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Der Verrat der Stille

Es gibt Zeiten, in denen jedes Wort zuviel ist.
Selbst das gedachte Wort kann eines sein, das Katastrophen auslöst.
In solchen Zeiten hilft es, seine Gedanken abstrakt zu strukturieren. Man spielt die Konzentration fördernde Spielchen, malt Bilder ohne Motiv, man sieht anderen Leuten beim Leben zu und versucht dies in Einklang mit seinem Weltbild zu setzen.

Irgendwann taucht man aus der Tiefe des Schweigens auf, in der Hoffnung, etwas gelernt zu haben. Es steigen Worte auf. Worte, die die abstrakten Gedanken zu einem Gebilde formen, das die besagte Lehre verdeutlichen soll. Manchmal lebt man dann mit diesem Gebilde einige Zeit; sicher, endlich einen Weg gefunden zu haben. Das geht so lange gut, bis das Gebilde anfängt zu zerfallen. Das kann am Alter des Gebildes liegen. Erosion, Erruption, ein Sturm – was auch immer – kann dazu führen, dass das Gebilde brüchig wird und langsam oder auch blitzschnell in sich zusammenfällt.

Die Twintowers waren ein solches Gebilde. Gebaut nicht unbedingt für die Ewigkeit, aber zumindest für unzählige Epochen. Ein Tag, also ein winziger Bruchteil der Ewigkeit reichte, um sie zu Fall zu bringen.

Aber sie standen lang genug, um sie in das Gedächtnis der Welt einzubrennen. Die Menschheit wird sich an sie erinnern. Einerseits aufgrund ihrer Beliebtheit und ihres ursprünglichen Symbolcharakters. Andererseits aber auch durch den Tag, die Ereignisse, die zu ihrem Untergang führten.

Solche Momente bleiben uns auch oft länger im Gedächtnis als das, was unser Weltbild, unser Konstrukt, das wir aus den Tiefen unseres Schweigens mitbrachten. Die Ereignisse, die zu dem führten, was unsere Zuversicht, unsere Sicherheit, was uns kleinkriegte.

~

Lucy war noch immer gefangen. Gefangen in dem Kokon, der die Erkenntnisse aus den Ereignissen der letzten Jahre von ihrer Seele fernhalten sollte. Ein Schutz, einer Mauer gleich. Einer Mauer, die über der Erde hoch bis in die Himmel ragte, unterhalb bis in die Tiefen der Hölle reichte. Niemand würde diese Mauer überwinden können, und da der Kokon fester als die Hülle eines Panzers war, konnte ihn auch niemand durchdringen.

Schutz ist gut und gesund, dann vor allem, wenn Gefahr droht. Man kennt das genug aus Kriminalromanen: Zeugen zum Beispiel, die in wichtigen Fällen aussagen sollen, werden in Schutzhaft genommen. Prominente, Politiker, Wirtschaftsgrößen, all diese Menschen haben Leibwächter, die sie schützen.

Aber auch Menschen, die ungebetene Gäste von sich fern halten wollen, beauftragen Wachmänner, errichten Mauern und Zäune, die andere fernhalten sollen. Patienten mit enormer Immunschwäche müssen ihr Leben in isolierten Räumen oder Zelten verbringen.

All diese Vorsichtsmaßnahmen erfordern Kraft, Kraft, die für das eigentliche Leben wesentlich notwendiger wäre, und sie isolieren.

Zwei Faktoren, die deutlich dazu beitragen, die Vulnerabilitätsgrenze deutlich zu senken, sprich: Sie tragen dazu bei, Menschen verletzbar zu machen. Also wirkt die Schutzmauer, mit der man sich umgibt, wie eine Art Virus: Sie hält Faktoren ab, die uns helfen können, mit Verletzungen umzugehen, und sie trägt dazu bei, dass die Einsamkeit uns krank macht.

Lucy allerdings sah das nicht. Oder sagen wir besser: Lucy wusste es, aber sie empfand es nicht so.

All diese Verletzungen, die ihr in ihrem Leben zugefügt wurden, hatten sie gelehrt, dass Vertrauen und Offenheit, Nähe und Zuneigung Ausgangsfaktoren für furchtbare Verletzungen sind. Reden und Zuhören führte zu Vertrauen und Nähe, also schwieg sie. Und sie hörte nicht zu.

Seit der Schießerei in dieser Diskothek, bei der sie eigentlich mit einem Schrecken davongekommen war, war Lucy taub. Sie sah die Menschen reden, aber sie hörte nichts. Von Zeichensprache oder Lippenlesen wollte sie nichts wissen und die meisten Notizen warf sie ungelesen weg.

Sie saß in ihrem Zimmer in dem Pflegeheim, in dem sie seither wohnte, sah auf den Fernseher und schaute Serien. Eine Serie nach der anderen. Die Untertitel reichten ja, um zu verstehen, was diese Menschen von sich gaben. Pfleger holten sie zum Essen, brachten sie zu ihrer Therapiestunde, begleiteten sie in den Park, wenn sie an die frische Luft sollte. All das ließ sie zu. Schweigsam, regungslos, unbeteiligt.

Nur nachts, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, weinte sie leise in ihre Kissen.
Der Schmerz der letzten Verletzung war zu groß um nicht zu weinen.

Niemand wusste davon, und niemand würde je erfahren, dass der Mann, der diesen Anschlag auf die Diskothek ausgeübt hatte, dort durch sie Zutritt erhalten hatte. Die einzigen Zeugen hierfür waren tot, und sie hatte nur überlebt, weil sie sich im Küchenhof des Etablissements in einem Müllcontainer versteckt hatte.
Als die Schießerei begann, war sie gerade in der Damentoilette und war von dort aus in die Küche gekrochen, auf allen Vieren.

Die Tür zum Hof stand offen. Es war dunkel dort, dunkel wie in einer Neumondnacht. Die einzigen Lichtquellen stammten aus dem Flur hinter ihr und von einem laternenartigen Außenlicht, das schon bessere Nächte gesehen hatte. Der Boden war von Nässe durchtränkt, es stank nach Müll und Urin. Der Koch und die Küchenhilfen nutzten den Hof scheinbar auch als Austritt.

„Sie waschen sich nicht die Hände“, schoss es Lucy durch den Kopf, während sie weiter in die Mitte kroch. Ekel stieg in ihr auf, sie musste würgen. “Sie pinkeln in den Hof und waschen sich danach nicht die Hände, die Schweine.”

Die Küchenmannschaft stand in einer Ecke zusammengedrängt und starrte sie an, als wäre sie einem Horrorfilm entstiegen. In gewisser Weise war sie das ja auch. Auf diese Leute musste sie so wirken, ein Alien oder ein Todesengel, der ihnen nun den Tod ankündigte. Sie überbrachte das Todesurteil jenen, die andere Menschen durch ihre Unreinheit mit Krankheiten infizierten.

„Du denkst unlogisch“, dachte sie weiter und bemühte sich darum, den Ekel und die Wut auf diese Leute zu vergessen, denn die ungewaschenen Hände des Küchenpersonals war zurzeit das geringste Problem.
„Merks dir und melde es dem Gesundheitsamt, wenn du hier heil wieder herauskommst“, befahl sie sich. „Jetzt brauchst du erst einmal ein Versteck um zu überleben.“

Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Einen Ausgang hatte dieser Hof wohl nicht; zumindest war keiner zu entdecken, und wäre dort einer, dann hätte das Personal ihn sicher schon als Fluchtweg benutzt. Es gab nur diese dunkle Ecke, in der die Küchencrew stand und die Müllcontainer, die an einer der Seitenwände aufgereiht waren. Wieder schüttelte sie der Ekel, aber sie sah keinen anderen Ausweg: Schnell stand sie auf, lief zu der Seitenwand, kletterte in den ersten Container und zog den Deckel über sich zu.
Hier roch es noch grauenvoller und sie hatte das Gefühl, dass sie nicht atmen konnte.
Sie wollte sich übergeben, aber sie hatte Angst, dass die Würgegeräusche auf sie aufmerksam machen würden.
Vielleicht würde der Mörder ja gar nicht auf den Hof gehen? Vielleicht würde er sich mit den Opfern in den Gasträumen begnügen?

Sie hörte die Sirenen. Ein Klang der Hoffnung, und vorsichtig zog sie den Deckel ihres Verstecks einen winzigen Spalt breit auf, um hindurchzuspähen.

Sie sah… nichts.

Aber sie hörte kreischende Bremsen, die darauf hinwiesen, dass etliche Autos sich dem Etablissement in hoher Geschwindigkeit genähert hatten. Eine Stimme rief etwas durch ein Megaphon, eine Nachricht für den Täter?

Da! Ein Geräusch hinter ihr ließ sie erstarren. Wer war das? Ein rauschendes Knarzen erklang, eine gedämpfte Stimme antwortete.

„Habe Stellung bezogen. Hier kann der Kerl nicht raus.“

Eine Pause, wieder dieses Knarzen. Die Antwort des Einsatzleiters? Noch einmal vernahm sie die leise Stimme: „Verstanden. Over und out.“

Dann: Stille. Wo das Küchenpersonal abgeblieben war, konnte sie nicht erkennen, nicht von diesem Standort aus.

Wie eine ungebetene Antwort auf diese Frage hörte sie leises Wimmern, darauf eine zischende Stimme: „Was machen sie da? Los, verstecken sie sich hinter den Containern! Schnell!“

Eilige Schritte trampelten über den Hof, von der Stimme begleitet: „Chef, das Küchenpersonal ist hier im Hof, keine gute Idee, die Täter hierher zu scheuchen, Aktion abbrechen, schn…“

Schüsse.

Von der Küche aus ertönten Schüsse, begleitet von Schreien, Schreien vor Entsetzen und Schmerz. Hinter ihr antworteten weitere Schüsse, unzählige, schnell hintereinander.
Lucy zog sich zurück, ganz tief in den Container, so tief, dass sie nichts mehr hören und sehen konnte.

Die Stille blieb, als man den Container öffnete und sie daraus befreite: Sie war nun ihr steter Begleiter.

Niemand wusste, dass dieser Mann, der all diese Menschen für seinen kleinen Privatkrieg geopfert hatte, mit ihr gemeinsam die Diskothek betreten hatte. Dass dieser Mann ihr Avancen gemacht, sie zu einem Date eingeladen hatte. Dass er durch sie in diese Diskothek Zutritt erhalten hatte, zu der nur Eingeweihte Zutritt bekamen. Eingeweihte wie sie, denn sie ging regelmäßig dort zum Tanzen hin.

Sie würde nie wieder tanzen.

Nein, das lag nicht daran, dass sie taub war. Sie konnte ja die Bässe noch hören und spüren, das also wäre nicht der Hinderungsgrund. Aber bei jedem Tanzschritt hörte sie die Schüsse. Die Schüsse und die Schreie, und sie wurden von einem ganz besonderen Lied begleitet: Ihr Lieblingslied, das, zu dem sie immer so gerne getanzt hatte, nur hatte dieses Lied einen anderen Text: Die Worte des Mannes, der ihr so sehr geschmeichelt hatte, dort in der Bibliothek. Der ihr so sehr geschmeichtelt hatte, dass sie Vertrauen zu ihm fasste.
Sie hatten sich ein paar Mal dort gesehen, und irgendwann standen sie beide am gleichen Regal, griffen nach dem gleichen Buch. Eine Berührung, die sie ein bisschen elektrisierte.

Sie unterhielten sich, öfter. Er sei Hobbyzauberer, auf der Suche nach neuen Inspirationen für seine Geschichten rund um die Kunststückchen. Sie erzählte ihm, dass sie einfach gerne las, weil sie viel allein lebte und nicht besonders begeistert vom Fernsehprogramm war. Warum sie allein sei, wollte er wissen, und sie erklärte es ihm zögernd. Sie war eben ein bisschen schüchtern, nicht gut darin, Bekanntschaften zu schließen.

Er verstand das nicht. Die Männer müssten sich doch um sie reißen, denn sie habe etwas Magisches an sich, hatte er gesagt. So etwas Magisches, dass er sie – entgegen seiner Gewohnheiten – sogar an einer Supermarktkasse angesprochen hätte.

Als man sie befragte, zeigte man ihr ein Foto von dem Attentäter. Er war tot, von mehreren Kugeln durchsiebt. Dieses Wissen ließ sie endgültig in der Stille verschwinden. Nun brauchte sie all diese Magie für sich selbst. Mit dieser Magie hielt sie allen Einflüsterungen stand. Sie hörte einfach nicht mehr zu. Nicht den Pflegern, nicht den Therapeuten, nicht den Arbeitskollegen. Niemandem. Seit fast einem Jahr nun lebte sie in ihrer selbstgewählten Stille, wob ihren Kokon immer dichter um sich, stieg immer tiefer hinab, auf den Grund ihres Seins.

Sie hatten lange um sie gekämpft, versucht, diesen Wall zu durchbrechen. Sie sprachen zu ihr, laut, leise. Sie sangen, spielten Musik, lasen ihr vor. Sie legten ihr Bücher auf den Tisch, die sie sorgsam vor ihrer Zimmertür ablegte, ungelesen. Nichts erreichte sie, weder Bewegungstherapie, noch Gestalttherapie, Berührungen – gar nichts. Schlimmstenfalls wehrte sie sich mit Gewalt, bestenfalls blieb sie einfach unberührt.

Irgendwann hatten sie aufgegeben. Sie schlief, wusch sich, ging essen, saß zwei Mal in der Woche die 50 Minuten ihrer Therapiestunde ab und schaute ansonsten von morgens bis abends Fernsehen.

Nachrichten sah sie nicht, Dokumentationen ebenfalls nicht; gegen Kinofilme hegte sie Aversionen. Statt dessen sah sie sich Soaps an, begleitete aufmerksam jeweils eine Serie von Anfang bis zum Ende, und fing erst dann eine neue Serie an.
Es schien, als suche sie dort etwas, etwas, was niemand ihr zeigen, niemand ihr geben konnte.
Und so verbrachte sie ein ganzes Jahr dort. Vier Jahreszeiten gingen an ihr vorbei, ohne dass sie ihnen Aufmerksamkeit schenkte, ohne dass sich etwas änderte.

Und nun war sie wieder im Park und absolvierte ihre tägliche Runde, die sie bei trockenen Wetter stoisch hinter sich brachte.

Der Frühling begann soeben, lag noch im Widerstreit mit dem Winter. An manchen Tagen war es glatt auf den Wegen, so wie auch heute, und Mark, ihr Bewegungstherapeut, nahm sie an den Arm, um sie zu stützen, damit sie nicht fiel. Heftig zog sie ihren Arm weg und sah ihn finster an.

„Lucy. Ich will nur Halt geben, denn hier ist es stellenweise sehr glatt“, tadelte er ihre Reaktion und griff erneut nach ihrem Arm. Ihre Gegenwehr fiel noch stärker aus, sie riss ihm den Arm richtiggehend aus der Hand. Mark aber verstärkte reflexartig seinen Griff, gerade zu dem Zeitpunkt, als sie über nasse, halb gefrorene Blätter liefen. Das Unvermeidliche geschah: Sie verloren beide das Gleichgewicht und fielen übereinander.

Entsetzt kroch Lucy unter Mark hervor, Panik stand in ihren Augen. Sie rappelte sich auf, verzog vor Schmerzen das Gesicht und fiel wieder hin: Irgendetwas war mit ihrem Bein. Sie konnte nicht aufstehen. Sie sah zu Mark. Er lag regungslos am Boden, aber die Kälte ließ seinen Atem wie kleine Dampfwolken in die Luft steigen.

Lucys Panik ebbte ab: Er lebte. Er lebte, und es war still. Keine Sirenen. Kein Blut. Aber es war kalt, und es war nicht seine Schuld, dass sie hier war, das wusste sie. Also kroch sie zu ihm und versuchte ihn zu wecken. Sie rüttelte an seiner Schulter. Keine Reaktion. Lucy boxte ihn in die Seite, aber auch das half nicht. Schließlich zog sie ihn zu sich, um ihn wenigstens ein wenig wärmen zu können, und wartete.

Das konnte sie gut. Seit sie stundenlang in diesem Container gesessen hatte, ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde, konnte sie verdammt gut warten und still halten.

Sie konnte sich nicht melden. Nicht melden, nicht rühren, nicht hören, nichts. Sie war stumm, taub, gelähmt vor Schreck. Sie spürte die Bewegungen um sich, um den Container herum. Schritte. Schweres Gerät, das auf dem Boden abgestellt wurde. Die Container wurden hin und hergeschoben. Aber Lucy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie auf sich aufmerksam machen konnte. Sie spürte, wie jemand gegen den Container schlug, einmal, zweimal. Sie sah, wie jemand den Decke aufriss, sah die Hand, die auf sie zeigte. Aber sie konnte sich nicht rühren, nicht reden, nicht hören.

„Zumindest bin ich nicht blind“, dachte sie und ließ zu, dass sie aus dem Container gehoben wurde. „Und riechen kann ich noch.“
Der Gestank blieb, selbst als man sie gewaschen und neu eingekleidet hatte.
Der Gestank und die Stille.

„Azarro“, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Rasierwasser, das sie schon seit gefühlten Ewigkeiten kannte. Sie hatte es irgendwann einmal ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt, und er trug seither kein anderes mehr. Ob das nun auch noch so war? Nachdem sie ihn, ihre ganze Familie verlassen hatte? Sie wusste es nicht. Wollte es nicht wissen. Ihr Vater war auch nur so ein Worthülsenmensch. Warum erinnerte sie sich jetzt an den Geruch?

Wo war der Gestank geblieben?

Lucy sog den Atem tief durch die Nase ein. Der Duft des Rasierwassers blieb, es kam von Mark. Also keine Erinnerung, ein Geruch. Ihre Nase reagierte wieder.

Wieder stieg Panik in Lucy auf. Das war nicht richtig! Es war ihre Schuld, dass diese Menschen gestorben waren! Warum sollte sie Gutes riechen dürfen, wenn der Gestank sie gerettet hatte, aber sonst niemanden? Selbst die Küchencrew hatte es letztendlich erwischt, weil sie auf dem Weg hinter den Müllcontainer vom Mörder abgeknallt worden waren, wie die Enten in einer Kirmesbude, einer nach dem anderen.
Nur sie hatte überlebt, im Müll. Im Gestank. Sie, die das Monster eingeschmuggelt hatte. Was für eine Ironie, dass sie genau dort überlebt hatte, wo sie eigentlich hingehörte. Ausschussware. Müll. Dreck. Abschaum.

Sie verbot ihrer Nase den Geruch des Rasierwassers, und die Rückkehr des Müllgestanks war beinahe tröstend für sie.

Magie. Mit dieser Magie konnte sie den Gestank bei sich behalten, und sie konnte ihre Stille erzwingen.

Aber ihr Therapeut, Mark, der musste dringend Hilfe bekommen, das wusste Lucy. Vorsichtig tastete sie in den Taschen seines Kittels und fand sein Handy. Sie wählte die Notrufnummer, die Nummer, die die Pfleger und Therapeuten wählen sollten, wenn die Irren ausrasteten, so wie Lucy das im Stillen bei sich nannte.

„Hallo, Mark? Was ist passiert?“ Die Stimme klang sachlich und auffordernd, so dass jeder, selbst in einer hektischen Situation oder in Panik wieder einen klaren Kopf bekommen konnte. „Mark, was ist los? Wo sind sie?“ Die Stimme wurde energischer, forderte eine Antwort. Aber Lucy konnte ja nicht hören und reden.

Warum hörte sie dann diese Stimme?

Nein… nein… das durfte nicht sein! Sie durfte nicht hören können! Sie war taub! Wo war die Stille?

Hektisch lauschte Lucy in sich hinein.

Schüsse! Schreie! Das Lied mit seinen Worten! Nichts davon war da! Statt dessen hörte sie diese Stimme aus der Notfallzentrale, und die eines Vogels, der auf einem Baum saß und eine muntere Melodie zwitscherte.

~

Minuten später erreichten Sanitäter die Unfallstelle im Park. Einen Moment lang standen sie wie erstarrt, kaum in der Lage das zu erfassen, was sie vor sich sahen:
Mark lag regungslos auf dem Boden. Blut sickerte aus einer Wunde an seinem Hinterkopf. Ein Stück weiter weg kroch seine Patientin auf allen Vieren von ihm fort und schrie ihre Qual hinaus in die Frühlingswelt.

Doch es war totenstill, bis auf das Lied des Vogels, hoch über ihr.

 

 

Verrat der Stille

Kate Havnevik ~ Grace

Heimwärts

Die Leitung gekappt
nichts klappt.
So ist auch ganz klar:
Nichts war
Überhör’n uns im Lärm
ganz gern.
Wir schweigen uns an.
Was dann?

Die Gedanken um uns lassen uns nicht in uns ruh’n,
tragen ab, was bleibt, Schicht um Schicht.
Aus diesem Dunkel zeigt der Weg: Was ist zu tun?
Das Gefühl zieht alles ans Licht.

Ich werde nicht bleiben, nicht halten,
werde mich nicht an uns halten.
Mit Dir: Untergehen, im Nichtverstehen?
Lieber gehen!

Ich will zurück endlich nach Hause – keine Flucht,
lass mich los, trenn mich nun vom Wir.
Mein Herz tanzt kopflos im Rhythmus der Sehnsucht,
es will nur noch heimwärts, nicht zu Dir.

Die Leitung ist tot.
Das Boot
treibt auf hoher See
ich geh
ganz leise vom Kahn.
Nimm an,
dass in Deiner Welt
nichts zählt.

Deine Gefühle und Dein Wollen, auch Dein Sehnen
bringen uns nie mehr zu uns zurück.
Brennt auch Dein Schmerz wie ein Vulkan in Deinen Venen,
etwas fehlt bei Dir zum Gegenstück.

Ich werde nicht bleiben, nicht halten,
werde mich nicht an uns halten.
Mit Dir: Untergehen, im Nichtverstehen?
Lieber gehen!

Ich will zurück endlich nach Hause – keine Flucht,
lass mich los, trenn mich nun vom Wir.
Mein Herz tanzt kopflos im Rhythmus der Sehnsucht,
es will nur noch heimwärts, nicht zu Dir.

Eine kleine Truhe für einen Riesenschatz

Zufrieden trat er einige Schritte zurück und betrachtete sein Tagewerk.
Die Truhe würde sich sicherlich gut an dem dafür vorgesehenen Platz machen. Es war eine Menge Zeit und Schweiß in sie geflossen, aber die Arbeit hatte sich gelohnt. Die Hensons würden begeistert sein, das Entgelt für diesen Auftrag würde die Schuhe für sein Mädchen sichern und noch so einiges mehr.
Jamie strich über die glatte Holzoberfläche, ein wenig stolz und zugleich prüfend, ob da nicht doch noch ein paar Unebenheiten im Holz für Absplitterungen sorgen könnten. Er lieferte gerne perfekte Arbeit ab, das und die Kunstfertigkeit seiner Möbel begann, ihm einen guten Ruf in der Gegend zu sichern und die Aufträge mehrten sich. Bald schon würde sein Einkommen reichen und Anne müsste sich nicht mehr als Erntehelferin und Dienstmagd verdingen.
Sie tanzte so gerne. Elfengleich schwebte sie über den Boden, malte mit ihren Armen und Händen wunderschöne Luftgebilde, und er liebte es, sie dabei zu betrachten. Die schwere Arbeit allerdings ließ sie immer müder werden, das Tanzen wurde weniger, und er fürchtete, dass sie eines Tages ganz damit aufhören würde.
Er war kein Mann großer Worte, die Schönrednerei überließ er anderen. Doch war er immer noch dankbar, dass Annes Vater sich durchgesetzt hatte und all die Schönlinge und Tagträumer von Anne abwehrte und sie ihm zur Frau gab. Lange danach noch hatte er um ihre Liebe kämpfen müssen, aber seine Treue und Zuverlässigkeit hatte sich durchgesetzt. Während sie mit ansehen musste, wie ihre Freundinnen von den begehrten Männern betrogen oder in den finanziellen Ruin gestürzt wurden, hatte er an ihrer Zukunft gebaut, war stets an ihrer Seite gewesen, ruhig, bedächtig, immer für sie da. Aus Ablehnung wurde Respekt, dann eine gewisse Art des Schätzens, fast Sympathie, sagte sie scherzhaft. Und eines Abends dann offenbarte sie ihm, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. An diesem Abend übermannte ihn das erste Mal eine Heftigkeit, die ihn selbst erschreckte, und nur mit Mühe hielt er seine Kräfte im Zaum, sonst hätte er sie sicherlich in seiner Umarmung erdrückt.
Nun endlich begannen seine Bemühungen auch wirtschaftlich ihre Früchte zu tragen und er fand, dass es an der Zeit war, ihr ein Geschenk zu machen. Eine Art Symbol seiner Liebe zu ihr. Es sollte etwas sein, das nur ihr gehören würde, nichts Praktisches oder für den Haushalt verwendbares, und er wollte es selbst für sie anfertigen.
Sein Blick fiel auf die Bretter, die übrig waren vom Truhenbau. Sie hatten die Breite einer Daumesdicke, waren also auf jeden Fall zu breit für sein Vorhaben. Die Hälfte dürfte ausreichen, und so setzte er seine Säge an, schnitt das Holz in die vorgesehenen Teile und halbierte dann die Teilstücke der Länge nach. Dies war keine leichte Arbeit, wollte man vom Ergebnis her eine ebene Fläche erzielen, und so verbat er sich jede Ablenkung und konzentrierte sich ganz auf das Hin- und herziehen der Säge, fühlte wenn sie begann sich zu verkanten und achtete mit seinen Argusaugen darauf, dass er nicht schief schnitt. Stück für Stück arbeitete er sich durch und ließ sich sehr viel Zeit dabei, schließlich war gerade dieser Arbeitsschritt ausschlaggebend für den Erfolg der ganzen Anstrengung.
Beim anschließenden Feinschliff hatte er hinreichend Muße, seine Gedanken wieder aufzunehmen und er rief sich in Erinnerung, welche schönen und freudevollen Momente Anne ihm in den ganzen acht Jahren ihrer Ehe bereitet hatte. Selbst als sie sich ihrer Liebe zu ihm noch nicht bewusst gewesen war, hatte sie ihn mit ihrem Lächeln verzaubert, mit ihrer Tatkraft und einer absoluten Loyalität zu ihm beeindruckt. Immer war er sich sicher gewesen, dass er die richtige Wahl getroffen hatte, selbst als sie ihm vor der Trauung böse Worte an den Kopf geworfen hatte. Ihre Zukunft würde er zerstören, hatte sie ihn angeschrien, und Jamie war froh, dass niemand in der Nähe war und diese unglaubliche Verwandlung der braven, züchtigen und duldsamen Tochter zu einer temperamentvollen Megäre mit ansah. Niemand außer ihm. Und er lächelte in Gedanken daran, dass ihre Worte ihn zwar trafen, aber doch noch einmal bestätigten, dass er nicht falsch lag mit ihr. Eine kleine graue Maus, die ihren Mund nicht aufmachte? Das war nie sein Ziel gewesen.
Versonnen ließ er das Schleifpapier sinken und dachte an die vielen Streitgespräche, die sie seither geführt hatten. Auf den Mund gefallen war sie nicht, oh nein. Jamie hörte sich immer an, was sie zu sagen hatte. Und dann brachte er in seiner ruhigen Art seine Gegenargumente vor. Konnte sie diese entkräften, entschied er auch in ihrem Sinne. Gelang ihr dies nicht, galt sein Wort.
Mit der Zeit wurde ihr klar, dass er mehr auf sie hörte als auch nur einer dieser eitlen Pfauen es jemals getan hätte. Das war der Moment gewesen, als sie anfing ihren Gatten mit anderen Augen zu betrachten.
Kopfschüttelnd wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Holzstücken zu, die nun mittlerweile glattgeschliffen vor ihm lagen. Heute noch zweifelte er manchmal, ob sie nicht recht gehabt hatte, ob sie es nicht bei einem anderen Mann besser getroffen hätte. Bei einem, der ihr ein gutsituiertes Heim und eine gehobene gesellschaftliche Stellung hätte bieten können. Sie hätte auf Gesellschaften glänzen, auf Festen tanzen und in Salons ihren Interessen nachgehen können.
Ein Arzt und eine Hebamme wären bei der Geburt ihrer Tochter zugegen gewesen und sie hätte anschließend genug Ruhe und Pflege genießen können um sich von den Strapazen zu erholen. So musste sie gleich am darauffolgenden Tag wieder aufstehen, den Haushalt führen und bei der Ernte der Nachbarn helfen, das Kind in einem Tuch auf den Rücken gebunden.
Jamie schämte sich immer noch zutiefst, dass er ihr noch nicht einmal da hatte beistehen können, weil er selbst bei einem Hausbau drei Orte weiter helfen musste. Erst bei seiner Rückkehr konnte er seine Tochter das erste Mal sehen.
Er zeichnete die Zinken ein, die er als nächstes aussägen musste, fast schon zu heftig führte er dabei das Messer. Hier war nun besondere Obacht geboten, denn die Zinken mussten perfekt ineinander passen, damit es nicht schief wurde. Er atmete mehrmals tief durch und beruhigte seine Gefühle. Wenn sie wirklich Freude an ihrem Geschenk haben sollte, hieß es nun, ruhig und gelassen zu arbeiten, ein einziger Fehler wäre hier fatal. So blendete er erst einmal alle Gedanken aus und nahm seine kleine Handsäge auf, mit der er nun die Zinken gemäß den Markierungen in das Holz einließ. Er setzte die Teile probeweise zusammen und atmete erleichtert auf: Seine Routine in der Handarbeit hatte ihn nicht im Stich gelassen, alles passte perfekt ineinander.
Vorsichtig trennte er die Bauteile noch einmal, ließ den Leim in die Aussparungen fließen, langsam, damit nicht zu viel überlaufen würde. Dann erfolgte der erneute Zusammenbau und stolz betrachtete er sein Werk. Es war noch viel zu tun, aber das hatte Zeit, bis der Leim getrocknet war. In der Zwischenzeit würde er die Truhe zu den Hensons bringen. Sie würden sich freuen, dass er bereits einen Tag eher als abgemacht fertig war.
Auf dem Rückweg von den Hensons summte er zufrieden vor sich hin. Als Dank für seine schnelle Arbeit hatte er noch eine frisch hergestellte Wurst mitnehmen dürfen. Die würde er gleich Anne überreichen und sie würde sich über die ungewohnte Bereicherung des Abendmahls sicherlich erfreut zeigen. Sie selbst hielten kein Schlachtvieh, deshalb waren solche Güter eher selten bei ihnen anzufinden. Seine Frau hatte viel gelernt, seit sie nach Maine gezogen waren und der Vater keine Haushaltshilfe mehr vorbeischicken konnte, wenn ihr alles zu viel wurde.
Sir Anthony war eine schillernde Persönlichkeit, berühmt und berüchtigt in seinem Umfeld in England. Seine Schauspielkunst wurde verehrt und er wurde zu vielen Festlichkeiten eingeladen. Daher konnte er auch zur rechten Zeit Anne zu einem Debut verhelfen, das sie sonst nie hätte erleben können. Jede andere Tochter eines Schauspielers wäre von der Gesellschaft ausgegrenzt worden, doch ihm zu Liebe wurde Anne vorerst geduldet, ihre liebreizende Art verschaffte ihr aber bald einen Erfolg, mit dem niemand hätte rechnen können.
Nur der Weitsicht “Sir” Anthonys , seinen Titel hatte er sich als eine Art Künstlernamen selbst verliehen, war es zu verdanken, dass Anne nun bei Jamie weilte. Denn auch wenn sich das Mädchen noch so großer Beliebtheit erfreute, war es ihrem Vater dennoch klar, dass eine Ehe mit einer dieser Gecken nur Probleme aufgeworfen hätte. Bei der Jugend angesehen hätte Anne bei den Älteren nur Verachtung und hämische Sticheleien geerntet.
Jamies Antrag kam Sir Anthony nur sehr recht. Er, der jüngste Sohn einer großköpfigen Adelsfamilie hatte sich nur seiner Schwester zuliebe in dieser Saison in den Ballsälen aufgehalten. Im Grunde seines Herzens war er ein einfacher Handwerker und froh darum, dass er niemals die Nachfolge seines Vaters würde antreten müssen. Sein Ziel, über den großen Teich auszuwandern, stand ebenfalls fest, ebenso wie der, in der neuen Welt sein Glück als Schreiner und Tischler zu machen.
Da Jamies Leumund einwandfrei war und Sir Anthony berichtet wurde, dass alles, was er anfasste, durch seine Beharrlichkeit und eiserne Disziplin zum Erfolg führte, war seine Entscheidung auf ihn gefallen, als er zwischen den zahlreichen Bewerbungen um Annes Hand wählen musste.
Niemand hatte ahnen können, dass Annes und Jamies Hab und Gut eine Weile nach ihrer Ankunft in Maine bei einem Brand auf ihrem Gut vernichtet werden würde, so dass sie gezwungen waren, praktisch mit dem, was sie am Leib trugen, wieder neu zu beginnen. Die Freunde, die sie zu diesem Zeitpunkt bereits gefunden hatten, halfen wo sie nur konnten. Aber niemand hier hatte wirklich einen Überfluss, und so lernte das Paar, mit dem Nötigsten auszukommen.
Und sie hatten ihr Schicksal gemeistert. Überraschenderweise hatte seine kapriziöse Anna alles mitgetragen und war eine große Hilfe für ihn, sei es durch bedachtes Haushalten, durch ihre tatkräftige Mithilfe beim Neubau oder bei den Nachbarn, oder einfach nur, weil sie da war, ihm zuhörte, Rat gab, ihn liebte.
Jamie lenkte sein Gespann in Richtung Schmiede, dort hatte er noch zu tun. Er besprach mit dem Besitzer den neuen Auftrag: Ein Ehebett sollte es sein; Langston hatte sich entschieden zu heiraten. Jamie und er besprachen die Einzelheiten des Entwurfs. Als sie sich geeinigt hatten, stand Langston umständlich auf, ging in den Werkraum hinüber und kehrte kurze Zeit später mit einem Kasten zurück.
Er schlug das darüber liegende Tuch zurück und grinste Jamie an: “War es das, woran du dachtest?” Behutsam nahm der Schreiner die zierlichen Scharniere und Beschläge aus dem Kasten, starrte sie bewundernd an und strahlte über das ganze Gesicht. Der Schmied war tatsächlich ein Meister seines Fachs. Das, was dort in Jamies Händen lag, waren wundervolle Schmiedearbeiten, die der Schatulle einer Königin gerecht geworden wären, und genau das brachte er nun auch zum Ausdruck: “Langston, ich verneige mich vor Dir. Es ist haargenau das, was ich mir vorstellte. Selbst des Königs Schmied hätte das nicht schöner hinbekommen.” Sein Freund lachte und winkte ab. “Nach Deinen Zeichnungen zu arbeiten war einfach genug. Du hattest es ja präzise genug zu Papier gebracht.”

Mit einer schon fast unhöflichen Eile legte Jamie die Arbeiten zurück in den Kasten. Nun hielt ihn hier nichts mehr; er hatte alles, um sein Geschenk an Anne fertigzustellen. Langston hielt ihn noch kurz am Arm fest und verabschiedete ihn: “Lass es mich sehen, wenn es fertig ist. Ich suche noch nach einem Hochzeitsgeschenk für Lara.”
Sie nickten sich zu und verabschiedeten sich endgültig.
Der lange Weg zu seinem Hof ließ Zeit für weitere Gedanken, und so dachte Jamie über die Schnitzarbeiten nach, die ihm noch bevorstanden. Es sollte eine kleine Tänzerin sein, die den Deckel des Kästchens zierte. Wild und frei, nicht dem Protokoll der Gesellschaft angepasst, die Haare im Wind flatternd, das Kleid sollte sich mit ihr wirbeln, der Tanz nur angedeutet, damit Anne es gerade noch erkannte, aber niemand anderes etwas Anrüchiges daran entdecken konnte. Erst wollte er als Vorbild seine Frau nehmen, er entschied sich aber dann, seine Tochter auf dem Schatullendeckel zu verewigen.
Lucinda war mit ihren drei Jahren genau richtig für ein unschuldiges Bild einer ungebärdigen Tänzerin und Anne würde es verstehen und sich doppelt freuen: Eine Hommage an sie und die bleibende Erinnerung an ihr Töchterchen. Als er diesen Entschluss fasste, spürte Jamie, dass es richtig war, und er brannte darauf, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Erst aber lief ihm seine Tochter über den Weg, ihr hinterher krabbelte der kleine George, und für eine Stunde oder zwei stellte der stolze und liebevolle Vater seine Arbeiten an der Schmuckschatulle zurück um mit ihnen zu spielen.
Anne stand im Garten und erntete die Kräuter, mit denen sie das Essen verfeinerte und hilfreiche Medizin anrührte. Sie lächelte ihm dankbar zu, konnte sie sich doch nun ganz in Ruhe auf ihre Arbeit konzentrieren. Beide Kinder waren arge Wirbelwinde, sie im Zaum zu halten, zu beschäftigen und noch einer konzentrierten Arbeit nachzugehen war ein schier unmögliches Unterfangen.
Schneller als geplant war es Zeit für das Nachtmahl und am Tisch erzählte Jamie seiner Frau von den Heiratsplänen des Schmieds und dem dazugehörigen Auftrag. Nur über das Hochzeitsgeschenk schwieg er sich aus, er wollte sich nicht verraten.
Anne freute sich sehr über die Pläne, zumal Lara ihr eine gute Freundin geworden war und sie auch Langston als sehr angenehm empfand. “Eine gute Wahl”, meinte sie und dachte laut weiter: “Sicher ist Lara keine Schönheit, aber sie ist eine hervorragende Köchin und Haushälterin, und sie ist eine ehrliche und treue Seele. Wenn Langston ihr Temperament zu nehmen weiß, werden die beiden sicherlich glücklich miteinander.“
Neugierig blickte sie ihren Mann an. „Hast Du schon Pläne für das Bett?” fragte sie in gleichmütigem Ton. “Ich könnte als Hochzeitsgeschenk eine Überdecke anfertigen, hinreichend Flicken habe ich noch.”
Jamie grinste in sich hinein. Sein Weib hatte tatsächlich gelernt, ihre Neugierde geschickt zu tarnen. “Ja, Langston hat genaue Vorstellungen davon, wie ein Ehebett auszusehen hat. Und ich denke nicht, dass er sich da von einer Frau – ganz gleich von welcher – hineinreden lassen will.”
Damit war das Thema für ihn abgehakt, denn er wusste genau, dass sie die Pläne sehen wollte, und was sie dann sehen würde, könnte ihr nicht gefallen. Als sie alles neu bauen mussten, hatte sie mit ihm um jede Verzierung an der Bettumrahmung gefeilscht, alles was er als überflüssigen Tand abtat, war ihr wichtig. Jamie hörte noch genau ihr Flehen: “In einem gemeinsamen Bett müssen sich beide wohlfühlen. Du siehst es meist nur im Dunkeln von innen, aber ich halte den Raum sauber und in Ordnung, also sehe ich es auch im hellen Tageslicht, und das sind die Bilder, die ich mitnehme in den Schlaf…” Damals hatte seine Frau ihn überzeugt, aber diesmal war es eine Auftragsarbeit, und da hatte sie nicht hineinzureden.
An diesem Abend machten sie es sich gemütlich, und es war nicht mehr an ein Weiterkommen an dem Schatzkästchen zu denken. Es hätte sie neugierig gemacht, was er noch so Wichtiges zu erledigen hätte: Die Truhe war abgeliefert, das Bett hatte ganz sicher noch Zeit bis zum nächsten Tag. Sich dessen bewusst, harrte er geduldig den Abend bei ihr aus. Die Nacht mit ihr belohnte ihn dafür.
Am nächsten Morgen ließ er sich jedoch durch nichts mehr aufhalten. Er wollte unbedingt weiter an seiner Überraschung für Anne arbeiten, und so ging er gleich nach dem Frühstück in seine Werkstatt, vorgeblich um mit dem Bett zu beginnen.
Er prüfte das Kästchen auf eventuelle Fehler und lockere Verbindungen und nickte zufrieden. Es war perfekt und bereit für den nächsten Schritt.
Nun hieß es, das Kästchen an der Stelle aufzusägen, wo anschließend Deckel und Kasten aufeinandertreffen sollten. Er platzierte das Senklot an der entsprechenden Stelle und begann, fein säuberlich mit dem Messer eine Markierung anzubringen. An dieser Stelle würde er später die Handsäge ansetzen.
Er betrachtete aufmerksam die Linie, die er in die Schatulle geritzt hatte. Es war ihm wichtig, dass es hier zu keiner Unebenheit kam. Dann hätte der Schmuckkasten nicht richtig geschlossen, und wieder machte er sich klar, dass er nun sehr aufpassen musste.
Sich nun vorzustellen, wie sie sich freuen würde, wie sich ein Strahlen über ihr müdes Gesicht ausbreitete, war zwar verführerisch, aber er schob diese Gedanken an die Seite, nahm seine Handsäge zur Hand und begann mit der Öffnung des Kästchens. Zügig und mit festem Griff zog die Säge entlang der Markierung, wohlweislich darauf achtend, dass sie auch hier nicht verkantete. Das gleichmäßige Hin und Her ließ ihn in seiner Routine wieder seine Gedanken aufnehmen.
Anne hatte nur einen schäbigen kleinen Beutel, in dem sie ihre paar Schmuckstücke verwahrte, und ständig musste sie ihn vor den neugierigen Fingern ihrer beiden Kinder verstecken. Gerade George war sehr neugierig und in einem Alter, in dem er noch alles in den Mund steckte; einfaches Begreifen langte ihm noch nicht. Er ließ schon jetzt erahnen, dass er ein kleines Temperamentbündel war, gerade so wie seine Mutter, und der Gedanke rief in Jamie ein zärtliches Lächeln hervor.
Er liebte sie alle drei, sie waren seine Familie, sein ein und alles. Sein zu Hause, das ihm das Gefühl gab, was auch immer passieren würde, angekommen zu sein.
Hier in Maine hatte er es endlich geschafft, die Träume seines Lebens umzusetzen: Ein einfaches Leben, eine ehrliche, gute Arbeit, ein Heim, Frau und Kinder, Freunde – und Glück. All das gab es für ihn nun im Überfluss. Er wusste, dass er einen wesentlichen Teil durch Ehrgeiz, Fleiß, Gelassenheit und Freude dazu beigetragen hatte. Aber er wusste auch, dass er es ohne Anne nie geschafft hätte.
Wo er ruhig war, distanziert, schaffte sie es mit ihrer sittsamen aber lebhaften Art schnell, Brücken zu schlagen, Freunde zu finden und ihrer beider Platz in der hiesigen Gesellschaft zu sichern. Selbst in den Haushalten, wo sie ihre Dienste anbot, wurde sie des Abends als Gast an der Tafel empfangen, und niemand verlor ein Wort darüber, dass sie morgens noch am Waschzuber oder im Feld gestanden hatte.
Endlich näherte er sich dem Ende der Sägerei. Noch einmal gut aufgepasst, dass am Ende nichts herausbrach, und dann hielt er die beiden Teile, Kasten und Deckel in Händen. Prüfend strich er über die Kanten. Er liebte dieses Gefühl des rauen Holzes und fast tat es ihm leid, es glatt schleifen zu müssen. Dennoch war es notwendig, das wusste er, und so holte er noch einmal das Schmirgelpapier hervor und glättete die unebenen Stellen.
Nun folgte der unangenehmste Teil der Anfertigung: Aus dem Abort geschöpftes Urin wurde erhitzt und das Werkstück musste in die Dämpfe gehalten werden. Nur so dunkelte das Eichenholz innerhalb kurzer Zeit zu einem zufriedenstellenden Ergebnis nach. Hierfür sorgten die Ammoniakanteile im Urin. Es roch zwar bestialisch, aber es tat seinen Zweck, also hielt Jamie sich ein Tuch vor sein Gesicht, während der Gestank ihm die Sinne betäubte.
Urin war eine Beize, die nicht nur bei seiner Arbeit half. Auch Stoffe und Garne wurden vor dem Einfärben in Urin gekocht, um alle störenden Inhaltstoffe zu beseitigen, die die Aufnahme der Farben beeinträchtigt hätten und somit die Fasern nur fleckig und ungleichmäßig eingefärbt hätten. Anne und die anderen Frauen der Siedlung trafen sich in regelmäßigen Abständen rundum in den Häusern zur Stoff- und Garnbeize. Eine gute Sache, denn so hatte nicht jeder Haushalt im kurzen Abstand den aufdringlichen Geruch im Haus, und die Frauen konnten einander beobachten, wann eine durch die Dämpfe zu sehr benommen wurde.
Mittlerweile war er mit der Dunkelheit des Holzes zufrieden. Er goss die Beize zurück und stellte sie auf die Fensterbank zum Abkühlen. Während der Mittagsmahlzeit hatte der Raum und das Kästchen Zeit, den alles durchdringenden Geruch zu verlieren. Im Anschluss daran könnte er mit der Anfertigung der Intarsien und der Zierleisten beginnen.
Anne verzog das Gesicht, als er die Küche betrat, legte ihm frische Kleidung hin und befahl ihm, sich draußen am Brunnen zu waschen. Seine Erklärung, dass er mit Holz und Beize für den neuen Auftrag experimentiert habe, akzeptierte sie nur widerwillig. “Du willst doch wohl nicht ein ganzes Bett abbeizen? Und der Gestank hängt dann tagelang hier auf dem Hof herum? Bei aller Liebe zu deinem Freund, Jamie, aber das mache ich nicht mit!”
Er grinste sie an und versicherte ihr: “Keine Sorge, meine Liebe. Wenn überhaupt, dann werden nur die Zierleisten gebeizt, und das werde ich nicht hier sondern bei Langston machen. Das ist bereits geklärt.” Auch wenn es bedeutete, dass er wieder einmal einige Tage nicht da sein würde, stellte sein Eheweib diese Erklärung zufrieden.
Überhaupt war sie in letzter Zeit so in sich gekehrt… Das würde doch nicht bedeuten, dass sie schon wieder…? Er hoffte für sie, dass dem nicht so sei. Schon Georges Geburt war ihr sehr schwer gefallen, das wusste er, denn er war in jener Nacht bei ihr gewesen; es hatte keinen Sinn mehr gemacht, den Doc zu holen. Und doch konnte er ein kleines Frohlocken nicht unterdrücken, denn es war schon immer sein Wunsch gewesen, einer großen Familie vorzustehen.
Gereinigt trat er in die Küche und sah sie versonnen in das Kochfeuer schauen, die Augen signalisierten, dass sie in weiter Ferne war. Ja, ihre ganze Haltung, dieser Blick – er war sich fast sicher.
“Anne….? ” Sie zuckte regelrecht zusammen und nahm rasch die Hände von ihrem Bauch, ein weiteres Zeichen für ihn und er lächelte sie vorsichtig fragend an. “Ist es wahr? Trägst du ein weiteres Kind unter deinem Herzen?” Wie ertappt lächelte sie ihn an und er breitete die Arme aus. Sie flog förmlich hinein, schmiegte sich an ihn und flüsterte: “Ja, Liebster. Ich wollte noch ein paar Tage warten und sicher gehen, bevor ich es dir sage, aber ….”
Er unterbrach ihre Worte mit einem heftigen Kuss. Dann löste er sich von ihr und fragte sie besorgt, ob es ihr gut ginge, und sie lachte ihn aus. “Bis gerade eben wusstest du noch nichts davon, und nur weil du es nun erfahren hast, geht es mir nicht besser oder schlechter als vorher”, schmunzelte sie. “Und nun lass mich aus, die Kinder kommen gleich herein!”
Während des Essens lächelten sich die Beiden häufig an und berührten einander oft, keiner wollte den anderen weiter von sich wissen als unbedingt nötig. Auch die Kinder spürten die Magie dieser Stimmung und benahmen sich außerordentlich sittsam.
George schaute staunend vom Vater zur Mutter, so viel Nähe gönnten sie sich vor den Kindern sonst nie! Aber Jamie hatte so ein komisches Gefühl in seiner Brust, so als müsse er jeden Moment mit ihr ausnutzen. Wer weiß, was alles bei so einer Geburt passieren konnte, und er begann sich um sie zu sorgen. Wie bei den beiden Kindern zuvor verfluchte er sich, weil er ihr die beschwerlichen Wochen zur und die Gefahr bei der Geburt aufbürdete, und er wusste, dass er ihr dabei nicht helfen konnte. So ließ er sie keinen Augenblick aus seinen Augen, und sie war sich dessen sehr bewusst.
Nach dem Essen zogen sich die Kinder für eine Mittagsruhe zurück. Anne lachte immer wieder darüber und spottete: “Die Frage ist immer, wer hier mehr Ruhe benötigt, die beiden kleinen Teufel oder ich …”
Sie führte in dieser Zeit die Bücher, denn abends dafür ein Kerzenlicht zu vergeuden sah sie nicht ein, und tagsüber, wenn die Kinder wach waren, fehlte ihr die Konzentration. Jamie ließ sie bewusst dabei in Ruhe, nicht ohne seine Frau noch einmal sachte an sich zu ziehen und ihr einen zärtlichen Kuss dazulassen.
Er ging zurück zu dem unfertigen Geschenk, das nun ohne sein Zutun doch noch einen Anlass gefunden hatte. Der Geruch war noch nicht völlig aus dem Zimmer verschwunden, und auch das Kästchen benötigte noch ein bisschen Ruhe, also griff der Schreiner nach einem Übungsholz und seinem Schnitzwerkzeug und ging an den nahegelegenen Bach, um dort in Ruhe die Verzierungen des Deckels zu entwerfen. Er setzte sich auf einen großen Felsen, der dort schon seit Ewigkeiten stehen musste, sein Lieblingsplatz.
Das ruhige Murmeln des Baches, der Geruch der Frühlingsblumen, die Stille, nur vom Rauschen des Windes in den Bäumen und vom Vogelgezwitscher unterbrochen – das alles verwob sich ineinander zu einer zauberhaften, fast magischen Atmosphäre, die ihn immer wieder hier her zog, wenn er Ruhe benötigte. Dieser Ort war auch ausschlaggebend gewesen für die Wahl des Standortes seines Hauses. Anne hatte ihn davon abgehalten, direkt am Bach zu bauen. Praktisch, wie sie war, wies sie ihn auf die kommenden Kinder und eventuelle Hochwasser hin, und so ließ er sich dazu überreden, dass er ein gutes Stück vom Bach entfernt den Grundstein legte.
Am Ende war es eine weise Entscheidung, denn so blieb ihm dieser Ort der Ruhe erhalten, der sonst von Kindertoben und einer aufgeregten Mutter entweiht worden wäre. So verbrachte Jamie den Mittag hier am Bach, ritzte seinen Entwurf in den Holzblock, schnitzte das Motiv grob vor und besserte es aus, bis es ihm wirklich gefiel. Als die Sonne hinter den Bäumen langsam ihr Tagewerk beendete, klopfte er die Holzspäne von seiner Hose und steckte den Block zufrieden ein, denn er wusste, dass er das richtige Motiv gefunden hatte.
In dieser Nacht hielt er seine Frau eng bei sich, als habe er Angst, sie zu verlieren. Er träumte, dass die kleine Tänzerin von seinem Holzblock sich davon löste und lebendig durch den Raum tanzte. Sie warf die Hände in die Luft und tanzte wie ein Wirbelwind durch die Räume, machte einen Satz und sprang aus dem Fenster, bevor er sie aufhalten konnte. Laut rufend wollte er ihr hinterhereilen, aber ein Rütteln an der Schulter und eine sanfte Stimme weckte ihn auf.
“Jamie… ist alles in Ordnung?” Annes besorgtes Gesicht schwebte über dem Seinen in der dunklen Nacht. Ihre Augen schimmerten und er konnte nicht anders, er musste sie an sich ziehen und küsste sie, leidenschaftlich, im Wunsch, sie für immer zum Halten zu bewegen.

Am nächsten Morgen stand Jamie schon beim Morgengrauen auf. Heute galt es, das Kästchen fertigzustellen: Sie sollte wissen, dass dies nichts mit der erneuten Schwangerschaft zu tun hatte, dass er sie nicht wie eine fruchtbare Kuh mit einer Extraportion Heu belohnen wollte.
Nein.
Dieses Kästchen sollte nur das sein, was er ursprünglich darstellen wollte. Er hatte lange noch in der Nacht wachgelegen, die Arme eng um sie geschlungen, hatte darüber nachgedacht und sich ausgemalt, was sie von seinem Geschenk noch halten würde, wenn sie es mit dem Anlass der Schwangerschaft gleichsetzte.
Es wäre nicht mehr das Selbe. Selbstverständlich hätte sie sich gefreut, aber dann wären ihr eine neue Schürze, ein neues Unterkleid lieber gewesen, denn mit diesem Kästchen würde sie dann nicht einen persönlichen Besitz verbinden und immer wieder versucht sein, in dem Mädchen auf dem Deckel einen Wunsch nach einer weiteren Tochter zu sehen oder das Kästchen für die ersten Haare, für den ersten Zahn beiseite zu legen.
Also bereitete er im Halbdunkel schon einmal den Samt vor, schnitt ihn zurecht, befestigte ihn mit winzigen Nägeln im Boden der Schatulle, schraubte die Scharniere an und suchte Muster für die Zierleisten aus. Als das Tageslicht zum Schnitzen ausreichte, stellte er alles andere an die Seite und schloss die Tür zur Werkstatt zu, ein Zeichen, dass er nicht gestört werden wollte. Dann nahm er den Deckel in seine linke Hand, in die rechte ein Schnitzmesser und begann, das Motiv vom Übungsblock ins Reine zu übertragen.

Stunde um Stunde konzentrierte er sich darauf, die wehenden Haare und Röcke zu verdeutlichen, das Gras unter den bloßen Füßen zu verfeinern, das Gesichtchen klar und doch schemenhaft wirken zu lassen. Die Arme, sie streckten sich im rechten Winkel voneinander fort, ein Beinchen war angewinkelt, die kleine Tänzerin schien es gleich in die Luft zu werfen. Leichte Wolken, sogar den Baum, der direkt neben dem Felsen unten am Bach stand, deutete er an.
Die Zierleisten bestanden aus ineinander verschlungenen Herzen und so bekam der Betrachter ein Rätsel nach dem Anderen aufgezeigt. Alles wirkte vage, doch die Nachricht war für die Empfängerin klar:
“Ich liebe Dich, so wie Du bist, und ich will Dir Deine Freiheit zum Tanz durchs Leben lassen, solange Du in meinem Herzen und ich in dem Deinen bin.”
So fieberhaft arbeitete er, dass er die Zeit vergaß. Das Mittagsmahl, das Abendessen, all das ging an ihm vorüber, und er ruhte nicht, bevor er nicht letzte Hand an die Schatulle gelegt hatte und sie mit wohlriechendem Bienenwachs versiegelt hatte. Am Ende schlief ein, vor lauter Erschöpfung: Sitzend, den Kopf in der linken Armbeuge, das Kästchen mit der rechten Hand fest umschlossen.
Am späten Abend, als die Kinder schon ruhten, klopfte Anne an die Tür. Als sie keinen Mucks hörte, trat sie dennoch ein, beunruhigt, denn sie hatte ihren Gatten den ganzen Tag nicht gesehen, und das geschah sonst nur dann, wenn er außerhalb zu tun hatte. Darüber aber gab er ihr immer frühzeitig Bescheid.
Sie schaute sich in seinem Refugium nur kurz um, sah ihn am Tisch sitzen, eingenickt. Warum auch immer er sich den ganzen Tag hier herumgetrieben hatte, sollte nicht mehr das Problem von heute Nacht sein. Das konnten sie immer noch am nächsten Morgen klären, dachte sie liebevoll. Leise schlich sie zu ihm, legte ihre Hand sanft auf seine Schulter und weckte ihn auf: “Jamie… es wird Zeit zu schlafen. Komm mit herüber, ich bitte Dich…”
Er schrak hoch, schlaftrunken noch und völlig verspannt, sah sich um und bemerkte die Dunkelheit sowie ihren sorgenvollen Blick.
“Liebste… ich musste doch noch das Herz zurechtschneiden…”
“Schhhhhhhhhhhh…….” Anne legte ihrem Mann einen Finger auf den Mund und wollte ihn zum Schweigen bringen, doch da hielt er ihr schon ein kleines, dunkelbraunes Etwas entgegen, schaute sie bittend an.
“Du sollst wissen, dass ich damit anfing, bevor ich es erfuhr… sie ist für Dich.”
Anne nahm staunend und ehrfürchtig die Schmuckschatulle aus seinen Händen. Selbst im Dunkel des Raumes erkannte sie, welches Kleinod ihr Gatte dort für sie angefertigt hatte, wieviel Liebe und Geduld, wieviel Arbeit dort herinnen steckte. Sie schluckte, und Tränen der Freude und der Rührung traten ihr in die Augen. Dass er gleich erkannt hatte, dass es ein paar Tage später einen Nachgeschmack gehabt hätte, das war so typisch für ihn und seine Aufmerksamkeit. Ein Schmuckkästchen nur für sie allein, und mit einem wunderschönen Motiv, wie sie erahnen konnte. Er musste Stunden um Stunden daran gearbeitet haben…
Sanft und vorsichtig, als sei es ein Heiligtum, legte sie das Kästchen in die Mitte des Tisches. Sie zog an seinen Händen, und er hielt dagegen, nahm sie auf seinen Schoß.
Anne schlang die Arme um seinen Hals, stumm, jeder Sprache beraubt, und küsste ihn.
Und Jamie wusste, dass sie es nicht aus Dank für das Kästchen tat.