Leben zu Zeiten von Corona

„Seit sechs Tagen habe ich die Wohnung nicht mehr verlassen…“ Diesen Satz habe ich so oder in ähnlichen Varianten immer wieder gehört oder gelesen.

Ich wünschte, ich könnte diesen Satz schreiben. Ich wünschte, ich könnte davon berichten, wie das ist: Abgekapselt zu sein, mit dem auskommen zu müssen, was in der eigenen Wohnung zur Verfügung steht. Wenn die zwei Quadratmeter Balkon zum einzigen Bereich werden, an dem man keine vier Wände um sich herumhat. Wände, die nicht mehr nur schützen, sondern begrenzen, einengen. Dann könnte ich erzählen, wann der Moment begann, an dem ich anfing, die Decke meines Bettes der Decke meines Zimmers vorzuziehen; ab wann ich anfing, lieber lustlos im Bett zu liegen als mich um mich, meine Pflege, um Kommunikation welcher Art auch immer zu kümmern.

Das alles wären sicherlich bewegende Momente, die zu Tränen rühren könnten oder bei Dir Unverständnis oder gar Abscheu entstehen lassen. Und ich würde es verstehen: Das Mitgefühl genauso wie die Abscheu. Wer steckt schon in der Haut des anderen?  

Doch es gibt keine Zeit, in der ich sechs Tage lang die Wohnung nicht verließ.

Nein, auch wenn ich nun gerne behaupten würde, dass ich zu den Helden gehöre, die den Betrieb in den Städten aufrechterhalten: Auch zu dieser Gruppe gehöre ich nicht. Ich kann also auch nicht davon berichten, wie es ist, wenn man an der Kasse sitzt und sich die unzähligen Klagen über mangelndes Klopapier oder die Regeln für den Einkauf im Geschäft anzuhören, die für etliche tatsächlich unverständlich sind. Ich gehöre auch nicht zu denen, die Regale auffüllen und aufgrund der Uneinsicht vieler Kunden mit etlichen in zu nahen Kontakt kommen. Die dann abends vielleicht daheimsitzen und sich sorgen, ob sie sich gerade heute angesteckt haben, als eine Frau sich an ihnen vorbeidrängte, um an das letzte Suppengrün zu kommen. Oder in dem Moment, als der Mann mit den zwei Kindern im Einkaufswagen genießt hat. Nicht in die Armbeuge, nein! In die Hand, mit der er dann Konserven anfasste, die er dann doch nicht kaufte.

Auch gehöre ich nicht zu der Gruppe der Pflegenden und Behandelnden, die sich tagtäglich dem extrem hohen Ansteckungsrisiko aussetzen, allein durch ihre Tätigkeit, aber auch dadurch, dass die Arbeit, die sie erledigen, eine wahre Knochenarbeit ist, körperlich und seelisch. Die mitbekommen, wenn Menschen der Atem weg bleibt, die all das Leiden, die Ängste mitbekommen, das sich gerade in den Krankenhäusern und Pflegeheimen verdoppelt und verdreifacht. Die vielleicht einer alten, demenzerkrankten Frau erklären müssen, warum ihr Sohn heute wieder nicht kommen kann. Die dabei steht, wenn sich Angehörige in der Intensivstation von ihrer sterbenden Mutter durch eine Glasscheibe getrennt verabschieden. Kein letztes Wort, keine letzte Umarmung mehr. Und man selbst steht dabei und ist machtlos, hilflos, weil man auch selbst Abstand wahren muss, keinen Trost spenden kann. Wenn man dann dasteht, wie ein Wachmann, der Hungernde von dem Paket altbackenen Brotes fernhalten muss.

Ich gehöre auch nicht zu den Politikern, den Entscheidungsträgern, die heutzutage gefragt und gleichermaßen überfordert sind. Die nicht mehr wissen, wann Transparenz mehr beunruhigt als Klarheit und Ruhe verschafft. Die auf dem Grat wandern müssen, der zwischen Hoffnung schüren und überhöhte Erwartungen schüren sein schmales, sehr dünnes Band spannt.

Eigentlich bin ich nur eine einfache Frau, die ab und zu vor die Tür geht. Zum Einkaufen, zum Beispiel. Oder, wenn ich an ehrenamtlichen Aktionen teilnehme, Arzttermine wahrnehme.

Aber ich sehe, nehme wahr.

Den Busfahrer, der zusammenzuckt, wenn jemand sich über den Sicherheitsbereich beugt, um ihm eine Frage zu stellen.

Die Blicke, die immer noch den Leuten zugeworfen werden, die sich zum Tragen einer Mund- und Nasenmaske entschieden haben.

Die freudigen Rufe derjenigen, die endlich mal auf ein bekanntes Gesicht treffen und die Bereitschaft, hier auf die Distanzregeln zu pfeifen.

„Sieht ja schon keiner.“

„Wo kein Kläger, da kein Richter.“

„Muss ja mal langsam gut sein mit den Einschränkungen.“

„Wir haben uns schon so lange nicht gesehen, da kann man doch mal eine Ausnahme machen.“

„Ich bin nicht krank, du etwa? Na also!“

Verständlich ist das, ja. Wir alle sehnen uns danach, wieder andere Menschen zu sehen, von Angesicht zu Angesicht mit ihnen zu reden.

Eine Frau, die sich trotz ihres hohen Alters in den Bus setzt und in die Stadt fährt, um Lebensmittel einzukaufen, weil der Dorfladen bei ihnen wegen Krankheit geschlossen hat. Die sagt dann: „Ich könnte mir die Lebensmittel liefern lassen, ja. Aber warum? Ich habe Zeit meines Lebens alles selbst gemacht, und das werde ich auch noch so lange tun, wie es eben geht!“

Einen Mann, der sagt, dass er wegen Lebensmitteln in die Stadt kam. Aber in seinem Trolley klirrt es verdächtig und man kann trotz seiner Schutzmaske den Alkoholdunst wahrnehmen, der ihn umgibt.

Ein Pärchen, das Hand in Hand durch die Straßen schlendert; beide nicht in einem Alter, in dem man bereits eine Wohnung teilt.

Die Frau mit den vier Kindern, zwei davon noch nicht in der Lage zu laufen, die wegen des eingeschränkten Busverkehrs mehrere Kilometer nach Hause laufen muss.

Den Jungen, der mit der Ticket-App nicht zurechtkommt, die nun den Kauf von einzelnen Fahrtickets ersetzen soll und seine Angst vor der Nähe, wenn man ihm helfen will. Wie erklärt man eine App, die man selbst nicht gut genug kennt um sie ohne es vorzuführen zu erklären?

Die alleinerziehende Mutter, die ihre Tochter einfach nicht dazu bringen kann, ihre Aufgaben für die Schule zu erledigen. Keine Sanktion, kein Unterstützungsangebot greift.

All das erfahre ich, nehme ich wahr.

Aber ich höre auch die Vögel, die sich, durch den Frühling gelockt, zurück in unserer Natur melden. Ich sehe die Blumen auf Balkonen, in Beeten, am Wegesrand. Sie wachsen, knospen, blühen.

Ich sehe, wie auf meinem Balkon zwischen den Waschbetonsteinen Baumsetzlinge mal wieder Wurzeln schlagen und aufschießen.

Ich höre das Klingeln an den Haustüren, wenn jemand vom Nachbarschaftsdienst Einkäufe vorbeibringt, blicke auf den Hinterhof der Grüntalstraße 5, wo im Moment ein gut bestückter Gabenzaun Bedürftigen weiterhelfen kann.

Ich höre Hämmern und Sägen, rieche frische Wandfarbe, höre Gartenwerkzeuge, die dabei helfen, die gezähmte Natur auf den Frühling vorzubereiten.

Ich spüre die Sonne auf meiner Haut und ein Lächeln, das sich in meinen Mundwinkeln ausbreitet.

Und ich denke an einen Spruch, den ich vor langer Zeit gelesen habe, und der sich, gerade in diesen Zeiten, immer wieder bewahrheitet:

Leben lässt sich in drei Worten beschreiben:

Es geht weiter.