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Von Tapeten und Bällen

Still sein. Still wie ein Mäuschen. Oder besser doch nicht wie ein Mäuschen, denn Mäuse sind in Wohnungen nicht erwünscht. Lieber wie… die Tapete an der Wand, ja, genau! Die Tapete guckt man an und nimmt sie gar nicht mehr wahr, so speckig und alt wie sie schon ist. Die Wand kann zwar auch gehauen werden, oder getreten. Manche schreien auch die Wand an, aber die Tapete ist damit nicht gemeint, die nimmt niemand wahr.

Nele beschließt, dass sie ab sofort eine Tapete ist. Still und unbewegt hockt sie auf ihrem Bett und versucht, mit dem vergilbten Weiß hinter sich zu verschmelzen. Vielleicht würde sie dann nicht hören, wie Kai vor Schmerz brüllt. Vielleicht würde sie dann nicht das Keifen ihrer Mutter hören: „Harald, hör endlich auf damit!“ Vielleicht würde sie dann nicht das Aufjaulen hören, wenn Harald, der Freund ihrer Mutter, dieser „eine langt“, wie er das ausdrückt. Und vielleicht würde er sie dann übersehen, wenn er, weil er ja schon mal dabei ist, ein Exempel zu statuieren, in Neles Zimmer gestapft kommt, um auch ihr eine Tracht Prügel zu verabreichen.

Alles nur, weil Kai kein Toilettenpapier mehr bekommen hat. Und weil sie die letzte Rolle eingelegt und vergessen hatte, Bescheid zu geben. Und weil Harald eben… Harald ist.

Es war schon früher schlimm gewesen, erinnert sie sich. Seit Mama ihn kennenlernte und er bei ihnen einzog. Seither kann Nele keine Freundinnen mit nach Hause nehmen, welche besuchen oder mit ihnen telefonieren. Mittlerweile hat sie gar keine Freunde mehr.

Viel zu klein, zu dünn, ständig müde, weil sie wegen der ganzen Streitereien nachts nicht schlafen kann. Selten ist genug Geld für Essen da, für neue Kleidung eh nicht. Sie muss die abgetragenen Sachen von Kai tragen. Jungenklamotten. Und Kai „darf“ bei der Kleiderkammer vorsprechen, da bezahlt man nur ein, zwei Euro für einen Pulli oder eine Hose, wenn man nachweisen kann, dass man bedürftig ist. Die Sachen von Kai sind ihr zwar immer viel zu groß, aber das ist für Nele eher ein Grund zur Erleichterung, denn so sieht niemand die blauen Flecken, die sie manchmal davonträgt.

Schule, das bedeutet für Nele: Pause von Harald, Pause vor Mama, die Sicherheit, nur ausgelacht, aber nicht gehauen zu werden – und eine warme Mahlzeit. „Schulspeisung“ nennt man das. Für Nele und Kai gibt es das kostenlos, weil ihre Mutter Harzerin ist.  

In der Schule ist Nele eine Außenseiterin, eine von den Losern, aber das ist immer noch besser als das hier.

Seit der Ausgangssperre hocken nun vier Personen in einer Vierzimmerwohnung. Das Wohnzimmer belegt „er“ immer mit Beschlag. Hockt da herum, sieht fern und kommandiert von „seinem“ Sessel aus alle herum.  Verlangt „Fleisch auf dem Teller“, auch wenn dadurch alle anderen nur Nudeln und Sauce bekommen. Salat und Gemüse gibt es nur, wenn bei der Tafel nicht zu viele Leute anstehen.

Aber die Tafeln haben jetzt zu, genauso wie die Schule und Klopapier gibt es eben auch nicht mehr.

Dafür aber Prügel, und das nicht zu knapp.

Sie hört die Schritte, die durch den Flur auf ihr Zimmer zukommen und will sich zusammenrollen. Aber dann ist sie keine Tapete mehr, sondern ein Ball, den man treten darf. Der dann im hohen Bogen davonfliegt. In ihrem Fall nur nicht sehr weit und auch nicht ins Tor, nein. Wenn sie, der Nele-Ball, getreten wird, fliegt sie gegen den Tisch. Oder den Schrank. Oder gegen die Wand, wo sie dann Flecken hinterlässt. So wie „er“ auf ihr Flecken hinterlässt.

Also, nein. Nicht zusammenrollen. Verschmelzen, mit der Tapete. Und hoffen, dass sie davonfliegt, bevor er den Ball treten kann.

„Für manche Kinder ist Schule der einzige sichere Ort“

Susanna Krüger, Geschäftsführerin der Organisation „Save the Children“