohne desaströse Ausgaben an dem Treffen teilnehmen. Die klassischen Ausreden waren damit bereits im Vorfeld ausgeräumt, so würden lediglich die nicht auftauchen, die immer fehlten.

Unzählige Mails mit Erinnerungen („Nicht vergessen: Am 23. Oktober ist es soweit! Du kommst doch ganz gewiss?“), Anweisungen („Bringt bitte alle das Jahrbuch mit und das T-Shirt mit den ganzen Unterschriften! Wir haben ein Spiel vorbereitet!“), Regeln („Die Partner bleiben bitte daheim, ebenso Kind, Hund, Katze, Maus, haha!“) und sonstigen für Helga so wichtigen Details sind vermutlich bei jedem von uns hereingeschneit; mindestens genauso viele Anrufe erreichten uns, und nein, Leute: Nicht rangehen ist bei einem Anruf von Helga keine Option. Dann folgen weitere Anrufe im Fünf-Minuten-Takt, so wie eine weitere Mailflut, in der um dringenden Rückruf gebeten wird.

Aber gut, alle zehn Jahre kann man mal so eine Zeit mitmachen. Letztendlich lassen wir das alles nun zum dritten Mal über uns ergehen, und es hat sich die beiden vorhergehenden Male gelohnt. Viele nette Gesichter, das Erstaunen auf allen Seiten, was aus uns geworden ist, gute Gespräche und viel Gelächter – auch über Helgas militärische Vorbereitungsweise – machen das locker wieder wett.

Natürlich gibt es auch Leute, die würde man am liebsten gar nicht mehr sehen.

Ludwig zum Beispiel hätte ich beim ersten Klassentreffen am liebsten nicht dabeigehabt. Die Erinnerung daran, dass er auf der Abschlussfeier mit mir Schluss gemacht hat um mit Karina aus der 10c zu knutschen, saß einfach noch wie ein bohrender Nagel in meinem Selbstbewusstsein. Als ich aber dann sah, was aus ihm geworden war, dankte ich allen Göttern und insbesondere Karina dafür, dass sie ihn auf Abwege geführt hatten:

Ich hatte ihn größer in Erinnerung. Größer, mit mehr Haaren auf dem Kopf. Wo waren seine wunderschönen Wuschellocken hin? Da war nur noch ein schütterer Rest, der mehr nach einem verzweifelten Versuch, Haare vorzutäuschen, aussah. Und dann diese Brille! Glasbausteine! Hatte der Mann noch nichts von Kontaktlinsen gehört? Ich muss heute noch grinsen, wenn ich daran denke, wie Andrea und ich zusammenstanden, kichernd zu ihm rüber starrten und all seine schrecklichen Veränderungen aufzählten, die uns auf den ersten Blick auffielen.

Als ich am Ende des Abends Andrea und Ludwig knutschenderweise im Auto sitzen sah, musste ich noch mehr lachen.

Im Jahr darauf traf es mich allerdings noch schlimmer. Ansgar war scheinbar für eine Weile zurück in Deutschland und beehrte uns deswegen mit seiner Anwesenheit. Ansgar war seinerzeit immer der Klassenbeste gewesen und wurde uns Verlierern als leuchtendes Beispiel vorgehalten, was er ganz offen und unheimlich genoss. Nach unserem Abschluss absolvierte er noch das Gymnasium und schloss dort mit Summa Cum Laude ab. Natürlich studierte er. Irgendwas mit Bio oder Chemie, oder mit beidem. Auf dem ersten Klassentreffen fehlte er, und Helga erzählte lang und breit mit dieser bedeutungsschwangeren Stimme, die andeuten sollte, dass nun etwas hochdramatisch Wichtiges ans Licht kommen würde, dass er nun ein Forschungsprojekt in den USA leiten und gerade in einer wichtigen Phase des Projekts stecken würde, was ihn leider daran hindere zum Treffen zu kommen.

Dafür war er dann bei dem zweiten Treffen dabei und sonnte sich in der Bewunderung aller, die ihm Respekt zollten für all das, was er von seinem Lebensstil in den USA erzählte. Seine Lieblingssätze waren: „Das kennt ihr hier natürlich nicht.“, und: „Habt ihr das hier nicht? Ach, ja….“

Dabei setzte er eine derart gönnerhafte Miene auf, dass ich ihm am liebsten sein Flugticket ins Maul gestopft und mit einem Tritt auf den Heimflug befördert hätte. Ohne Flugzeug. Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, auch allen, wirklich allen Leuten ein Gespräch aufzuzwingen, gleich ob man wollte oder nicht, und so stand er tatsächlich irgendwann auch bei uns.

Ich verdrehte die Augen und hörte gar nicht richtig zu, was er da zu erzählen hatte, aber das schien ihn gar nicht zu stören. Er erzählte und erzählte, bis ich mich höflich entschuldigte und in Richtung WC verschwand, um endlich meine Ruhe zu haben.

Nun, vermutlich wird er in diesem Jahr wieder zu beschäftigt sein, also freue ich mich tatsächlich wieder ein bisschen auf das Treffen.

„Hey, schön dass du da bist!“ Helga stürmt auf mich zu, kaum dass ich den Festraum betreten habe und fängt sofort an auf mich einzuschwatzen, als seien wir Busenfreundinnen. Oh Gott. Ich konnte Helga nie ausstehen, weil sie immer alles machen wollte, sich für jeden Mist am schnellsten und am lautesten gemeldet hatte. Ihre Noten waren grottenschlecht, aber die Lehrer mochten sie natürlich, weil sie immer so hilfsbereit war und hievten sie durch jedes Schuljahr. Jeden Sommer betete die halbe Klasse stumm darum, dass sie es ein einziges Mal nicht schaffen würde. „Bitte! Einmal nur! Eine Ehrenrunde schadet doch niemandem!“, bettelten wir bei der Zeugnisvergabe unsere vorhandenen oder eingebildeten Götter an; stumm, um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht. Und jedes Jahr entgleisten uns die Gesichtszüge, wenn sie dann stolz verkündete: „Versetzt in Klasse Xb!“

Wie dem auch sei, ich mied Helga während unserer Schulzeit wie Strickstrumpfhosen im Frühjahr. Auf der weiterführenden Schule galten Strickstrumpfhosen als gesellschaftlicher Tod. Helgas Gesellschaft war eher so, als wäre man an einem Pfahl im Meer angebunden, bei Ebbe bis zur Brust im Wasser, nicht wissend, ob Haie oder die Flut letztendlich für Deinen Tod sorgen würden. Bei strahlender Sonne betetest Du irgendwann um einen Hai, der dann aber sicherlich nicht auftauchen würde.

Und genau diese Helga hakt sich nun bei mir unter und erzählt mir strahlend, wie toll alles geworden sei und dass fast alle zugesagt hätten. Ich nicke abwesend und suche nach einem Grund, mich höflich bedauernd von ihr loseisen zu können, als der Name „Ansgar“ fällt.

„… stell dir vor, und gestern Abend rief er an und erzählte, dass er es doch noch schafft, und so ist er quasi unser Überraschungsgast des heutigen Abends!“ Helga fängt an zu kichern. Ein schulmädchenhaftes Gackern, das mich an jene Zeiten erinnert, in denen ich mit meinen Freundinnen auf Feten zusammengestanden und zu den Jungs rüber gestarrt habe. Aber okay, da waren wir 14 Jahre alt, nicht ein halbes Jahrhundert! Allerdings rückt diese Peinlichkeit in den Hintergrund, als ich ihre nächsten Worte wahrnehme:

„Ich dachte mir, dass ich euch nebeneinander setze. Ihr habt euch das letzte Mal so gut unterhalten, sagte Ansgar.“ Sie zwinkert mir auffällig zu und raunt dann auf derart vertrauliche Weise in mein Ohr, dass ich nicht weiß, was ich schlimmer finden soll: Ihren anzüglichen Ton oder der Inhalt dessen, was sie sagt. „Da geht noch was zwischen euch… Du bist doch immer noch Single, oder?“

Dem Himmel sei Dank wartet sie gar nicht auf meine Antwort sondern löst sich von mir und flattert zu dem nächsten bedauernswerten Gast, der gerade den Weg zu uns gefunden hat.

Ich lasse mich auf den nächsten freien Stuhl sinken und stöhne auf. Kurz überlege ich, ob ich nicht heimlich verschwinden soll, aber da steuert unsere Gastgeberin wieder auf mich zu, den Stargast im Schlepptau. Ansgar sieht mich erfreut an, und ich bemühe mich, zumindest höflich zu sein. Nachdem wir uns die Hände gereicht haben, will er gleich ein Gespräch mit mir anfangen. Ich aber drehe mich um und stürme auf Ludwig und Andrea zu, als seien sie die rettende Oase in der Wüste.

Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich noch, wie Helga der Mund offen stehen bleibt. Sie sucht offensichtlich nach passenden Worten, um die Situation noch zu retten, aber das ist mir egal. Soll sie doch mit ihm fertig werden.

Andrea und Ludwig schauen verkrampft lächelnd durch den Raum. Der Abstand zwischen ihnen und ihre Körperhaltung verrät mir, dass Helga auch hier die Zeichen missdeutet und die beiden Falschen zu einem Paar zusammengefügt hat: Die beiden sind kein Paar geworden, sondern haben nur die Nacht miteinander verbracht.Nun müssen sie schon zum zweiten Mal dafür büßen, dass sie die Finger nicht voneinander lassen konnten.

Beim zweiten Treffen hat Andrea mich an ihre Seite gezogen und mir das ganze Drama erzählt. Am Morgen danach sei sie durch eine keifende Stimme neben ihm aufgewacht und hätte den Schock ihres Lebens bekommen. Offenbar hatte Ludwig ihr verschwiegen, dass er noch bei seiner Mutter wohnte und diese die Angewohnheit hat, ihrem Söhnchen den Kaffee ans Bett zu bringen. Als Mutti nun ihren Ludwig mit einer Frau im Bett erwischte, brach wohl ihr Weltbild zusammen, und das Drama, das folgte, war laut meiner ehemaligen Banknachbarin filmreif: Andrea im Bett, zwischen ihr und ihren Kleidern die in Tränen aufgelöste Mutter; neben ihr ein ertappter Ludwig, der mit den beiden Damen völlig überfordert war. Kein Wunder, dass die beiden die Klassentreffen am liebsten in zwei verschiedenen Städten gefeiert hätten.

Heute revanchiere ich mich und klage Andrea mein Leid: Lautstark lasse ich mich über Helgas unglückliche Hand bei der Wahl der Tischnachbarn aus. Darüber, dass ich neben dem nervigen Streber sitzen muss, der doch eh nur wieder erzählt, was er drüben in den USA für tolle Sachen macht, die uns Hinterwäldlern noch überhaupt nicht bekannt seien. „Mir geht dieses herablassende Getue auf den Nerv. Der tut so, als seien wir bedauernswerte Höhlenmenschen, die Kultur für eine Zahnpasta halten!“

Kurz überlegen wir, ob wir für das Essen nicht die Plätze tauschen können. Aber Helga wäre nicht Helga, wenn sie uns diese Eigenmächtigkeit durchgehen lassen würde. „Oh nein, das geht auf gar keinen Fall!“, tönt sie entsetzt und schaut uns an wie ein getroffener Hund. Nicht umsonst habe ich doch alle so hingesetzt, darauf basiert doch später das ganze Spiel!“

Ich schließe kurz die Augen und überlege, ob ich sie oder mich umbringen soll. „Ich will nicht mit Mister USA-Angeber Ansgar spielen“, tönt es rebellisch durch meinen Kopf. Den schockierten Minen in meinem Umfeld entnehme ich, dass dieser Satz wohl nicht in meinem Kopf geblieben, sondern über meine Lippen hinaus durch den ganzen Raum geschallt ist.

Oh, Mann.

Sowas passiert immer nur mir. Millionen Menschen gehen zu Klassentreffen, haben einen langweiligen bis angenehmen Abend. Die Hälfte davon knutscht im Anschluss mit einem ehemaligen Klassenkameraden und geht fremd. Aber nur ein Mensch unter diesen Millionen von Menschen reißt die Klappe auf und düpiert den Ehrengast mit respektlosen, unfreundlichen Gedanken, die besser nie gesagt werden sollten.

Nun, jetzt sind sie aber raus, und alle stehen da und starren mich an. Wie die Salzsäuren, oder als hätte jemand die Zeit eingefroren.

Was nun?

Leugnen, dass ich das gesagt habe, kann ich nicht. Laut genug war es, das zeigen mir die Gesichter um mich herum.

„Das war nicht so gemeint“ sagen und lahm dabei lächeln? Peinlicher geht’s nicht mehr.

Außerdem habe ich es ja so gemeint, denke ich trotzig. Ich kann solche Menschen nicht ausstehen, die irgendwo hereinplatzen und von anderen Orten, Vereinen und was sonst auch immer schwärmen, die Anwesenden gönnerhaft darüber aufklären, wie zurückgeblieben sie sind und dass es doch woanders wesentlich klügere, bessere, kompetentere Menschen gäbe als dort, wo dieser Mensch es sich gerade eben bequem macht.

„Rot werden, eine Entschuldigung stammeln und flüchtend den Saal verlassen“, flüstert mir mein kleiner Feigling im Ohr zu, und fast wäre ich der Versuchung erlegen. Dann aber besinne ich mich. Wo soll ich denn hin? In mein Zimmer, bis morgen früh, damit ich niemandem mehr über den Weg laufe? Das ist fast so wie Stubenarrest. Und wenn ich zu alt zum Kichern bin, dann bin ich auch ganz sicher aus dem Alter für Stubenarrest hinaus.

Also denke ich mir: „Aufstehen, Krönchen richten, weitermachen“, recke das Kinn und lächele entwaffnend.

Die bewegen sich immer noch nicht. Und keiner sagt etwas. Ob ich mich noch bewegen kann? Ja klar, sonst hätte ich nicht das Kinn recken können. Eigentlich sieht dieser Mensch ja ganz nett aus, wenn er nur nicht so ein überheblicher Angeber wäre. Schweigen die jetzt schon Minuten lang oder kommt mir das nur so lang vor?

Ein Gedanke nach dem anderen jagt durch meinen Kopf, huscht durch die Ecken, wirbelt Staub auf und verschwindet wieder durch das Dachfenster. Soll ich es erklären, warum ich das gesagt habe?

Noch bevor ich diesen Gedanken weit von mir weisen kann, reißt ihn ein einsames schallendes Gelächter von mir fort. Ich starre entgeistert zu Andrea.

Aber nicht Andrea lacht, sondern Ansgar. Herzlich, ehrlich. Der ganze Mann lacht: Er hält sich den Bauch, die Schultern zucken, und mit weit zurückgeworfenem Kopf brüllt er sein lautes, angeberisches Amilachen heraus. Ich starre ihn an, als sei er verrückt geworden. Die anderen auch. Aber dann fallen sie zögernd mit in sein Lachen ein, überrascht und gleichzeitig erleichtert, weil mein Affront nicht den Abend zerstört hat.

Helga jedoch schaut fassungslos von einem zum anderen, den Tränen nahe, und begreift gar nichts.

Mir geht es nicht viel anders., auch wenn ich keinen Grund zum Weinen sehe. Gut, ich habe das nicht sagen wollen, aber er benimmt sich doch wirklich so. So völlig überheblich und unsensibel. Taktlos, ja taktlos, das ist das Wort, das mir fehlte, und während ich es in meinem Kopf ausprobiere, macht mein Bauch einen kleinen Hüpfer und sorgt gnadenlos dafür, dass ich schamrot werde. Denn letztendlich habe ich ihm gerade eben gezeigt, dass Taktlosigkeit nichts ist, was nur die Amis kennen. Das haben wir hier auch.

Ansgar hat sich soeben ein bisschen beruhigt und grinst mich über meinen ratlosen Blick hinweg an.

„Über sich selbst lachen können“, sagt er in einem höllisch breiten texanischen Akzent, den er mal so eben aus dem Hut zaubert. „Kennt Ihr das hier in Deutschland nicht? Ach, ja…“

Spinatgrün

Spinatgrün

Es ist spät am Abend und ich überlege gerade, ob ich nicht langsam schlafen gehen sollte. Im Fernsehen kommt nichts Gescheites mehr, Musik hören kann ich nicht, weil meine Boxen den Geist aufgegeben haben, und Bücher kann ich im Augenblick nicht mehr sehen.
Einen Moment lang überlege ich, ob die Garantie für die Lautsprecher schon abgelaufen ist. Es könnte sein, dass ich Glück habe. Morgen im Büro kann ich das überprüfen, dort steht der Ordner mit den Rechnungen.
Ich gebe mir einen Ruck und schlurfe zum Bad, doch bevor ich dort ankomme, klingelt mein Handy. Einen unfreundlichen Fluch auf den Lippen laufe ich zurück ins Wohnzimmer.
Oh nein: Anita.
Wenn Anita um diese Zeit anruft, bin ich versucht, das Gespräch nicht anzunehmen. Anita neigt zu Katastrophen, die nicht gerade den Weltfrieden in Gefahr bringen, aber mich bis tief in die Nacht vom Schlaf abhalten, und morgen habe ich einen anstrengenden Tag vor mir, der einiges von mir abfordern wird.
Ich starre das Handy in meiner Hand an, als könne ich es beschwören. „Los, sei endlich still!“, raune ich ihm in Gedanken zu. Und tatsächlich verstummt es. Ich atme auf und lege es an seinen Platz zurück.
Bevor ich die Wohnzimmertür schließen kann, klingelt es erneut. Es scheint dringender zu sein, als ich dachte. Auf jeden Fall wird sie keine Ruhe geben, bis ich das Gespräch annehme.
„Ja?“ Zu mehr Gesprächigkeit bin ich gerade nicht aufgelegt.
„Evchen?“ Ich kenne Anita seit meiner Kindheit. Sie war die Enkeltochter unserer Nachbarn. Aus einem Grund, der sich mir nie erschloss, hängte sie sich an mich und ließ nicht mehr locker und ich brachte es nicht übers Herz, sie abzuwimmeln.
Anita ist wie ein Hundewelpe, der erst noch lernen muss, seinen Weg im Leben zu finden. Gemessen daran, dass Anita – wie ich – über Vierzig ist, ist es bemerkenswert, dass sie sich diesen Wesenszug bis heute behalten hat.
Andere würden Ihr kurzerhand die Fähigkeit zu reflektieren und Schlüsse zu ziehen absprechen und über sie lachen, mich aber bekommt sie mit ihren unterschiedlichen Stimmlagen dran.
Anitas Stimme ist wie ein Regenbogen: Sie birgt so viele Klangfarben in sich, dass sie für jede Situation eine passende findet: Dunkellila für Schmerz, helles Blau für Unbesonnenheit, gelb für ihre Wutanfälle, die sie manchmal bekommt, meistens dann, wenn es gar nicht angebracht ist.
Das, was ich heute aus dem einen Wort heraushöre, ist Rot und bedeutet Panik.
„Anita“, seufze ich, und frage: „Was ist passiert?“
„Spi…“, sie schluchzt. „Spinat..“, wieder stockt sie. „Evchen…“ Die Stimme verliert sich zwischen uns, Stille kehrt ein.
„Nun erzähl schon“, rede ich ihr zu. „So schlimm kann es doch nicht sein.“
„Sie sind spinatgrün!“, bricht es endlich aus ihr heraus, und sie fängt an zu weinen.
Ich bin verwirrt. Bisher kann ich nicht erkennen, was der Anlass für die Tränen ist, und es scheint so, als würde es noch dauern, bis Anita in der Lage sein würde, mich darüber aufzuklären.
Ich lasse sie weinen, bis ich sicher bin, dass sie sich so weit im Griff hat um mir zu antworten.
Ich wage einen erneuten Vorstoß. „Anita?“
„Ja?“ Noch ein Schluchzer. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie bald einen Schluckauf bekommen.
„Sag mir bitte: Was ist spinatgrün?“
Ein Aufheulen dringt durch den Hörer an mein Ohr und ich überlege, ob bei Anita ein Krankenwagen vorbeifährt. Weit gefehlt; als Anita wieder verständliche Worte von sich gibt, bricht das Geräusch ab.
„Du musst herkommen, sofort!“
Und schon hat sie aufgelegt.
Klick.
Ohne ein weiteres Wort.
In einer Mischung aus Verblüffung und Ärger schaue ich meine Hand an, in der das Handy das Freizeichen von sich gibt. Im ersten Moment bin ich versucht, ins Bad zurückzugehen. Es folgen zwei Gedanken:
1. Was ist, wenn es wirklich etwas so Schlimmes ist, dass sie meine Hilfe braucht?
Diesen Gedanken verwerfe ich sofort. Egal, was bei ihr eine spinatgrüne Farbe angenommen hat, es kann bis morgen warten. Eine falsche Farbe ist nichts, was lebensbedrohlich ist.
2. Sie wird wieder anrufen, wenn es sein muss, auch auf dem Festnetz. So lange, bis ich kapituliere und zu ihr fahre.
Das lässt sich nicht von der Hand weisen. Bevor ich mich weitere Stunden vom Telefon terrorisieren lasse, schnappe ich mir den Autoschlüssel und meine Jacke und mache mich auf den Weg zu Anita und ihrem neuesten Problem.
Nach gut einer Viertelstunde Fahrt, einer weiteren Viertelstunde Parkplatzsuche und einem zehnminütigen Spaziergang vom Wagen bis zu Anitas Wohnung stehe ich vor ihrer Haustüre und klingele. Bevor ich ein zweites Mal auf die Klingel drücken kann, reißt sie die die Tür auf.
Im ersten Moment möchte ich laut loslachen, weil ihr Aufzug befremdlich wirkt. Die Rosa- und Pinktöne ihres Schlafanzugs beißen sich mit dem Braun ihres Morgenmantels, und zu allem Überfluss hat sie sich eine feuerrote Mütze aufgesetzt.
Wären ihre Augen nicht vom Weinen so geschwollen, dass man kaum noch die Augenfarbe erkennen kann, hätte ich darüber gespottet.
„Ist heute das Farbenfest und du hast nicht gewusst, was du anziehen sollst?“
So ungefähr ist meine Art Humor und ich lasse ihn gnadenlos an ihr aus. Aber ich sehe ihr an, dass ihr für Sticheleien die Gelassenheit fehlt. Also bemühe ich vorerst darum, die Stimmung auf halbexplosiv zu entschärfen. Für Witze ist später noch Zeit.
„Magst du mich nicht hereinbitten?“ frage ich, und ohne ein Wort tritt sie zur Seite. Gerade eben bin ich im Hausflur, als sie auch schon in Windeseile die Türe hinter sich zuschlägt und sich davor stellt, als sei auf der anderen Seite eine Meute von Meuchelmördern, die sich ihrer annehmen wollen.
Ich übersehe diese Reaktion um nicht noch mehr Dramatik zuzulassen, gehe ins Wohnzimmer und schaue mich um.
Dann frage ich in neutralem Ton: „Und? Was ist denn jetzt so grün wie Omis Blubb?“
Wenn Blicke töten könnten, könnte ich jetzt beim Pfarrer anrufen und ein Begräbnis für mich ordern.
„Komm schon, Anita. Was auch immer es ist, die Welt geht nicht deswegen unter. Zeig es schon.“
Sie zupft an der Mütze und wirft mir Blicke zu, die an ein Kind erinnern, das sich nicht traut, zum ersten Mal vor der Klasse ein Gedicht aufzusagen. Überhaupt befremdet mich der Umstand, dass sie bisher noch keinen Laut von sich gegeben hat.
„Anita. Ich möchte nicht die ganze Nacht hier in deinem Wohnzimmer stehen und raten. Warum zeigst du mir nicht einfach, was so schrecklich grün wurde?“
Meine Freundin beißt sich auf die Lippe, die Hände senken sich, ihr Blick flattert. Ich merke ihr die Unentschlossenheit an. Sie will es mir zeigen, aber sie traut sich nicht.
„Na?“
Und nun gibt sie sich einen Ruck, greift wieder zu der Mütze und reißt sie sich vom Kopf.
Mir fällt die Kinnlade herunter.
Schnell suche ich alles zusammen, was ich noch an Fassung übrighabe, damit ich sie nicht in ihrem Elend bestärke. „Hm… schön ist das nicht, aber…“
Weiter komme ich nicht. Sie schluchzt erneut auf, wirbelt herum und rennt aus dem Zimmer. Ich höre, wie die Schlafzimmertüre aufgerissen wird.
Peng! Nun ist sie zu, die Tür, und es kehrt Stille ein.
Ich nutze den Moment um meine Gelassenheit wiederzufinden. Von Anita bin ich eine Menge gewöhnt. Sie hat unzählige Katastrophen vom Zaun gebrochen; das Chaos, das sie dabei anrichtet, ist legendär.
Nichts aber gleicht dem, was sie sich nun eingebrockt hat: In dem Moment, als sie die Mütze vom Kopf zog, offenbarte sich mir ihr üblicherweise seidiges, blondes Haar in gesundem Spinatgrün. Dass dies für Anita eine Katastrophe ist, kann ich mir gut vorstellen, und ich wollte in einer ähnlichen Situation ebenfalls nicht alleine sein.
In aller Kürze überlege ich mir ein paar Worte, die sie beruhigen können und lege mir einen Schlachtplan zurecht, dann folge ich Anita und setze mich zu ihr auf die Bettkante.
Wie ein Häufchen Elend liegt sie da, hat sich zusammengerollt wie ein Baby im Mutterleib. Sie hat Die Arme um ihr Kopfkissen geschlungen und presst es an sich, den Kopf darin versteckt. Die grünen Haare fallen mit einem Misston auf das helle Betttuch.
„Ach Liebes, das kriegen wir schon wieder hin“, murmele ich ihr zu und streiche sanft über ihren Rücken. Ich weiß, sie ist nicht meine Lieblingsfreundin, eigentlich habe ich sie nie als Freundin gewollt. Aber in einem solchen Moment könnte ich noch nicht einmal meine ärgste Feindin im Stich lassen.
„Es sieht so scheußlich aus“, jammert sie durch das Kissen, und ihre Schultern zucken, weisen darauf hin, dass sie wieder weint.
„Wie ist das denn überhaupt passiert? Du bist doch Profi im Haare färben?“ Anitas Gesicht taucht über dem Kissen vor.
Sie fasst sich und beginnt stockend zu berichten. „Ich weiß es nicht. Ich habe die gleiche Farbe wie immer gekauft. Naja, eigentlich eine andere Marke, die war billiger und der Farbton sah nur geringfügig anders aus als bei der, die ich sonst nehme.“ Sie schnieft, und ich reiche ihr eine Schachtel Papiertücher.
Bei Frauen stehen überall Papiertücher herum. Wir brauchen diese Dinger wie Männer das Bier beim Fußball: Egal ob es zum Tränen trocknen, Nase putzen, Lippenstift abwischen, Brille reinigen oder eine kleine Lache wegwischen ist, diese Tücher vermögen all das und noch eine Menge mehr.
Anita setzt sich auf und putzt sich die Nase. „Zuhause habe ich dann alles wie immer gemacht: Die Flasche geöffnet, den Inhalt der Farbtube hineingedrückt und das alles dann so schnell wie möglich auf dem Haar verteilt.“ Sie hält kurz inne, überlegt. „Es war ein bisschen seltsam, die Konsistenz war ganz anders als ich es von allen anderen Produkten kenne. So klebrig. Ich habe mich fast ein bisschen geekelt.“
Sie drückt mir die Tücher in die Hand und fährt fort. „Naja, als die Zeit dann um war und ich alles ausspülte, war das schon komisch: Alles war dunkel, das durfte eigentlich nicht sein, weil ich ja blonde Haare haben wollte. Als ich dann in den Spiegel sah, wusste ich schon, dass etwas falsch war, ganz falsch.“ Ihre Stimme zittert erneut, und sie sieht mich mit großen Augen an.
„Ich hab sie dann ganz schnell trocken geföhnt, und je trockener sie wurden, desto grüner wurden sie…“ Der folgende Tränenstrom kommt nicht unerwartet, und ich stöhne innerlich auf.
Dieses Mal braucht Anita wirklich meine Hilfe: Mit grünen Haaren ist der Weg durch den Alltag ein Spießrutenlauf.
„Was soll ich denn jetzt nur machen?“ Ihre Stimme wirkt auf mich, als meine Freundin um zwanzig Zentimeter geschrumpft und würde aus einer großen Entfernung zu mir sprechen. Ich lege meinen Arm um sie und drücke sie kurz an mich.
„Das kriegen wir schon wieder hin“, muntere ich sie auf. „So schlimm ist das gar nicht. Ich rufe morgen Deinen Chef an und sage, dass Du über Nacht krank geworden bist. Dann machen wir ein paar Fotos von den Haaren und rufen meinen Anwalt an. Zu guter Letzt -“
„Nein! Keine Fotos!“ Das Entsetzen in ihrer Stimme ist enorm, fast könnte man es greifen.
„Aber Anita, damit können wir dann Schwenkel verklagen, die Farbe war nicht in Ordnung!“
Irgendetwas stimmt nicht. Das sehe ich ihr an. Sie druckst herum, blickt zu Boden, der Oberkörper ruckt ein winziges Stück vor, dann zurück, mehrmals. Schließlich schaut sie mich an, und diese verdammte Treuherzigkeit in ihren Augen sagt mir alles.
„Es war nicht ganz so“, rückt sie mit der Sprache heraus, „schon auch ein bisschen meine Schuld. Ich wollte mal was anderes ausprobieren, und weil die Agnes vom Büro nebenan immer so tolle schwarze Haare hat, nahm ich eben schwarz statt blond.“
Ich starre sie an. „Nicht dein ernst!“
„Doch…“, ich sehe, dass sie das nicht gerne zugibt. „Das Schwarz sah aber so hart aus, ich fand das überhaupt nicht gut, und dann bin ich nochmal hingegangen und habe…“
„Blond übergefärbt“, ergänze ich, und mir wird klar, wie diese Farbe zustande kam.
„Liebes. Hat man dich noch nie darüber aufgeklärt, dass man so etwas auf keinen Fall macht?“
Das Schuldbewusstsein steht ihr ins Gesicht geschrieben, und ich schüttele nur noch mit dem Kopf.
Mein Sinn für Pragmatismus verbündet sich mit meinem Galgenhumor. „Gut, dann können wir uns die Zeit beim Anwalt sparen und sind schneller fertig.“
„Was hast du denn vor?“ Diese Kleinmädchenstimme, argh… Mit dieser Stimme bekommt sie mich immer wieder herum und dann helfe ich ihr aus dem größten Schlamassel heraus, egal ob sie es verdient hat oder nicht.
„Ich bring dich zu Luigis Haarklinik, der rasiert alles ab.“ Ich habe mich entschlossen, ihr einen kleinen Denkzettel zu verpassen. „Dann kann es wieder in seiner gewohnten Farbe nachwachsen.“
Das Entsetzen tut mir gut. Die Wärme, die sich gerade in meinem Bauch ausbreitet, habe ich mir verdient.
Natürlich ist Luigi niemand, der gnadenlos Haare vom Kopf schert. Ich kenne ihn länger, seit der Zeit, in der mir selbst so ein eklatanter Fehler unterlaufen ist. Damals brachte mich meine Mutter zu ihm, und ich weiß, was auf Anita zukommen wird: Er wird sich den Schaden ansehen, den sie verursacht hat, ihr eine Strafpredigt halten und anschließend das Beste, was man noch aus diesen Haaren machen kann, herausholen.
Aber das weiß sie noch nicht, und ich erfreue mich an ihrer Unsicherheit, als ich sie dränge schlafen zu gehen und mich auf der Wohnzimmercouch für die Nacht einrichte.
„Evchen?“ Die Stimme kommt aus dem Korridor.
„Hm?“ Ich gebe vor schon fast eingeschlafen zu sein.
„Muss wirklich, wirklich alles ab?“
Ich grinse in die Kissen und kämpfe mit Mitgefühl und Schadenfreude. Plötzlich fällt mir ein, dass auch ich morgen meinen Tag noch umwerfen muss, damit ich meiner Freundin aus der Patsche helfen kann.

Ich denke, ich werde sie noch ein bisschen zappeln lassen.

Ruhestörung

Es ist noch früh am Morgen und der Tag verspricht schön zu werden. Ich habe gut geschlafen, endlich mal wieder, und mein Sohn hat die Wohnung vor wenigen Minuten verlassen; er sitzt sicherlich schon im Bus und fährt zur Schule.
Ich genieße meinen Kaffee, das Schweigen, lese in meiner Zeitung.
Ich mag das: Keine Verpflichtungen, auf nichts achten müssen. Ein bisschen die Seele baumeln lassen, bevor ich mich in die Hektik des Alltags stürzen muss. Alleine in der Stille langsam richtig wach werden.
Nur der Geruch von Kaffee und das leise Rauschen des Windes in den Bäumen, von gelegentlichem Läuten der Kirchenglocken unterbrochen, umgeben mich, hüllen mich ein in eine dezente Kulisse der Ruhe und des Friedens.
Es ist fast so, als habe jemand die Welt angehalten, und sie würde sich erst weiterdrehen, wenn die Turmuhr zur neunten Stunde läutet.

Doch heute wird diese Ruhe gestört.

Ich höre im Hausflur eine Tür zuschlagen. Es folgt wildes Kreischen: eine hohe Stimme, die zu kippen droht. Worte verstehe ich nicht, will ich auch nicht.
Ich erkenne sofort, um wen es sich handelt.
Vor ein paar Monaten zogen sie bei uns ein, eine Familie mit zwei Kindern. Freundliche Menschen, stets höflich, hilfsbereit. Einer der beiden Jungen hat mir des Öfteren angeboten, meine Einkäufe in den zweiten Stock zu tragen. Er hält mir die Tür auf, grüßt freundlich, kurz: Ein wohlerzogener Teenager, fast schon eine Seltenheit.
Von dem anderen Jungen hörte ich lange Zeit nur immer wieder diese hohe, überbordende Stimme.
Die Klangfarbe seiner Stimme ordne ich für meine Ohren bei einem grellen Gelb ein: Aufdringlich, in den Ohren stechend, die Gedanken blendend, Abwehr auslösend. Ein hoher, anklagender Ton, der sich bei mir festsetzte als das Heulen eines unzufriedenen, verzogenen Kindes. Anfangs war das sehr störend, da der Junge meist den ganzen Mittag über zu hören war.
Dann erfuhr ich die Hintergründe für dieses alltäglich wiederkehrende Theater: Der Junge ist Autist. Zurzeit verträgt er die Medikamente nicht mehr und soll umgestellt werden. Dass so eine Umstellung eine langwierige Sache sein kann, weiß ich, und so übe ich mich in Geduld.
Mit der Zeit gelang mir das auch immer besser, und ich höre kaum noch hin, wenn von den Nachbarn noch Lärm zu mir nach oben dringt.
Heute aber ist irgendetwas anders.
Noch nie habe ich den Jungen im Hausflur kreischen hören, noch nie rannte er ohne seine Mutter aus dem Haus. Jetzt aber höre ich ihn schon vor der Tür, und er randaliert. Er wirft die Mülltonnen um, brüllt laut und aggressiv – sein Tonfall klingt verzweifelt.
Nun folgt die Mutter. Sie ruft ihm hinterher, fragend. Die Stimme des Jungen ist nun von der Straße zu hören, man versteht immer noch keine Worte, es bleibt unverständliches Geschrei.
Ich gehe zum Fenster und schaue nach, ob ich helfen kann. Zeigen mag ich mich nicht, ich kann mir denken, dass die Situation an sich bereits schlimm genug für die Mutter ist.
Oft genug hat sie sich schon bei den Nachbarn entschuldigt, händeringend um Verständnis gebeten. Dabei müsste sie das nicht tun, denn Kinderlärm ist in einem Mietshaus unumgänglich und kein Grund zur Beschwerde.
Und dennoch hat eine Mitbewohnerin es tatsächlich gebracht und bei unserem Hausverwalter eine Abmahnung für die Familie gefordert; der Familie selbst hat sie mit einer Anzeige wegen Lärmbelästigung gedroht.
Gut, diese bestimmte Mieterin ist eine egoistische, herzlose Megäre, die sich bei jedem unbeliebt macht, und der Rest der Mietergemeinschaft hat sich auf die Seite der Familie gestellt.
Aber ich kann mir denken, dass eine solche Androhung nicht gerade geringfügig belastend wirkt. Also bleibe ich lieber im Hintergrund und schaue nur nach, ob Hilfe benötigt wird.
Wird es nicht, nicht akut. Sie läuft ihrem Sohn hinterher, seine Mütze in der Hand. Er steht auf dem Bürgersteig, die Hände zu Fäusten geballt, so als wolle er gleich seine Mutter boxen, und brüllt seine ganze Wut und seine Verzweiflung heraus.
Schlimm klingt das, und es tut beinahe weh, ihm zuzuhören. Nur beinahe?
Sie spricht auf ihn ein, nimmt seine Hand – und auf einmal lässt er sich widerstandslos mitziehen. Einen Moment lang schaue ich den beiden hinterher, sie erreichen das Ende der Straße ohne weiteren Zwischenfall.
Nun herrscht wieder Ruhe.
Nachdenklich streife ich mir eine Jacke über und ziehe meine Schuhe an. Zumindest kann ich die Mülltonnen aufrichten, damit unsere Ego-Mieterin keinen Anlass findet, erneut beim Hausverwalter zu insistieren.

Wie mag sich ein solches Kind fühlen? In seiner Welt eingeschlossen, abgekappt von den Gefühlswelten anderer zu leben. Nicht in der Lage zu sein, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, nicht zu wissen, was andere fühlen. Wie mag das sein, wenn es einem nicht möglich ist, die eigenen Gefühle zu äußern? Was für eine Frustration muss das mit sich bringen, welche Angst?
Ich fühle in diesem Moment eine Art Kummer in mir. Eine Traurigkeit, die mich von innen heraus aushöhlt. Ich möchte die Luft anhalten, damit diese Leere sich nicht ausweiten kann.
Schließlich bleibt mir nichts anderes übrig: Ich muss atmen, also hole ich tief Luft und schlucke hart.
Ja, mir tut es weh, mir das vorzustellen.

Während ich den Müll einsammle, der sich auf dem Weg verbreitet hat, denke ich weiter darüber nach, und mich überkommt eine Dankbarkeit von unbeschreiblichem Ausmaß. Meine Kinder sind gesund. Natürlich haben sie ihre Probleme, und sie mussten sehr schwierige Zeiten hinter sich bringen. Dankenswerterweise sind diese schlimmen Zeiten vorbei.
Vorerst.
Es gibt keine Garantie für Glück und Zufriedenheit, für Gesundheit.
Und während meine Hände gerade eine mit klebrigen, undefinierbaren Resten eingeschmierte Spinatpackung aufnehmen, freue ich mich. Über meine Kinder. Mein Glück.
Und darüber, dass ich Handschuhe angezogen habe.