Es gibt Zeiten, in denen jedes Wort zuviel ist.
Selbst das gedachte Wort kann eines sein, das Katastrophen auslöst.
In solchen Zeiten hilft es, seine Gedanken abstrakt zu strukturieren. Man spielt die Konzentration fördernde Spielchen, malt Bilder ohne Motiv, man sieht anderen Leuten beim Leben zu und versucht dies in Einklang mit seinem Weltbild zu setzen.
Irgendwann taucht man aus der Tiefe des Schweigens auf, in der Hoffnung, etwas gelernt zu haben. Es steigen Worte auf. Worte, die die abstrakten Gedanken zu einem Gebilde formen, das die besagte Lehre verdeutlichen soll. Manchmal lebt man dann mit diesem Gebilde einige Zeit; sicher, endlich einen Weg gefunden zu haben. Das geht so lange gut, bis das Gebilde anfängt zu zerfallen. Das kann am Alter des Gebildes liegen. Erosion, Erruption, ein Sturm – was auch immer – kann dazu führen, dass das Gebilde brüchig wird und langsam oder auch blitzschnell in sich zusammenfällt.
Die Twintowers waren ein solches Gebilde. Gebaut nicht unbedingt für die Ewigkeit, aber zumindest für unzählige Epochen. Ein Tag, also ein winziger Bruchteil der Ewigkeit reichte, um sie zu Fall zu bringen.
Aber sie standen lang genug, um sie in das Gedächtnis der Welt einzubrennen. Die Menschheit wird sich an sie erinnern. Einerseits aufgrund ihrer Beliebtheit und ihres ursprünglichen Symbolcharakters. Andererseits aber auch durch den Tag, die Ereignisse, die zu ihrem Untergang führten.
Solche Momente bleiben uns auch oft länger im Gedächtnis als das, was unser Weltbild, unser Konstrukt, das wir aus den Tiefen unseres Schweigens mitbrachten. Die Ereignisse, die zu dem führten, was unsere Zuversicht, unsere Sicherheit, was uns kleinkriegte.
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Lucy war noch immer gefangen. Gefangen in dem Kokon, der die Erkenntnisse aus den Ereignissen der letzten Jahre von ihrer Seele fernhalten sollte. Ein Schutz, einer Mauer gleich. Einer Mauer, die über der Erde hoch bis in die Himmel ragte, unterhalb bis in die Tiefen der Hölle reichte. Niemand würde diese Mauer überwinden können, und da der Kokon fester als die Hülle eines Panzers war, konnte ihn auch niemand durchdringen.
Schutz ist gut und gesund, dann vor allem, wenn Gefahr droht. Man kennt das genug aus Kriminalromanen: Zeugen zum Beispiel, die in wichtigen Fällen aussagen sollen, werden in Schutzhaft genommen. Prominente, Politiker, Wirtschaftsgrößen, all diese Menschen haben Leibwächter, die sie schützen.
Aber auch Menschen, die ungebetene Gäste von sich fern halten wollen, beauftragen Wachmänner, errichten Mauern und Zäune, die andere fernhalten sollen. Patienten mit enormer Immunschwäche müssen ihr Leben in isolierten Räumen oder Zelten verbringen.
All diese Vorsichtsmaßnahmen erfordern Kraft, Kraft, die für das eigentliche Leben wesentlich notwendiger wäre, und sie isolieren.
Zwei Faktoren, die deutlich dazu beitragen, die Vulnerabilitätsgrenze deutlich zu senken, sprich: Sie tragen dazu bei, Menschen verletzbar zu machen. Also wirkt die Schutzmauer, mit der man sich umgibt, wie eine Art Virus: Sie hält Faktoren ab, die uns helfen können, mit Verletzungen umzugehen, und sie trägt dazu bei, dass die Einsamkeit uns krank macht.
Lucy allerdings sah das nicht. Oder sagen wir besser: Lucy wusste es, aber sie empfand es nicht so.
All diese Verletzungen, die ihr in ihrem Leben zugefügt wurden, hatten sie gelehrt, dass Vertrauen und Offenheit, Nähe und Zuneigung Ausgangsfaktoren für furchtbare Verletzungen sind. Reden und Zuhören führte zu Vertrauen und Nähe, also schwieg sie. Und sie hörte nicht zu.
Seit der Schießerei in dieser Diskothek, bei der sie eigentlich mit einem Schrecken davongekommen war, war Lucy taub. Sie sah die Menschen reden, aber sie hörte nichts. Von Zeichensprache oder Lippenlesen wollte sie nichts wissen und die meisten Notizen warf sie ungelesen weg.
Sie saß in ihrem Zimmer in dem Pflegeheim, in dem sie seither wohnte, sah auf den Fernseher und schaute Serien. Eine Serie nach der anderen. Die Untertitel reichten ja, um zu verstehen, was diese Menschen von sich gaben. Pfleger holten sie zum Essen, brachten sie zu ihrer Therapiestunde, begleiteten sie in den Park, wenn sie an die frische Luft sollte. All das ließ sie zu. Schweigsam, regungslos, unbeteiligt.
Nur nachts, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, weinte sie leise in ihre Kissen.
Der Schmerz der letzten Verletzung war zu groß um nicht zu weinen.
Niemand wusste davon, und niemand würde je erfahren, dass der Mann, der diesen Anschlag auf die Diskothek ausgeübt hatte, dort durch sie Zutritt erhalten hatte. Die einzigen Zeugen hierfür waren tot, und sie hatte nur überlebt, weil sie sich im Küchenhof des Etablissements in einem Müllcontainer versteckt hatte.
Als die Schießerei begann, war sie gerade in der Damentoilette und war von dort aus in die Küche gekrochen, auf allen Vieren.
Die Tür zum Hof stand offen. Es war dunkel dort, dunkel wie in einer Neumondnacht. Die einzigen Lichtquellen stammten aus dem Flur hinter ihr und von einem laternenartigen Außenlicht, das schon bessere Nächte gesehen hatte. Der Boden war von Nässe durchtränkt, es stank nach Müll und Urin. Der Koch und die Küchenhilfen nutzten den Hof scheinbar auch als Austritt.
„Sie waschen sich nicht die Hände“, schoss es Lucy durch den Kopf, während sie weiter in die Mitte kroch. Ekel stieg in ihr auf, sie musste würgen. “Sie pinkeln in den Hof und waschen sich danach nicht die Hände, die Schweine.”
Die Küchenmannschaft stand in einer Ecke zusammengedrängt und starrte sie an, als wäre sie einem Horrorfilm entstiegen. In gewisser Weise war sie das ja auch. Auf diese Leute musste sie so wirken, ein Alien oder ein Todesengel, der ihnen nun den Tod ankündigte. Sie überbrachte das Todesurteil jenen, die andere Menschen durch ihre Unreinheit mit Krankheiten infizierten.
„Du denkst unlogisch“, dachte sie weiter und bemühte sich darum, den Ekel und die Wut auf diese Leute zu vergessen, denn die ungewaschenen Hände des Küchenpersonals war zurzeit das geringste Problem.
„Merks dir und melde es dem Gesundheitsamt, wenn du hier heil wieder herauskommst“, befahl sie sich. „Jetzt brauchst du erst einmal ein Versteck um zu überleben.“
Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Einen Ausgang hatte dieser Hof wohl nicht; zumindest war keiner zu entdecken, und wäre dort einer, dann hätte das Personal ihn sicher schon als Fluchtweg benutzt. Es gab nur diese dunkle Ecke, in der die Küchencrew stand und die Müllcontainer, die an einer der Seitenwände aufgereiht waren. Wieder schüttelte sie der Ekel, aber sie sah keinen anderen Ausweg: Schnell stand sie auf, lief zu der Seitenwand, kletterte in den ersten Container und zog den Deckel über sich zu.
Hier roch es noch grauenvoller und sie hatte das Gefühl, dass sie nicht atmen konnte.
Sie wollte sich übergeben, aber sie hatte Angst, dass die Würgegeräusche auf sie aufmerksam machen würden.
Vielleicht würde der Mörder ja gar nicht auf den Hof gehen? Vielleicht würde er sich mit den Opfern in den Gasträumen begnügen?
Sie hörte die Sirenen. Ein Klang der Hoffnung, und vorsichtig zog sie den Deckel ihres Verstecks einen winzigen Spalt breit auf, um hindurchzuspähen.
Sie sah… nichts.
Aber sie hörte kreischende Bremsen, die darauf hinwiesen, dass etliche Autos sich dem Etablissement in hoher Geschwindigkeit genähert hatten. Eine Stimme rief etwas durch ein Megaphon, eine Nachricht für den Täter?
Da! Ein Geräusch hinter ihr ließ sie erstarren. Wer war das? Ein rauschendes Knarzen erklang, eine gedämpfte Stimme antwortete.
„Habe Stellung bezogen. Hier kann der Kerl nicht raus.“
Eine Pause, wieder dieses Knarzen. Die Antwort des Einsatzleiters? Noch einmal vernahm sie die leise Stimme: „Verstanden. Over und out.“
Dann: Stille. Wo das Küchenpersonal abgeblieben war, konnte sie nicht erkennen, nicht von diesem Standort aus.
Wie eine ungebetene Antwort auf diese Frage hörte sie leises Wimmern, darauf eine zischende Stimme: „Was machen sie da? Los, verstecken sie sich hinter den Containern! Schnell!“
Eilige Schritte trampelten über den Hof, von der Stimme begleitet: „Chef, das Küchenpersonal ist hier im Hof, keine gute Idee, die Täter hierher zu scheuchen, Aktion abbrechen, schn…“
Schüsse.
Von der Küche aus ertönten Schüsse, begleitet von Schreien, Schreien vor Entsetzen und Schmerz. Hinter ihr antworteten weitere Schüsse, unzählige, schnell hintereinander.
Lucy zog sich zurück, ganz tief in den Container, so tief, dass sie nichts mehr hören und sehen konnte.
Die Stille blieb, als man den Container öffnete und sie daraus befreite: Sie war nun ihr steter Begleiter.
Niemand wusste, dass dieser Mann, der all diese Menschen für seinen kleinen Privatkrieg geopfert hatte, mit ihr gemeinsam die Diskothek betreten hatte. Dass dieser Mann ihr Avancen gemacht, sie zu einem Date eingeladen hatte. Dass er durch sie in diese Diskothek Zutritt erhalten hatte, zu der nur Eingeweihte Zutritt bekamen. Eingeweihte wie sie, denn sie ging regelmäßig dort zum Tanzen hin.
Sie würde nie wieder tanzen.
Nein, das lag nicht daran, dass sie taub war. Sie konnte ja die Bässe noch hören und spüren, das also wäre nicht der Hinderungsgrund. Aber bei jedem Tanzschritt hörte sie die Schüsse. Die Schüsse und die Schreie, und sie wurden von einem ganz besonderen Lied begleitet: Ihr Lieblingslied, das, zu dem sie immer so gerne getanzt hatte, nur hatte dieses Lied einen anderen Text: Die Worte des Mannes, der ihr so sehr geschmeichelt hatte, dort in der Bibliothek. Der ihr so sehr geschmeichtelt hatte, dass sie Vertrauen zu ihm fasste.
Sie hatten sich ein paar Mal dort gesehen, und irgendwann standen sie beide am gleichen Regal, griffen nach dem gleichen Buch. Eine Berührung, die sie ein bisschen elektrisierte.
Sie unterhielten sich, öfter. Er sei Hobbyzauberer, auf der Suche nach neuen Inspirationen für seine Geschichten rund um die Kunststückchen. Sie erzählte ihm, dass sie einfach gerne las, weil sie viel allein lebte und nicht besonders begeistert vom Fernsehprogramm war. Warum sie allein sei, wollte er wissen, und sie erklärte es ihm zögernd. Sie war eben ein bisschen schüchtern, nicht gut darin, Bekanntschaften zu schließen.
Er verstand das nicht. Die Männer müssten sich doch um sie reißen, denn sie habe etwas Magisches an sich, hatte er gesagt. So etwas Magisches, dass er sie – entgegen seiner Gewohnheiten – sogar an einer Supermarktkasse angesprochen hätte.
Als man sie befragte, zeigte man ihr ein Foto von dem Attentäter. Er war tot, von mehreren Kugeln durchsiebt. Dieses Wissen ließ sie endgültig in der Stille verschwinden. Nun brauchte sie all diese Magie für sich selbst. Mit dieser Magie hielt sie allen Einflüsterungen stand. Sie hörte einfach nicht mehr zu. Nicht den Pflegern, nicht den Therapeuten, nicht den Arbeitskollegen. Niemandem. Seit fast einem Jahr nun lebte sie in ihrer selbstgewählten Stille, wob ihren Kokon immer dichter um sich, stieg immer tiefer hinab, auf den Grund ihres Seins.
Sie hatten lange um sie gekämpft, versucht, diesen Wall zu durchbrechen. Sie sprachen zu ihr, laut, leise. Sie sangen, spielten Musik, lasen ihr vor. Sie legten ihr Bücher auf den Tisch, die sie sorgsam vor ihrer Zimmertür ablegte, ungelesen. Nichts erreichte sie, weder Bewegungstherapie, noch Gestalttherapie, Berührungen – gar nichts. Schlimmstenfalls wehrte sie sich mit Gewalt, bestenfalls blieb sie einfach unberührt.
Irgendwann hatten sie aufgegeben. Sie schlief, wusch sich, ging essen, saß zwei Mal in der Woche die 50 Minuten ihrer Therapiestunde ab und schaute ansonsten von morgens bis abends Fernsehen.
Nachrichten sah sie nicht, Dokumentationen ebenfalls nicht; gegen Kinofilme hegte sie Aversionen. Statt dessen sah sie sich Soaps an, begleitete aufmerksam jeweils eine Serie von Anfang bis zum Ende, und fing erst dann eine neue Serie an.
Es schien, als suche sie dort etwas, etwas, was niemand ihr zeigen, niemand ihr geben konnte.
Und so verbrachte sie ein ganzes Jahr dort. Vier Jahreszeiten gingen an ihr vorbei, ohne dass sie ihnen Aufmerksamkeit schenkte, ohne dass sich etwas änderte.
Und nun war sie wieder im Park und absolvierte ihre tägliche Runde, die sie bei trockenen Wetter stoisch hinter sich brachte.
Der Frühling begann soeben, lag noch im Widerstreit mit dem Winter. An manchen Tagen war es glatt auf den Wegen, so wie auch heute, und Mark, ihr Bewegungstherapeut, nahm sie an den Arm, um sie zu stützen, damit sie nicht fiel. Heftig zog sie ihren Arm weg und sah ihn finster an.
„Lucy. Ich will nur Halt geben, denn hier ist es stellenweise sehr glatt“, tadelte er ihre Reaktion und griff erneut nach ihrem Arm. Ihre Gegenwehr fiel noch stärker aus, sie riss ihm den Arm richtiggehend aus der Hand. Mark aber verstärkte reflexartig seinen Griff, gerade zu dem Zeitpunkt, als sie über nasse, halb gefrorene Blätter liefen. Das Unvermeidliche geschah: Sie verloren beide das Gleichgewicht und fielen übereinander.
Entsetzt kroch Lucy unter Mark hervor, Panik stand in ihren Augen. Sie rappelte sich auf, verzog vor Schmerzen das Gesicht und fiel wieder hin: Irgendetwas war mit ihrem Bein. Sie konnte nicht aufstehen. Sie sah zu Mark. Er lag regungslos am Boden, aber die Kälte ließ seinen Atem wie kleine Dampfwolken in die Luft steigen.
Lucys Panik ebbte ab: Er lebte. Er lebte, und es war still. Keine Sirenen. Kein Blut. Aber es war kalt, und es war nicht seine Schuld, dass sie hier war, das wusste sie. Also kroch sie zu ihm und versuchte ihn zu wecken. Sie rüttelte an seiner Schulter. Keine Reaktion. Lucy boxte ihn in die Seite, aber auch das half nicht. Schließlich zog sie ihn zu sich, um ihn wenigstens ein wenig wärmen zu können, und wartete.
Das konnte sie gut. Seit sie stundenlang in diesem Container gesessen hatte, ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde, konnte sie verdammt gut warten und still halten.
Sie konnte sich nicht melden. Nicht melden, nicht rühren, nicht hören, nichts. Sie war stumm, taub, gelähmt vor Schreck. Sie spürte die Bewegungen um sich, um den Container herum. Schritte. Schweres Gerät, das auf dem Boden abgestellt wurde. Die Container wurden hin und hergeschoben. Aber Lucy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie auf sich aufmerksam machen konnte. Sie spürte, wie jemand gegen den Container schlug, einmal, zweimal. Sie sah, wie jemand den Decke aufriss, sah die Hand, die auf sie zeigte. Aber sie konnte sich nicht rühren, nicht reden, nicht hören.
„Zumindest bin ich nicht blind“, dachte sie und ließ zu, dass sie aus dem Container gehoben wurde. „Und riechen kann ich noch.“
Der Gestank blieb, selbst als man sie gewaschen und neu eingekleidet hatte.
Der Gestank und die Stille.
„Azarro“, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Rasierwasser, das sie schon seit gefühlten Ewigkeiten kannte. Sie hatte es irgendwann einmal ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt, und er trug seither kein anderes mehr. Ob das nun auch noch so war? Nachdem sie ihn, ihre ganze Familie verlassen hatte? Sie wusste es nicht. Wollte es nicht wissen. Ihr Vater war auch nur so ein Worthülsenmensch. Warum erinnerte sie sich jetzt an den Geruch?
Wo war der Gestank geblieben?
Lucy sog den Atem tief durch die Nase ein. Der Duft des Rasierwassers blieb, es kam von Mark. Also keine Erinnerung, ein Geruch. Ihre Nase reagierte wieder.
Wieder stieg Panik in Lucy auf. Das war nicht richtig! Es war ihre Schuld, dass diese Menschen gestorben waren! Warum sollte sie Gutes riechen dürfen, wenn der Gestank sie gerettet hatte, aber sonst niemanden? Selbst die Küchencrew hatte es letztendlich erwischt, weil sie auf dem Weg hinter den Müllcontainer vom Mörder abgeknallt worden waren, wie die Enten in einer Kirmesbude, einer nach dem anderen.
Nur sie hatte überlebt, im Müll. Im Gestank. Sie, die das Monster eingeschmuggelt hatte. Was für eine Ironie, dass sie genau dort überlebt hatte, wo sie eigentlich hingehörte. Ausschussware. Müll. Dreck. Abschaum.
Sie verbot ihrer Nase den Geruch des Rasierwassers, und die Rückkehr des Müllgestanks war beinahe tröstend für sie.
Magie. Mit dieser Magie konnte sie den Gestank bei sich behalten, und sie konnte ihre Stille erzwingen.
Aber ihr Therapeut, Mark, der musste dringend Hilfe bekommen, das wusste Lucy. Vorsichtig tastete sie in den Taschen seines Kittels und fand sein Handy. Sie wählte die Notrufnummer, die Nummer, die die Pfleger und Therapeuten wählen sollten, wenn die Irren ausrasteten, so wie Lucy das im Stillen bei sich nannte.
„Hallo, Mark? Was ist passiert?“ Die Stimme klang sachlich und auffordernd, so dass jeder, selbst in einer hektischen Situation oder in Panik wieder einen klaren Kopf bekommen konnte. „Mark, was ist los? Wo sind sie?“ Die Stimme wurde energischer, forderte eine Antwort. Aber Lucy konnte ja nicht hören und reden.
Warum hörte sie dann diese Stimme?
Nein… nein… das durfte nicht sein! Sie durfte nicht hören können! Sie war taub! Wo war die Stille?
Hektisch lauschte Lucy in sich hinein.
Schüsse! Schreie! Das Lied mit seinen Worten! Nichts davon war da! Statt dessen hörte sie diese Stimme aus der Notfallzentrale, und die eines Vogels, der auf einem Baum saß und eine muntere Melodie zwitscherte.
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Minuten später erreichten Sanitäter die Unfallstelle im Park. Einen Moment lang standen sie wie erstarrt, kaum in der Lage das zu erfassen, was sie vor sich sahen:
Mark lag regungslos auf dem Boden. Blut sickerte aus einer Wunde an seinem Hinterkopf. Ein Stück weiter weg kroch seine Patientin auf allen Vieren von ihm fort und schrie ihre Qual hinaus in die Frühlingswelt.
Doch es war totenstill, bis auf das Lied des Vogels, hoch über ihr.