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Ich doch nicht!

Ich doch nicht.

Neh. Kann ja gar nicht sein.

Ich halte mich doch an die Regeln. Nicht rausgehen. Keine Umarmungen. Abstand halten. Hust- und Niesetikette und all der andere Mist. Mir kann also gar nichts passieren.

Und doch…

Seit heute morgen habe ich einen leichten Schnupfen. Nicht wirklich schlimm, nur eine Nasenhälfte, die andere ist noch völlig frei, wirklich! Und das Kratzen im Hals ist bestimmt nur Raucherhusten. Ich habe mich doch an alle Regeln gehalten, wie also könnte ich mich infiziert haben?

Okay, ich erinnere mich, dass ich in der letzten Woche in diesem Bus gesessen habe. Da musste ich Halteknöpfe drücken. Hatte ich mir danach die Hände gewaschen?

Und am Tag drauf, da war ich unterwegs, habe eingekauft. Da konnte ich nicht immer den Sicherheitsabstand einhalten. An der Kasse ist es viel zu eng dazu.

Ich sitze hier und wäge ab. Leichter Schnupfen. Halskratzen. Eine leichte Abgeschlagenheit. Alles Dinge, die mich nie daran gehindert hätten, meiner Arbeit nachzugehen. Und heute habe ich einen Termin. Einen, der mir sehr wichtig ist.

Soll ich abwarten, es darauf ankommen lassen? Vielleicht ist es ja gar nicht dieser unsägliche Virus.

Aber dann denke ich daran, was die Praxis, zu der ich gehe, anderen Menschen ermöglicht, auch für andere Menschen eine Art Ankerpunkt ist. Einer der letzten Orte, zu denen man hingehen kann, etwas Gutes für sich tun kann.

Und dann denke ich an meinen Coach, den ich morgen treffen sollte. Marja ist eine der Personen, die zu jenen gehören, die man als “gefährdet” betrachten sollte. Asthmakrank.

Wenn ich jetzt also nichts mache, einfach weitermache, als wäre dieser Schnupfen nur ein harmloser Schnupfen, könnte ich dafür verantwortlich sein, dass diese Praxis schließen muss und dass ein Mensch, den ich sehr schätze, an Covid erkrankt. Ich könnte im Bus, den ich heute nutzen müsste, noch weitere Menschen anstecken.

Seufzend greife ich zum Telefon, sage den Termin für heute ab. Dann rufe ich meinen Coach an. Und während wir reden, laufen mir auf einmal Tränen übers Gesicht, denn mit diesen Absagen verschwinden auch für mich zwei wichtige Ankerpunkte.

Ich fühle mich hilflos. Ja, ich weiß, was ich zu tun habe. Abwarten, die Symptome beobachten, mich beim Arzt wegen eines Tests melden. Doch wie soll ich dahin kommen? Und was, wenn ich schlimm erkranke? Was passiert dann mit meinem Sohn?

Was am meisten aber schmerzt, ist die Tatsache, dass ich mich mit diesen Anrufen der letzten Kontakte beraubt habe, die mir so wichtig sind. Stützen meines Alltags. Ankerpunkte, die ich so dringend brauche, um selbst einer sein zu können, für meinen Sohn.

Hier in unserer kleinen Zweisiedelei wird es erst einmal so weitergehen wie bisher, obwohl sich die Anzeichen einer sich auflösenden Tagesstruktur mehren. Die kleineren und größeren Probleme werden wir in den Griff bekommen, das ist kein Thema.

Doch in dem Moment, in dem ich nicht mehr sagen konnte: “Ich doch nicht”, hat sich etwas geändert. Es ist etwas verloren gegangen. Meine Unantastbarkeit. Diese Unbesiegbarkeit der Gesunden. Die Sicherheit, dass mir nie wirklich etwas Schlimmes passieren wird.

Das schafft Raum für Demut.

Jetzt halte ich wirklich inne.

Wenigstens für einen kurzen Moment.

Dann werde ich wohl ins Taschentuch schniefen, meine Hände waschen gehen und dafür sorgen, dass in unserem kleinen Reich die Fahnen hochgehalten werden.

Der Verrat der Stille

Es gibt Zeiten, in denen jedes Wort zuviel ist.
Selbst das gedachte Wort kann eines sein, das Katastrophen auslöst.
In solchen Zeiten hilft es, seine Gedanken abstrakt zu strukturieren. Man spielt die Konzentration fördernde Spielchen, malt Bilder ohne Motiv, man sieht anderen Leuten beim Leben zu und versucht dies in Einklang mit seinem Weltbild zu setzen.

Irgendwann taucht man aus der Tiefe des Schweigens auf, in der Hoffnung, etwas gelernt zu haben. Es steigen Worte auf. Worte, die die abstrakten Gedanken zu einem Gebilde formen, das die besagte Lehre verdeutlichen soll. Manchmal lebt man dann mit diesem Gebilde einige Zeit; sicher, endlich einen Weg gefunden zu haben. Das geht so lange gut, bis das Gebilde anfängt zu zerfallen. Das kann am Alter des Gebildes liegen. Erosion, Erruption, ein Sturm – was auch immer – kann dazu führen, dass das Gebilde brüchig wird und langsam oder auch blitzschnell in sich zusammenfällt.

Die Twintowers waren ein solches Gebilde. Gebaut nicht unbedingt für die Ewigkeit, aber zumindest für unzählige Epochen. Ein Tag, also ein winziger Bruchteil der Ewigkeit reichte, um sie zu Fall zu bringen.

Aber sie standen lang genug, um sie in das Gedächtnis der Welt einzubrennen. Die Menschheit wird sich an sie erinnern. Einerseits aufgrund ihrer Beliebtheit und ihres ursprünglichen Symbolcharakters. Andererseits aber auch durch den Tag, die Ereignisse, die zu ihrem Untergang führten.

Solche Momente bleiben uns auch oft länger im Gedächtnis als das, was unser Weltbild, unser Konstrukt, das wir aus den Tiefen unseres Schweigens mitbrachten. Die Ereignisse, die zu dem führten, was unsere Zuversicht, unsere Sicherheit, was uns kleinkriegte.

~

Lucy war noch immer gefangen. Gefangen in dem Kokon, der die Erkenntnisse aus den Ereignissen der letzten Jahre von ihrer Seele fernhalten sollte. Ein Schutz, einer Mauer gleich. Einer Mauer, die über der Erde hoch bis in die Himmel ragte, unterhalb bis in die Tiefen der Hölle reichte. Niemand würde diese Mauer überwinden können, und da der Kokon fester als die Hülle eines Panzers war, konnte ihn auch niemand durchdringen.

Schutz ist gut und gesund, dann vor allem, wenn Gefahr droht. Man kennt das genug aus Kriminalromanen: Zeugen zum Beispiel, die in wichtigen Fällen aussagen sollen, werden in Schutzhaft genommen. Prominente, Politiker, Wirtschaftsgrößen, all diese Menschen haben Leibwächter, die sie schützen.

Aber auch Menschen, die ungebetene Gäste von sich fern halten wollen, beauftragen Wachmänner, errichten Mauern und Zäune, die andere fernhalten sollen. Patienten mit enormer Immunschwäche müssen ihr Leben in isolierten Räumen oder Zelten verbringen.

All diese Vorsichtsmaßnahmen erfordern Kraft, Kraft, die für das eigentliche Leben wesentlich notwendiger wäre, und sie isolieren.

Zwei Faktoren, die deutlich dazu beitragen, die Vulnerabilitätsgrenze deutlich zu senken, sprich: Sie tragen dazu bei, Menschen verletzbar zu machen. Also wirkt die Schutzmauer, mit der man sich umgibt, wie eine Art Virus: Sie hält Faktoren ab, die uns helfen können, mit Verletzungen umzugehen, und sie trägt dazu bei, dass die Einsamkeit uns krank macht.

Lucy allerdings sah das nicht. Oder sagen wir besser: Lucy wusste es, aber sie empfand es nicht so.

All diese Verletzungen, die ihr in ihrem Leben zugefügt wurden, hatten sie gelehrt, dass Vertrauen und Offenheit, Nähe und Zuneigung Ausgangsfaktoren für furchtbare Verletzungen sind. Reden und Zuhören führte zu Vertrauen und Nähe, also schwieg sie. Und sie hörte nicht zu.

Seit der Schießerei in dieser Diskothek, bei der sie eigentlich mit einem Schrecken davongekommen war, war Lucy taub. Sie sah die Menschen reden, aber sie hörte nichts. Von Zeichensprache oder Lippenlesen wollte sie nichts wissen und die meisten Notizen warf sie ungelesen weg.

Sie saß in ihrem Zimmer in dem Pflegeheim, in dem sie seither wohnte, sah auf den Fernseher und schaute Serien. Eine Serie nach der anderen. Die Untertitel reichten ja, um zu verstehen, was diese Menschen von sich gaben. Pfleger holten sie zum Essen, brachten sie zu ihrer Therapiestunde, begleiteten sie in den Park, wenn sie an die frische Luft sollte. All das ließ sie zu. Schweigsam, regungslos, unbeteiligt.

Nur nachts, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, weinte sie leise in ihre Kissen.
Der Schmerz der letzten Verletzung war zu groß um nicht zu weinen.

Niemand wusste davon, und niemand würde je erfahren, dass der Mann, der diesen Anschlag auf die Diskothek ausgeübt hatte, dort durch sie Zutritt erhalten hatte. Die einzigen Zeugen hierfür waren tot, und sie hatte nur überlebt, weil sie sich im Küchenhof des Etablissements in einem Müllcontainer versteckt hatte.
Als die Schießerei begann, war sie gerade in der Damentoilette und war von dort aus in die Küche gekrochen, auf allen Vieren.

Die Tür zum Hof stand offen. Es war dunkel dort, dunkel wie in einer Neumondnacht. Die einzigen Lichtquellen stammten aus dem Flur hinter ihr und von einem laternenartigen Außenlicht, das schon bessere Nächte gesehen hatte. Der Boden war von Nässe durchtränkt, es stank nach Müll und Urin. Der Koch und die Küchenhilfen nutzten den Hof scheinbar auch als Austritt.

„Sie waschen sich nicht die Hände“, schoss es Lucy durch den Kopf, während sie weiter in die Mitte kroch. Ekel stieg in ihr auf, sie musste würgen. “Sie pinkeln in den Hof und waschen sich danach nicht die Hände, die Schweine.”

Die Küchenmannschaft stand in einer Ecke zusammengedrängt und starrte sie an, als wäre sie einem Horrorfilm entstiegen. In gewisser Weise war sie das ja auch. Auf diese Leute musste sie so wirken, ein Alien oder ein Todesengel, der ihnen nun den Tod ankündigte. Sie überbrachte das Todesurteil jenen, die andere Menschen durch ihre Unreinheit mit Krankheiten infizierten.

„Du denkst unlogisch“, dachte sie weiter und bemühte sich darum, den Ekel und die Wut auf diese Leute zu vergessen, denn die ungewaschenen Hände des Küchenpersonals war zurzeit das geringste Problem.
„Merks dir und melde es dem Gesundheitsamt, wenn du hier heil wieder herauskommst“, befahl sie sich. „Jetzt brauchst du erst einmal ein Versteck um zu überleben.“

Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Einen Ausgang hatte dieser Hof wohl nicht; zumindest war keiner zu entdecken, und wäre dort einer, dann hätte das Personal ihn sicher schon als Fluchtweg benutzt. Es gab nur diese dunkle Ecke, in der die Küchencrew stand und die Müllcontainer, die an einer der Seitenwände aufgereiht waren. Wieder schüttelte sie der Ekel, aber sie sah keinen anderen Ausweg: Schnell stand sie auf, lief zu der Seitenwand, kletterte in den ersten Container und zog den Deckel über sich zu.
Hier roch es noch grauenvoller und sie hatte das Gefühl, dass sie nicht atmen konnte.
Sie wollte sich übergeben, aber sie hatte Angst, dass die Würgegeräusche auf sie aufmerksam machen würden.
Vielleicht würde der Mörder ja gar nicht auf den Hof gehen? Vielleicht würde er sich mit den Opfern in den Gasträumen begnügen?

Sie hörte die Sirenen. Ein Klang der Hoffnung, und vorsichtig zog sie den Deckel ihres Verstecks einen winzigen Spalt breit auf, um hindurchzuspähen.

Sie sah… nichts.

Aber sie hörte kreischende Bremsen, die darauf hinwiesen, dass etliche Autos sich dem Etablissement in hoher Geschwindigkeit genähert hatten. Eine Stimme rief etwas durch ein Megaphon, eine Nachricht für den Täter?

Da! Ein Geräusch hinter ihr ließ sie erstarren. Wer war das? Ein rauschendes Knarzen erklang, eine gedämpfte Stimme antwortete.

„Habe Stellung bezogen. Hier kann der Kerl nicht raus.“

Eine Pause, wieder dieses Knarzen. Die Antwort des Einsatzleiters? Noch einmal vernahm sie die leise Stimme: „Verstanden. Over und out.“

Dann: Stille. Wo das Küchenpersonal abgeblieben war, konnte sie nicht erkennen, nicht von diesem Standort aus.

Wie eine ungebetene Antwort auf diese Frage hörte sie leises Wimmern, darauf eine zischende Stimme: „Was machen sie da? Los, verstecken sie sich hinter den Containern! Schnell!“

Eilige Schritte trampelten über den Hof, von der Stimme begleitet: „Chef, das Küchenpersonal ist hier im Hof, keine gute Idee, die Täter hierher zu scheuchen, Aktion abbrechen, schn…“

Schüsse.

Von der Küche aus ertönten Schüsse, begleitet von Schreien, Schreien vor Entsetzen und Schmerz. Hinter ihr antworteten weitere Schüsse, unzählige, schnell hintereinander.
Lucy zog sich zurück, ganz tief in den Container, so tief, dass sie nichts mehr hören und sehen konnte.

Die Stille blieb, als man den Container öffnete und sie daraus befreite: Sie war nun ihr steter Begleiter.

Niemand wusste, dass dieser Mann, der all diese Menschen für seinen kleinen Privatkrieg geopfert hatte, mit ihr gemeinsam die Diskothek betreten hatte. Dass dieser Mann ihr Avancen gemacht, sie zu einem Date eingeladen hatte. Dass er durch sie in diese Diskothek Zutritt erhalten hatte, zu der nur Eingeweihte Zutritt bekamen. Eingeweihte wie sie, denn sie ging regelmäßig dort zum Tanzen hin.

Sie würde nie wieder tanzen.

Nein, das lag nicht daran, dass sie taub war. Sie konnte ja die Bässe noch hören und spüren, das also wäre nicht der Hinderungsgrund. Aber bei jedem Tanzschritt hörte sie die Schüsse. Die Schüsse und die Schreie, und sie wurden von einem ganz besonderen Lied begleitet: Ihr Lieblingslied, das, zu dem sie immer so gerne getanzt hatte, nur hatte dieses Lied einen anderen Text: Die Worte des Mannes, der ihr so sehr geschmeichelt hatte, dort in der Bibliothek. Der ihr so sehr geschmeichtelt hatte, dass sie Vertrauen zu ihm fasste.
Sie hatten sich ein paar Mal dort gesehen, und irgendwann standen sie beide am gleichen Regal, griffen nach dem gleichen Buch. Eine Berührung, die sie ein bisschen elektrisierte.

Sie unterhielten sich, öfter. Er sei Hobbyzauberer, auf der Suche nach neuen Inspirationen für seine Geschichten rund um die Kunststückchen. Sie erzählte ihm, dass sie einfach gerne las, weil sie viel allein lebte und nicht besonders begeistert vom Fernsehprogramm war. Warum sie allein sei, wollte er wissen, und sie erklärte es ihm zögernd. Sie war eben ein bisschen schüchtern, nicht gut darin, Bekanntschaften zu schließen.

Er verstand das nicht. Die Männer müssten sich doch um sie reißen, denn sie habe etwas Magisches an sich, hatte er gesagt. So etwas Magisches, dass er sie – entgegen seiner Gewohnheiten – sogar an einer Supermarktkasse angesprochen hätte.

Als man sie befragte, zeigte man ihr ein Foto von dem Attentäter. Er war tot, von mehreren Kugeln durchsiebt. Dieses Wissen ließ sie endgültig in der Stille verschwinden. Nun brauchte sie all diese Magie für sich selbst. Mit dieser Magie hielt sie allen Einflüsterungen stand. Sie hörte einfach nicht mehr zu. Nicht den Pflegern, nicht den Therapeuten, nicht den Arbeitskollegen. Niemandem. Seit fast einem Jahr nun lebte sie in ihrer selbstgewählten Stille, wob ihren Kokon immer dichter um sich, stieg immer tiefer hinab, auf den Grund ihres Seins.

Sie hatten lange um sie gekämpft, versucht, diesen Wall zu durchbrechen. Sie sprachen zu ihr, laut, leise. Sie sangen, spielten Musik, lasen ihr vor. Sie legten ihr Bücher auf den Tisch, die sie sorgsam vor ihrer Zimmertür ablegte, ungelesen. Nichts erreichte sie, weder Bewegungstherapie, noch Gestalttherapie, Berührungen – gar nichts. Schlimmstenfalls wehrte sie sich mit Gewalt, bestenfalls blieb sie einfach unberührt.

Irgendwann hatten sie aufgegeben. Sie schlief, wusch sich, ging essen, saß zwei Mal in der Woche die 50 Minuten ihrer Therapiestunde ab und schaute ansonsten von morgens bis abends Fernsehen.

Nachrichten sah sie nicht, Dokumentationen ebenfalls nicht; gegen Kinofilme hegte sie Aversionen. Statt dessen sah sie sich Soaps an, begleitete aufmerksam jeweils eine Serie von Anfang bis zum Ende, und fing erst dann eine neue Serie an.
Es schien, als suche sie dort etwas, etwas, was niemand ihr zeigen, niemand ihr geben konnte.
Und so verbrachte sie ein ganzes Jahr dort. Vier Jahreszeiten gingen an ihr vorbei, ohne dass sie ihnen Aufmerksamkeit schenkte, ohne dass sich etwas änderte.

Und nun war sie wieder im Park und absolvierte ihre tägliche Runde, die sie bei trockenen Wetter stoisch hinter sich brachte.

Der Frühling begann soeben, lag noch im Widerstreit mit dem Winter. An manchen Tagen war es glatt auf den Wegen, so wie auch heute, und Mark, ihr Bewegungstherapeut, nahm sie an den Arm, um sie zu stützen, damit sie nicht fiel. Heftig zog sie ihren Arm weg und sah ihn finster an.

„Lucy. Ich will nur Halt geben, denn hier ist es stellenweise sehr glatt“, tadelte er ihre Reaktion und griff erneut nach ihrem Arm. Ihre Gegenwehr fiel noch stärker aus, sie riss ihm den Arm richtiggehend aus der Hand. Mark aber verstärkte reflexartig seinen Griff, gerade zu dem Zeitpunkt, als sie über nasse, halb gefrorene Blätter liefen. Das Unvermeidliche geschah: Sie verloren beide das Gleichgewicht und fielen übereinander.

Entsetzt kroch Lucy unter Mark hervor, Panik stand in ihren Augen. Sie rappelte sich auf, verzog vor Schmerzen das Gesicht und fiel wieder hin: Irgendetwas war mit ihrem Bein. Sie konnte nicht aufstehen. Sie sah zu Mark. Er lag regungslos am Boden, aber die Kälte ließ seinen Atem wie kleine Dampfwolken in die Luft steigen.

Lucys Panik ebbte ab: Er lebte. Er lebte, und es war still. Keine Sirenen. Kein Blut. Aber es war kalt, und es war nicht seine Schuld, dass sie hier war, das wusste sie. Also kroch sie zu ihm und versuchte ihn zu wecken. Sie rüttelte an seiner Schulter. Keine Reaktion. Lucy boxte ihn in die Seite, aber auch das half nicht. Schließlich zog sie ihn zu sich, um ihn wenigstens ein wenig wärmen zu können, und wartete.

Das konnte sie gut. Seit sie stundenlang in diesem Container gesessen hatte, ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde, konnte sie verdammt gut warten und still halten.

Sie konnte sich nicht melden. Nicht melden, nicht rühren, nicht hören, nichts. Sie war stumm, taub, gelähmt vor Schreck. Sie spürte die Bewegungen um sich, um den Container herum. Schritte. Schweres Gerät, das auf dem Boden abgestellt wurde. Die Container wurden hin und hergeschoben. Aber Lucy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie auf sich aufmerksam machen konnte. Sie spürte, wie jemand gegen den Container schlug, einmal, zweimal. Sie sah, wie jemand den Decke aufriss, sah die Hand, die auf sie zeigte. Aber sie konnte sich nicht rühren, nicht reden, nicht hören.

„Zumindest bin ich nicht blind“, dachte sie und ließ zu, dass sie aus dem Container gehoben wurde. „Und riechen kann ich noch.“
Der Gestank blieb, selbst als man sie gewaschen und neu eingekleidet hatte.
Der Gestank und die Stille.

„Azarro“, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Rasierwasser, das sie schon seit gefühlten Ewigkeiten kannte. Sie hatte es irgendwann einmal ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt, und er trug seither kein anderes mehr. Ob das nun auch noch so war? Nachdem sie ihn, ihre ganze Familie verlassen hatte? Sie wusste es nicht. Wollte es nicht wissen. Ihr Vater war auch nur so ein Worthülsenmensch. Warum erinnerte sie sich jetzt an den Geruch?

Wo war der Gestank geblieben?

Lucy sog den Atem tief durch die Nase ein. Der Duft des Rasierwassers blieb, es kam von Mark. Also keine Erinnerung, ein Geruch. Ihre Nase reagierte wieder.

Wieder stieg Panik in Lucy auf. Das war nicht richtig! Es war ihre Schuld, dass diese Menschen gestorben waren! Warum sollte sie Gutes riechen dürfen, wenn der Gestank sie gerettet hatte, aber sonst niemanden? Selbst die Küchencrew hatte es letztendlich erwischt, weil sie auf dem Weg hinter den Müllcontainer vom Mörder abgeknallt worden waren, wie die Enten in einer Kirmesbude, einer nach dem anderen.
Nur sie hatte überlebt, im Müll. Im Gestank. Sie, die das Monster eingeschmuggelt hatte. Was für eine Ironie, dass sie genau dort überlebt hatte, wo sie eigentlich hingehörte. Ausschussware. Müll. Dreck. Abschaum.

Sie verbot ihrer Nase den Geruch des Rasierwassers, und die Rückkehr des Müllgestanks war beinahe tröstend für sie.

Magie. Mit dieser Magie konnte sie den Gestank bei sich behalten, und sie konnte ihre Stille erzwingen.

Aber ihr Therapeut, Mark, der musste dringend Hilfe bekommen, das wusste Lucy. Vorsichtig tastete sie in den Taschen seines Kittels und fand sein Handy. Sie wählte die Notrufnummer, die Nummer, die die Pfleger und Therapeuten wählen sollten, wenn die Irren ausrasteten, so wie Lucy das im Stillen bei sich nannte.

„Hallo, Mark? Was ist passiert?“ Die Stimme klang sachlich und auffordernd, so dass jeder, selbst in einer hektischen Situation oder in Panik wieder einen klaren Kopf bekommen konnte. „Mark, was ist los? Wo sind sie?“ Die Stimme wurde energischer, forderte eine Antwort. Aber Lucy konnte ja nicht hören und reden.

Warum hörte sie dann diese Stimme?

Nein… nein… das durfte nicht sein! Sie durfte nicht hören können! Sie war taub! Wo war die Stille?

Hektisch lauschte Lucy in sich hinein.

Schüsse! Schreie! Das Lied mit seinen Worten! Nichts davon war da! Statt dessen hörte sie diese Stimme aus der Notfallzentrale, und die eines Vogels, der auf einem Baum saß und eine muntere Melodie zwitscherte.

~

Minuten später erreichten Sanitäter die Unfallstelle im Park. Einen Moment lang standen sie wie erstarrt, kaum in der Lage das zu erfassen, was sie vor sich sahen:
Mark lag regungslos auf dem Boden. Blut sickerte aus einer Wunde an seinem Hinterkopf. Ein Stück weiter weg kroch seine Patientin auf allen Vieren von ihm fort und schrie ihre Qual hinaus in die Frühlingswelt.

Doch es war totenstill, bis auf das Lied des Vogels, hoch über ihr.

 

 

Verrat der Stille

Kate Havnevik ~ Grace

In der Dunkelheit

Im Grunde benötigte sie den prüfenden Blick nach draußen nicht, sie wusste stets, wann die Sonne wich und die Dunkelheit die Herrschaft übernahm. Dennoch sah sie aus dem Fenster. Es war Nacht, endlich.
Sie schlich durch die Wohnung, räumte ein paar Kleidungsstücke an den rechten Platz, bereitete für den Frühstückskaffee alles vor, ließ Rollläden herunter und zog die Vorhänge zu.
Als sie endlich der Ansicht war, dass sie alles für den heutigen Tag erledigt hatte, ging sie ins Bad. Nun begann der Teil, auf den sie schon seit Beginn des Morgens gewartet hatte. Frei von allen Verpflichtungen duschte sie ausgiebig den Mief des staubigen Alltags ab, föhnte ihr Haar und trocknete sich gründlich ab, bevor sie in die schon vor Tagen ausgesuchte Kleidung stieg.
Schwarz musste sie sein, so dunkel wie die Nacht, und kein glänzender Knopf durfte einen Lichtstrahl reflektieren. Das blasse Gesicht würde unter einer Skimaske verschwinden und die Augen schminkte sie komplett dunkel, so dass sie nicht im Kontrast zum Rest ihrer Gestalt standen. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte ein befriedigendes Ergebnis: Nur noch die Augen hätten sie verraten können, aber sie war gewohnt, den Blick zu senken.
Und so stand ein einziger schwarzer Fleck dort im Flur vor der Ankleide, wie ein Schatten, der von einer Gestalt, die eine kurze Entfernung weiter stand, geworfen wurde.
Lange betrachtete sie sich dort. Schweigend, nachdenklich. Wie schnell man doch sich selbst unsichtbar machen konnte…
Ihr fiel eine Szene aus der Verfilmung von Asterix und Cleopatra ein, in der die Geheimagentin sich nur durch Augen öffnen und schließen sicht- bzw. unsichtbar machen wollte. Das Kino stand damals Kopf vor Lachen, und sie selbst war eine von denen gewesen, die am Ende auf dem Heimweg sich immer wieder weg- und wieder zurückblinzelte.
In der darauffolgenden Nacht hatte sie dann Albträume, die vom absoluten Verschwinden handelten. Niemand nahm sie mehr war, und das nur, weil sie um Punkt 12 Uhr geblinzelt hatte.
Seither blinzelte sie selten.
Aber das Unsichtbarwerden hatte sie nicht losgelassen. Wie musste es sein, eins sein mit der Umwelt, verschmolzen zu einem Nichts, einem kaum erkennbaren Schemen, der höchstens das Auge irritierte, aber nicht an das Gehirn als Wahrnehmung weitergab…
Sie kannte solche Menschen. Graue Mäuse wurden sie gerne genannt, weil sie so in sich selbst zurückgezogen durch die Räume huschten, unauffällig ihre Arbeit erledigten und nie auffielen, weder positiv noch negativ. Ihr waren solche Menschen unheimlich. Nie konnte man sagen, worüber sie nachdachten, was sie fühlten; nie begannen sie von sich aus in einem Gespräch ein Thema. Es schien ihnen nichts einzufallen oder ihnen fehlte der Mut dazu. So zumindest stellte sie es sich vor, wenn ihr solche Menschen auffielen, die so dermaßen still und passiv waren, dass man sie erst auf den dritten oder vierten Blick wahrnahm.
Ihr schwebte eine andere Art Unsichtbarkeit vor, nicht so klein und abhängig vom Wohlwollen Anderer. Sie wollte sich in der Masse bewegen, am Leben teilnehmen und dennoch nicht gesehen werden, und so entwickelte sie Übungen, um sich mit der Umwelt zu verschmelzen.
Heute Abend stand die Idee hinter dieser Übung, sich schon von vorneherein als nicht sichtbar zu fühlen.
Versuchsweise schaltete sie das Flurlicht aus und ließ nur eine kleine Lampe im Bad brennen, das dafür sorgen würde, dass mögliche Lichtreflexionen sichtbar würden. Sie schlug die Augen nieder, blinzelte durch die Wimpern zum Spiegel und sah….
Nichts. Das absolute Nichtvorhandensein, die Unsichtbarkeit ergriff von ihr Besitz.
Leere.
Selbst großartige Bewegungen hinterließen gerade mal Schatten, und das Weiße in ihren Augen fiel kaum auf.
Sie war einfach nicht mehr da.
So, wie sie es sich gewünscht hatte. Es war wirklich kurios: Sie wusste ja, dass sie da stand, und dennoch sah sie… nichts.
Noch nicht einmal einen Schatten ihrer selbst, es war, als sei sie plötzlich verschwunden.
Gut.
Sie löschte das Licht im Bad, wartete, bis sich ihre Augen an die völlige Dunkelheit gewöhnt hatten und verließ dann leise die Wohnung in Richtung Treppe. Den Aufzug wollte sie nicht nehmen. Wäre ihr jemand begegnet, wäre sie im fahlen Licht des Lifts wieder sichtbar geworden. Vor allem sich selbst, und das galt es unter allen Umständen zu vermeiden.
Ohne einen Laut zu verursachen schaffte sie es bis in den Keller. Hier wurde es nun schwierig, denn die Stahltüre leise zu schließen, war eine Herausforderung. Sie fiel so schwer ins Schloss, dass es nur unter größerem Kraftaufwand gelingen würde, den dumpfen Rumpler zu vermeiden, den sie sonst immer von sich gab.
Isabelle wusste genau, was zu tun war. Den Weg war sie schon oft bei Tag gegangen, manchmal zum Training mit geschlossenen Augen. Sie kannte jede Unebenheit im Boden, wusste, nach wie vielen Schritten sie nach links umbiegen musste, um dann geradeaus weiter zu der Sicherheitstür zu gelangen, die sie nach draußen führen würde.
Wie eine Katze in der Nacht suchte sie sich ihre Pfade, horchte in sich hinein, bis sie die Wände und eventuelle Hindernisse in den Gängen spüren konnte. Zu guter Letzt war sie dann an der Tür angelangt, konzentrierte sich und sammelte ihre Kräfte.
Sie legte beide Hände auf die Klinke, drückte ihre rechte Schulter gegen das Türblatt und senkte dann erst ganz sacht und mit unendlichgeduldiger Langsamkeit den Griff. Wie erwartet erfühlte sie schnell den Zeitpunkt, an dem sie die Schulter vorsichtig zurücknehmen konnte und die Tür öffnete sich gemächlich nach innen. Sobald der Spalt breit genug war, schlüpfte Isabelle durch die Lücke und schloss sie vorsichtig, die Tür ein bisschen anhebend, wieder.
Auch diese Hürde war also geschafft, und so stand sie draußen still, ließ die Wärme der Sommernacht einen Moment lang auf sich wirken.
Wie viele Geräusche die Nacht von sich gab… Zikaden zirpten, Mücken summten, ab und an der Motor eines Autos oder eines Motorrades, leises Lachen aus den Nachbargärten, ein weinendes Kind, das Bellen eines Hundes…. Sie nahm die Klänge in sich auf, wartete, bis sie zu einer Melodie verschmolzen, deren Rhythmus erkennbar wurde: Der Puls des Lebens.
Als ihr Pulsschlag diesen Rhythmus in sich aufgenommen und sich ihm angeglichen hatte, tappte sie leise die Kellertreppe hoch, hielt immer wieder inne um zu überprüfen, ob sie allein war. Niemand sollte mitbekommen, welchen Weg sie ging, es kam nun einfach darauf an nicht gestört zu werden.
Am Fuß des Aufstiegs wartete sie einen Moment ab, ans Geländer gelehnt schaute sie sich um, überprüfte noch einmal alle Wege und Fenster, bevor sie sich aufmachte, über den großen Platz schlich, auf dem ein Schild mit großen Lettern verbot, den Rasen zu betreten. Am Ende des Gartens stieg sie still über den Zaun und befand sich nun auf einem der Felder, die hier bis an den Stadtrand reichten.
Getreide war aufgrund einer Bevölkerungsexplosion ein knappes Gut, und so bebauten die Agrarökonomen jede freie Fläche, die nicht als Bauland ausgewiesen war, mit Weizen, Roggen, Hafer – sprich, mit allem, aus dem man noch etwas zu Essen zusammenbasteln konnte.
Lebensmittelknappheit… Wer hätte das schon gedacht, wo vor rund 50 Jahren noch Butterberge abgebaut werden mussten und die Regierungen nicht wussten, wer die Zeche für die Rentenversicherungen zahlen sollte?
Alles hatte sich geändert seither, hatte Ulla ihr erzählt. Ulla war 83 Jahre alt und hatte schwere Zeiten hinter sich gebracht, in denen sie an einer sogenannten „grünen Tafel“ für ein Minimum an Kostenbeitrag ganze Berge von Lebensmitteln einkaufen konnte, die die gutsituierten Bürger nicht kaufen wollten. Oft war das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen, das Brot älter als zwei Tage, das Obst schon leicht angedrückt und der Salat wies braune Flecken auf. Aber was machte das schon in den damaligen Zeiten? Heute gab es nichts Schlechtgewordenes mehr, allein aus dem Grund, weil alles sofort leer gekauft wurde, wenn es wieder etwas Neues gab. Dafür aber gab es auch keine „grüne Tafel“ mehr.
„Gemessen am heute lebten wir alle im Überfluss, Bella.“ pflegte die kleine, grauhaarige Nachbarin von Isabelle zu erzählen. Sie sagte nie Isabelle, immer nur Bella, weil sie den Anblick der langbeinigen herben Schönheit Isabelles genoss. Die um achtundfünfzig Jahre Jüngere hatte damals, als sie die alte Frau abholen und in ein Sterbeheim bringen wollten, beschlossen sich um die zarte kleine Person in der Wohnung nebenan zu kümmern.
Sterbeheime waren eine Sache für sich. Ursprünglich dafür gedacht, Menschen aufzunehmen, die tatsächlich in naher Zukunft den Gang allem Irdischen nehmen mussten, waren sie eine gute Einrichtung gewesen. Dem Tode Geweihte konnten dort in Würde Abschied von ihren Lieben und vom Leben nehmen, gleich ob jung oder alt, allen wurde das höchstmögliche Maß an Aufmerksamkeit zugedacht. Inzwischen wurden dort nur noch Menschen hingekarrt und abgeladen, die nicht mehr zur Produktivität des Landes beitrugen. Dann wurden sie sich selbst überlassen, es gab eine Mahlzeit am Tag und der Rest strafte das Wort Versorgung mit blankem Hohn.
Ulla war dem Sterbeheim nur entgangen, weil Isabelle sie anstellte als ihre „Teilzeitoma“, ein Arbeitsverhältnis, das sie Unmengen an Geld kostete, aber sicherstellte, dass „Oma Ulla“ als produktiv galt, da sie eigenes Geld verdiente. Sie aßen nun immer gemeinsam und teilten sich alles, was mit dem Haushalt zu tun hatte, und so kamen beide über die Runden – mehr schlecht als recht, aber es ging.
Aber die alte Frau musste nicht ins Hospiz und sie… na ja, sie mochte Ulla nun mal.
Während sie über „ihre Angestellte“ nachdachte, suchte Isabelle sich einen Weg am Rande des Weizenfeldes und schaute sich immer wieder um, aber es war niemand in der Nähe, dem sie hätte auffallen können, bis sie an dem kleinen Trampelpfad angelangt war, der zu dem Waldgürtel führte.
Es war keine leichte Übung, die sie sich vorgenommen hatte. Unbemerkt durch die engstehenden Bäume huschen, darauf achtend, dass selbst die Tiere ihren gewohnten Geschäften nachgingen… das war fast unmöglich, das wusste sie, und sie stellte sich darauf ein, dass ihr das nicht auf Anhieb gelingen würde. Allein schon wegen ihres menschlichen Geruchs würde das nicht machbar sein, dafür hatte sie noch keine Lösung gefunden.
Aber letztendlich ging es nur darum, dass sie dazulernte, bevor sie ihre Unscheinbarkeit an Menschen ausprobierte.
Der Pfad verlief seitlich vom Wäldchen, und sie blieb dort stehen, wo ein Zugang zwischen den Bäumen vielversprechend aussah.
Dunkel war es und nur schemenhaft zeichneten sich die Bäume und Sträucher in den nächtlichen Schatten ab. Leise betrat sie den kleinen, mit Moos bewachsenen Boden zwischen zwei Bäumen und einer Ansammlung von Sträuchern.
Die plötzliche Stille am Waldesrand schien sich wie ein Echo nach hinten fortzusetzen und hieß sie unwillkürlich inne halten. Sie verharrte reglos, stumm an ihrem Standort und wagte kaum zu atmen. Als ein Waldkäuzchen zwischen den Bäumen einen Ruf in die Dunkelheit los sandte, rührte sie sich immer noch nicht, verharrte dort an ihrem Platz und verschmolz mit ihrer Umgebung.
Langsam, misstrauisch und vorsichtig begann sich die Stille wieder mit Leben zu füllen, und Isabelle atmete leise und behutsam auf. Sie gönnte den Tieren noch ein paar Minuten Ruhe, bevor sie begann, sich ganz sacht einen Weg in den Wald zu suchen.
Wie ein Phantom bewegte sie sich in dem Gehölz, tastete sich langsam von Moosballen zu Moosballen, bemüht, die kleinen Zweige auf dem Waldboden nicht zu zerbrechen. Hast musste hier ein Fremdwort sein, und tatsächlich gelang es ihr immer besser, in ruhiger Gelassenheit von einer Lichtung zur nächsten zu gelangen. Sie betrat diese Lichtungen nie, sah nur vom Rande aus darauf um sich zu orientieren.
Endlich bemerkte sie anhand einiger markanten Zeichen, dass sie die Mitte des Waldes erreicht hatte und ließ sich still auf einem weichen bemoosten Stein nieder. Während sie zur Ruhe kam, richtete sie ihre Sinne zuerst nach außen.
Ihre Augen waren schon an die Dunkelheit gewohnt, nichts in ihrem Blickfeld schien fremd oder beängstigend. Sie konnte Sträucher, Steine, Felsen ausmachen, konnte den Waldboden von Gras und Moos unterscheiden. Sie sah kleine Tiere umherhuschen – sie selbst aber wurde nicht wahrgenommen, nicht bewusst. Eine Feldmaus lief fast über ihre Füße, Isabelle bekam einen solchen Schrecken, dass sie fast alles zerstört hätte. Aber sie konnte den Aufschrei gerade noch unterdrücken, die Füße still halten, und so blieb der Frieden auf dieser Lichtung gewahrt.
Die Geräusche um sich herum nahm sie mit geschärften Sinnen auf, ihr Gehör war wesentlich besser als in einem hellen Raum. Das Knacken von Zweigen, das Zirpen der Zikaden – die summenden Mücken und das leise Schnüffeln von kleineren Tieren, all das nahm sie wahr und merkte, wie sich ihr eigener ruhiger Atem darin verlor.
Ihr Geruch wurde überlagert vom Duft der blühenden Sträucher, vom Moos, den Efeuranken, von dem satten Aroma der feuchten Erde und dem nassen Gras.
Eins sein mit der Dunkelheit, verschwinden und nicht mehr sein – nach außen hin hatte sie es geschafft.
Sie rutschte langsam von dem Felsen in eine kniende Position auf dem Mooskissen davor, setzte ihre Reise fort, schickte einen fragenden Ruf der Stille über die Lichtung hinaus, aber er verlor sich in ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit und kehrte nicht zurück.
Es war also an der Zeit, in sich zu horchen, die eigenen Gefühle zu überprüfen.
Hinter der Befriedigung, ihre Aufgabe so gut es ging erledigt zu haben, verbarg sich noch mehr, und daran galt es zu gelangen.
Als erstes fühlte sie Verunsicherung. Es schien ihr, als würde sich ihr Ich in der Luft auflösen, in den Waldboden sickern, mit der Dunkelheit vereinen – sie wurde absorbiert, war keine eigenständige Person mehr sondern nur noch ein Anteil ihrer Umgebung. Keine Isabelle mehr, selbst der Name erschien ihr fremd, hatte nichts mehr mit ihr zu tun.
Einen Moment lang war sie versucht, die Maske vom Gesicht zu reißen, laut ein Kinderlied zu singen, selbst ein unguter Geruch aus ihren Darmwindungen wäre ihr willkommen gewesen um diese Spannung zu zerreißen, die sie fühlte, die sie aber immer noch als eigenständige Person greifbar machte. Aber das hätte alles zerstört, also schloss sie die Augen, atmete tief ein und hielt so lange den Atem in sich, bis sich die Panik gelegt hatte.
Dann ließ sie langsam die Luft wieder weichen, atmete noch ein, zwei Mal langsam und intensiv, atmete die Angst aus sich heraus, um sich wieder in Ruhe ihren anderen Gefühlen widmen zu können.
Mit jedem Atemzug mehr nahm sie weniger von ihrer Umgebung auf, sank in die tiefe Schwärze in sich, es wurde still in ihr. Das Nichts zeigte sich ihr, ließ sie auf sich blicken und zeigte ihr, dass sie alleine ein Niemand war. Kurz wollte die Panik wieder aufwallen, aber das war so weit entfernt, ganz oben, kurz unter der Oberfläche, und diesmal reichte ein ruhiger Atemzug, um sie fortzuwehen.
Was nun geschah, erstaunte und faszinierte sie: Sie begann das Nichtsein zu genießen. Ihre Atmung verlangsamte sich wie von selbst nochmals drastisch bis ihr Herzschlag kaum noch zu spüren war, ihre Gliedmaßen schienen sich aufzulösen und zurück blieb nur noch diese grenzenlose Leere, die sie sorgsam umhüllte, mit ihr war und sich nicht löste.
Lange verharrte sie so, sah zu, wie sie von dieser Negation des Daseins absorbiert wurde, fühlte als einzige menschliche Regung das Glück, sich fallen lassen zu können, nichts mehr sein zu wollen, zu müssen, als der untrennbare Teil eines kollektiven Nichts.
Als die Stimme sie rief, war sie bereit. Beine, die ihr nicht mehr gehörten, standen auf und trugen sie weiter, lautlos, unbeachtet vom Rest des Waldes, trugen sie durch dunkelschwarze Pfade, die sie noch nie betreten hatte. Sie wehte mit dem sanften Wind, flog mit den Nachtfaltern, raschelte mit den Mäusen durch das Unterholz, breitete die Flügel des Waldkäuzchens aus und segelte mit ihm hinunter zu der Höhle am Fuß der Anhöhe, dort wo die Stimme immer fordernder nach ihr verlangte. Kein Zögern, kein Zaudern hielt sie am Eingang, zielstrebig ging sie dorthin, wo ihre Anwesenheit verlangt wurde. Sie lief durch enge Gänge, hielt an keiner Kreuzung inne, der Ruf zeigte ihr den Weg. Sie kletterte über Felsen, hangelte sich über einen tiefen Abgrund zur anderen Seite, nahm nichts davon wahr. Und ständig ging es tiefer, immer weiter in die Gesteinsformation, die von außen gar nicht sichtbar war. Sie ging durch knietiefe Priele, schwamm durch einen eiskalten See, tauchte unter, wo Steine ihr das Fortkommen verwehrten, ließ ihre Kleidung und immer mehr von sich selbst zurück.
Nackt und bloß erreichte sie endlich das warme Glühen, das sie angezogen hatte. Nackt und bloß, nicht nur am Körper sondern auch im Geist und im Herzen.
Schweigend stand sie vor diesem Glühen, und in dieses Schweigen flossen Gedankenströme, nebelhaft und ohne Laut, in sie hinein. ‚Du bist gekommen’ schienen sie zu sagen. ‚Du bist endlich angekommen. Ich rief dich schon so lange, und nie hast du mich gehört.’ Obwohl kein einziges Wort gesprochen wurde, verstand Isabelle die Botschaft, und ehe sie es sich versah, hatte sie auf die gleiche Art und Weise geantwortet.
’Ich kenne dich nicht, ich hörte dich nicht. Wie sollte ich auch nur ahnen können, dass du mich brauchst?’
Als hätte diese Antwort ein Schleusentor geöffnet, wurde ihr Geist mit Bildern und Gedanken überflutet. Szenen aus ihrem Alltag, aus ihrem täglichen Leben wurden zurückgeholt und offenbart, Momente, in denen sie verwirrt war, das Gefühl hatte, dass ihre innere Stimme lauter und klangvoller als die Stimmen der anderen war. Augenblicke der inneren Kälte, ahnungsvolle Tage – und sie hatte das alles weggewischt, als Einbildung abgetan. Bei jedem dieser Protokolle fühlte Isabelle ihr eigenes Versagen stärker als je zuvor, und noch immer riss die Flut der Bilder nicht ab. Die Erleichterung, dass sie doch normal war, dass sie sich doch nichts eingebildet hatte, überwog einen kurzen Moment und sorgte dann dafür, dass die Last des Versagens, die sich einstellte, doppelt so schwer war und sie hinunterzog, hinein in sich selbst.
Tiefer, immer tiefer sank sie, niedergedrückt von dem Gedankenfall, der auf sie einprasselte. Sie tauchte ein in das, was bislang vor ihr verborgen war: In eine sie wie das Wasser einer warmen Quelle umhüllende Masse, die den Sturz bremste und ihr eine sanfte Landung auf dem weichen Grund ermöglichte.
Atemlos, sprachlos, völlig bewegungsunfähig lag sie dort auf der Seite, in sich gekauert wie ein Embryo im schützenden Bauch der Mutter, die wärmende Masse noch um sich herum. Dass ihr das Atmen hier nicht schwerfiel, wunderte sie seltsamerweise nicht, sie fühlte sich sicher und geborgen.
Nach einem kurzen Innehalten öffnete sie langsam die Augen.
Wieder sah sie nur Dunkelheit um sich herum, kein Lichtstrahl, kein Sternenblinken war erkennbar, und wieder saß sie diesem Glühen gegenüber, diesmal kleiner, schwächer, pulsierend, aber definitiv dasselbe Glühen. Als Isabelle es ansah und in sich aufnahm, versuchte herauszubekommen wer und was es ist, verstärkte sich die Wärme, als würde eine Art…. stille Freude es durchziehen, und gleichzeitig formte sich das Bild von einem Rahmen in seinem Zentrum.
Neugierig sah sie in die dort gezeichnete Abbildung und fuhr erschrocken zurück. Das Bild im Rahmen tat ihr gleich: Es war ein Spiegel! Sie konnte es nicht fassen, sah wieder und wieder in das Zentrum des Glühens, und bei jedem Blick wurde ihr Konterfei jünger, das Pulsieren heftiger, das Glühen heller und wärmer, bis sie an einem Punkt angelangt waren, an dem Isabelle den Spiegel nicht mehr aus den Augen lassen konnte.
Genau in diesem Moment nämlich änderten sich die Bewegungen der jugendlichen Isabelle, wichen von den ihren ab und verselbstständigten sich scheinbar. Fahrig strich sich ihr Gegenüber die Haare aus dem Gesicht, es trat einen Schritt zurück um mehr von sich zu betrachten. Die Ältere erinnerte sich an diese Begebenheit und wusste, dass das junge Mädchen nun ihre seinerzeit kleineren, bloßen Brüste mit den Händen anheben würde, sie streicheln, das versuchen würde, was sie beim Blick aus dem Fenster zur Wohnung gegenüber in der Nacht heimlich beobachtet hatte.
Wie gebannt starrte die Ältere die Jüngere an, sah Daumen und Zeigefinger an einer Knospe zwirbeln und konnte noch gut das Gefühl nachempfinden, was sie damals urplötzlich ausgefüllt hatte: Ein leiser Schmerz, diese Woge der Erregung – und das Schamgefühl, das die Stimme in ihr auslöste, die sie mit dem kalten Klang ihrer Mutter als verdorben bezeichnete und ihr befahl, so etwas nie wieder zu tun. Sie empfand das Erschrecken nach, das sich Alleingelassenfühlen, die Unsicherheit, dass etwas so Schönes so schlecht sein sollte. Und heute, gefühlte Jahrhunderte weiter, trug sie ein Bedauern darüber mit sich, dass sie so schnell nachgab, aus Furcht, tatsächlich von ihrer Mutter erwischt und abgekanzelt zu werden.
Das Glühen erhellte sich für einen kurzen Moment und zog diese Episode zurück. Wieder erschien nur das blasse Gesicht der mittlerweile kleinen Isabelle, und wieder stoppte die Bilderflut und zeigte neue Szenen, in denen sie anders gehandelt als gefühlt hatte. Diese Fülle an Momentaufnahmen erschöpften sie mit der Zeit so sehr, dass sie sich noch mehr zusammenkauerte, so weit, dass ihr der Blick von den eigenen Knien verdeckt wurde.
Lange noch lag sie so da, immer noch wie gefesselt, immer noch ohne Worte, bis sie verstand, und das Glühen schwebte auf sie zu und umhüllte sie ganz mit seinem matten Schimmer. Sie setzte sich langsam und sachte wieder auf, wollte ihre Ummantelung nicht verscheuchen.
Sie war voreilig vorsichtig gewesen. weil sie nicht daran glaubte, dass es bei ihr bleiben würde, so oder so. Sie fühlte die Wärme bis in ihren Bauch, ein sanftes, wohliges Brennen, sah eine schimmernde Hülle um sich herum und lächelte.
Die Stimmung, in der sie sich nun befand, war erhebend, und so schwebte sie tatsächlich. Aufwärts, hoch bis zur Oberfläche, tauchte auf aus sich selbst und kniete vor der wesentlich größeren und wärmeren Quelle vor sich.
Noch einmal glühte sie auf, so als wolle sie ihr zunicken, und mit einem Ruck wurde Isabelle nach hinten gezogen, in das Wasser des Sees geworfen, durch die Höhlen und Gänge geschleift, bis sie wieder am Eingang der Höhle stand, immer noch nackt, immer noch schimmernd, aber ihre Kleidung lag auffordernd vor ihr auf dem Felsgestein.
Sie gehorchte und kleidete sich an, verbarg Stück für Stück ihre schimmernde Aura, bis sie wieder völlig eins mit ihrer Umgebung war.
Und dennoch…. etwas war anders. Benennen konnte, wollte sie es nicht, aber es bewirkte, dass sie mehr mit zurücknahm als nur ein warmes Gefühl und ein stilles Leuchten, als sie nun den Rückweg zur Lichtung antrat.
Immer noch in Trance, lief sie die verschlungenen Pfade zurück, und immer noch in Trance flog sie mit einem Bussard weite Strecken, als sie nicht mehr laufen konnte. Immer noch in Trance fiel sie, als er sie über ihrem Ausgangspunkt losließ, zurück auf den weichen Boden und blieb einen kurzen Moment länger neben sich stehen, bis sie aus ihrer knienden Haltung heraus einfach umfiel.
Ob es der Ruf des Bussards, das leise Schreien des Waldkäuzchens oder schlicht und einfach die Tatsache, dass sie in sich zusammensackend den Waldboden an ihrer Wange spürte.. Wer konnte das schon wissen?
Sie setzte sich wieder auf, reckte sich wie nach einem langen Schlaf und bewegte vorsichtig ihre Beine. Sie müssten endlos müde sein nach dieser anstrengenden Nacht, aber am heutigen Tage würde sie nicht mehr darüber nachdenken, warum sie nur taub waren, eingeschlafen wie nach einer längeren Zeit in bewegungsloser Haltung.
Als das Blut durch eine schnelle Massage wieder dort floss, wo es sein sollte, stand Isabelle leise, leicht schwankend auf und bemühte sich, sich noch ihrer Aufgabe bis zum Schluss widmen zu können.
Letztendlich konnte sie es noch nicht einmal sich selbst bestätigen, ob sie es geschafft hatte, denn sie war noch immer leicht abwesend, während sie zum Waldrand schlich, dachte über die Geschehnisse der Nacht nach. War sie gelaufen? War sie geschwommen? War sie in eine glühende Quelle getaucht, oder hatte sie die ganze Zeit auf dem Mooskissen gekniet? Dieses Schimmern… sie meinte, an den Händen davon etwas erhaschen zu können, aber der Mond schien hell durch das durchlässige Blätterdach, und so war sie sich nicht sicher.
Endlich erreichte sie die Stelle, an der sie den Feldweg verlassen hatte und trat still den Heimweg an.
Unwillkürlich blieb sie stehen, verharrte einen Moment des Abschiedes und drehte sich dann um. Der Kontrast zwischen dem in Schatten verborgenen Wald- zu dem in Licht getauchten Stadtleben war krass, und gierig saugten die Augen die hellen Punkte dort unten auf.
Als sie sich satt gesehen hatte, fühlte sie eine leise Ambivalenz in sich aufsteigen. Der Wald, das Glühen, die Wärme und Geborgenheit: Das alles sollte sie nun verlassen? Dort unten wartete doch nichts auf sie…. außer Ulla.
Ulla, die ihrer Hilfe dringend bedurfte. Die ihr eine gute Freundin geworden war. Die ihr von alten Zeiten erzählte und ihre Wäsche mit dem schon lang verbotenen Weichspüler wusch, immer nur ein paar Tropfen einer Essenz, die sie selbst herstellte. Ulla, die ihr für morgen – nein, heute – Apfelstrudel zum Nachtisch versprochen hatte. Selbstgebacken.
Ulla, die als Einzige von ihrem nächtlichen Ausflug gewusst hatte und eine Kerze in ihr Fenster gestellt hatte.
Damit ihre Bella den Weg zurück auch finden konnte.
Sich ihres Lächelns nicht bewusst, setzte Isabelle den Weg nach Hause fort.
Fort von dem Wald, hin zur Zivilisation.
Fort von der vielsagenden, Geborgenheit gebenden Dunkelheit, hin in die hektische, alles reglementierende, selbst in der Nacht taghelle Stadt mit der sie umsorgenden Ulla.
Ihr Heim, ihr Ankerpunkt.
Zumindest fürs Erste.

Grenzwerte

Allein mit Dir, im Zweifel am Leben
im Kopfkino scheint es nur Horror zu geben.
Und hin und her schiebst Du Deine Angst,
warum aber nie von Dir selber fort?
Das fällt zu Dir schwer und Du wünscht Dich dann
an einen nur Dir bekannten Ort

Dämonen vertreiben, die Dich aufreiben:
Das fordert Mut (den Du grad nicht hast),
nicht diese Wut, die Dich erfasst
und Dir verweigert im Hier zu bleiben.

Nimm Deine Selbstliebe fest an die Hand.
Lass sie mal machen, sie kann das gut!
Steck Deinen Kopf nicht in den Sand,
tipp leise lächelnd an Deinen Hut

und lass sie gehen,
schick sie weit weg:
Deine dunkelen Zukunftsgedanken.
All dieser Dreck,
lass ihn nicht stehen,
weise ihn in seine mickrigen Schranken.

Morgen schon wehen
Chancen Dich weiter,
weit über Deine eigenen Grenzen.
Du wirst schon sehen,
selbst wenn Du mal scheiterst:
Bald mehren sich die guten Sequenzen.